Wenn die Angst vor Haaren das Leben bestimmt, fällt oft der Ausdruck „Chaetophobie“. Unser Reporter hat sich auf die Spuren solcher Phobiker begeben: Seine Selbstfindung führte von der britischen Boulevardpresse bis zu den finsteren Abgründen der Tübinger Gastronomie.
Finden Sie Haare nicht auch ein bisschen eklig? Nach meiner Erfahrung im Abfluss-Reinigen müsste beispielsweise meine WG längst aus Glatzköpfen bestehen. Noch unerfreulicher finde ich Haare, die mich morgens fröhlich im Waschbecken begrüßen. Und selbst in diesem Blog habe ich das Haar in der Suppe gefunden: Ich las von Sonderlingen, die sich aus ihren Schmalzlocken Armbänder und Unterwäsche stricken. Und lernte, dass manche Trichotillomanie-Erkrankte ihre Haare essen. Ich wollte tiefer in diese Schattenwelt eintauchen.
Genau diesen Abgrund entdecke ich auf der Homepage des Radiosenders BigFM: eine Rangliste mit dem nüchternen Titel „Diese 13 verrückten Phobien gibt es wirklich!“. Und dort rangiert an immerhin fünfter Stelle die Angst vor Haaren. Betroffene sollen auf den klangvollen Namen Chaetophobiker hören. Alles sehr sympathisch und nachvollziehbar! Mein Ziel ist es, einen Betroffenen zu interviewen und verständnisvoll mit dem Kopf zu nicken. Denn wer könnte meinen Ekel schöner erklären als ein diagnostizierter Phobiker?
Eine Welt voller Ängste
Deshalb beginnt meine Recherche mit einem Blick in die Psychologie. Eine gute Portion Angst erwies sich in der Evolution nämlich als überlebensnotwendig. Heute können übersteigerte Angstformen das Leben dagegen negativ beeinträchtigen. In Homers Epos Ilias bekamen das bereits die Belagerer Trojas zu spüren. Der Kriegsgott Ares hatten einen treuen Begleiter: „Ihm der Schrecken (Phobos), sein Sohn, nachfolgt, welcher verscheucht auch den kühn ausharrenden Krieger.“ War Achilles vielleicht sogar das erste prominente Opfer der Chaetophobie?
Die Psychologie unterscheidet (1) Tierphobien, (2) Sozialphobien, (3) Agoraphobien (Platzangst) sowie (4) Spezifische Phobien, in denen sich Chaetophobiker finden sollten. Wer tatsächlich an einer Spezifischen Phobie leidet, muss nach den internationalen Standards (ICD 300.29) eine Hauptbedingung erfüllen. Ein bestimmter „phobischer Stimulus“ führt zu intensiven und anhaltenden Angstsymptomen. Schade eigentlich, dass meine Angst noch in den Kinderschuhen steckt. Es wäre zu schön, als Phobiker aus dem WG-Putzplan gestrichen zu werden.
Die unglaubliche Homestory
Wie könnte aber jemand eine krankhafte Furcht vor Haaren entwickeln? Einem evolutionären Überbleibsel, mit dem jeder leben muss – wenn man nicht Bruce Willis heißt? Die moderne Psychologie erklärt Phobien anhand der Konditionierung. Chaetophobiker müssten ein traumatisches Erlebnis erlitten haben, bei dem Haare eine Rolle spielten: vielleicht also ein unfreundlicher Metaller in Wacken. Zugegeben, ein mieses Beispiel: Aber fällt Ihnen etwas Schlüssigeres ein?
Schnell merke ich, dass sich kein Fachbuch mit diesem Rätsel beschäftigt. Meine ersten Zweifel werden von der britischen Boulevardzeitung Daily Mail mit einer Homestory über eine walisische Chaetophobikerin weggewischt: Die Teenagerin konnte ihre Haare nicht mehr berühren. Bemerkte sie fremde Haare, brach sie weinend zusammen. Und fasste jemand ihre Haare an, kämpfte sie gegen Übelkeit. Nur die Mutter durfte zweimal im Jahr ihre Mähne kürzen. Fasziniert klicke ich mich durch die große Bildergalerie
Chaetophobie als Verschwörung?
Erst erschreckend spät sträuben sich mir alle Haare: Wieso hat sie eigentlich nie einen Psychotherapeuten aufgesucht? Warum rasiert sich die Chaetophobikerin nicht einfach ihre eigenen Haare ab? Oder leidet sie gleichzeitig an einer Phobie vor dem Friseur? Auch dafür soll es mit der Tonsurephobie einen „Fachbegriff“ geben. Leider scheitert mein Kontakt-Versuch. Dass sich gerade die Daily Mail als Anwältin der Chaetophobie aufspielt, macht die Sache nicht besser: eine Boulevardzeitung, die selbst der Wikipedia-Community als unseriöse Quelle gilt.
Chaetophobiker bleiben für mich wundersame Wesen. Sind sie nur eine Erfindung von Redakteuren, um sinnlose Ranglisten zu füllen? Oder ein Geheimbund? Ebenso stutzig macht das Schweigen im Netz. Selbst in Online-Foren scheinen Chaetophobiker ausgestorben. Exemplarisch dafür ist dieser traurige Versuch des Nutzers „Singuine“, eine Kommunikation mit Leidensgenossen zu starten: „I am interested in hearing how others deal with it.“ Tja, vielleicht hättest du mehr als zwei Sätze schreiben sollen, „Singuine“! Immerhin bleibt ihm der Spott auf Twitter erspart.
Haare können furchtbar sein
Dann schickt mir Ares aber meinen persönlichen Phobos. In einer Tübinger Schnell-Gastronomie bestelle ich ein Fladenbrot-Gericht. Als ich den letzten Bissen in der Hand halte, fällt mein Blick auf eine Tomate. Auf ihr lacht mich ein schwarzes Haar an. Ein Moment der phobischen Erleuchtung: Intensiv und anhaltend! Wie viele unverdauliche Haare werden wir in unserem Leben verspeisen? Und wie kann ein angehender Phobiker so etwas verhindern? Fragen, über die bestimmt auch unsere Waliserin nachgrübelt. Mein bedenkliches Fazit: So irrational sind ihre Ängste nicht.
Es könnten sich also wirklich Haar-Phobien entwickeln. Vermutlich stehe ich selbst haarscharf davor. Als „Chaetophobiker“ sollten Sie sich aber bitte nicht beim Arzt vorstellen. Nur weil jemand wild griechische Vokabeln kombiniert, ergibt das noch kein Syndrom. Denn klinisch lassen sich keine Unterschiede feststellen: ob Haar- oder Spinnenphobie. Bei allen handelt es sich korrekt um Spezifische Phobien, die durch Konfrontation gut behandelbar sind. Unheilbar scheint nur der Glauben vieler Medien, dass solche Listen mit Fantasie-Namen unterhaltsam wären. Oder halten Sie es immer noch für „kurios“, „abgefahren“ oder „verrückt“, Angst vor Haaren zu haben?
Psychologische Literatur:
American Psychiatric Association (2005). Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (4. Aufl.). Washington D.C.: American Psychiatric Association.
Berger, M. (2012). Psychische Erkrankungen. Klinik und Therapie (4. Aufl.). München: Urban & Fischer, S. 520f.
Hamm, A. (2006). Spezifische Phobien. Göttingen: Hogrefe.
Sartory, G. (Hrsg.) (2008). Klinische Psychologie (6. Aufl.). Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag, S. 121-130.
Sehr unterhaltsamer Artikel! Ich finde es angenehm, dass du dich einem eigentlich ernsten Thema so unbeschwert näherst ohne dabei Vorurteile aufzunehmen und trotzdem mit Humor.
Danke für das Feedback 🙂 Letztendlich sind ja alle Phobien irrational und somit könnte Humor ein erster Schritt sein, das zu erkennen. Hier ein Artikel dazu:
http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/humor-in-der-psychotherapie-so-wirken-witze-bei-depressionen-und-co-a-954213.html
Ich hatte sehr viel Freude dabei, diesen Beitrag zu lesen! Mir gefällt sehr gut, dass du dich sowohl interessiert als auch unterhaltend mit dem Thema befasst. Freue mich schon darauf, deine anderen Beiträge zu lesen!
Ich finde es auch sehr erfrischend, dass du aus deiner persönlichen Perspektive schreibst. Der Artikel ist wirklich gut lesbar und trotz der humorvollen Art kommen die Fakten nicht zu kurz.
Eine sehr hübsche Glosse mit überraschendem Ende, die exemplarisch aufzeigt, wie man eine eigentlich gescheiterte Recherche (kein Interviewpartner verfügbar) doch noch verwerten kann. Hut ab!
Cooler Artikel und wirklich unterhaltsam und amüsant zu lesen 🙂 Da ich selbst ziemlich „empfindlich“ auf herumliegende Haare reagiere, ist das Thema für mich persönlich sehr interessant, ganz egal ob es Chaetophobiker nun gibt oder auch nicht.
Sehr sympathischer, bildhafter Schreibstil. Musste selbst ein paar mal schmunzeln. Insbesondere bei Bruce Willis seinem verschmitzten Grinsen. 🙂