Sagenumwoben, gefürchtet und von einer unbändigen Faszination umgeben: Der Berg der Berge, der Mount Everest. Unsere Redakteurin erzählt von eigenen Erfahrungen am Fuße des höchsten Berges der Welt, welche Wirkung die Kultur auf Tourist*innen ausübt und warum der höchste Berg der Erde zugleich heilig und unheimlich ist.

Die Feengöttin Jomo Miyo Lang Sangma lebt auf dem Mount Everest. (Quelle: http://www.flars.net/centromaria/nepal.htm)

Wenn etwas das Schönste, das Schlimmste oder in diesem Fall das Höchste ist, wird darum herum ein Gespinst aus Sagen und Geschichten gesponnen, das den materiellen Wert noch einmal steigert. So ist das auch mit dem höchsten Berg der Erde, dem Mount Everest. Sagarmatha in der Sprache der Nepali (= Himmelskönig), Qomolangma in der Sprache der Tibeter (= Göttin-Mutter der Erde). Schon bevor der Nepalese Tensing Norgay und der Brite Edmund Hillary am 29. Mai 1953 als erste Menschen den Gipfel erreichten, war der Berg in Nepal und Tibet in aller Munde. In der buddhistischen Kultur der Sherpas bewohnen Geister und Dämonen die Gipfel der Berge. Demnach wohnt auf dem Mount Everest Jomo Miyo Lang Sangma, eine der fünf „Schwestern des langen Lebens“, die auf den fünf höchsten Gipfeln des Himalaya wohnen. Jomo Miyo Lang Sangma bringt den Menschen Nahrungsmittel. Sie ist die drittjüngste von fünf Feengöttinnen. Einer Sage nach lieferten sich um 1300 Padmasambhava (der Mann, der den Buddhismus nach Nepal brachte) und der Lama der Bön-Religion (im 8. Jahrhundert die vorherrschende Religion in Tibet) ein Wettrennen hinauf zu der Feengöttin auf den Berg. Der Lama wurde von seiner magischen Trommel getragen und Padmasambhava von einem Lichtstrahl. Der Lichtstrahl war schneller. Der Lama ließ deshalb enttäuscht seine Trommel am Gipfel zurück.

„Noch heute sagen die Sherpas, dass Geister die Trommel schlagen würden, wenn eine Lawine den Berg hinunterdonnert.“ – Basler Zeitung

Die Menschen in den Bergdörfern des Himalayas sind besonders gläubig, denn ihr Leben hängt von der Gnade der Berggötter ab. Das Wetter wechselt in Sekundenschnelle, Lawinen gehen ab, Erdbeben zerstören ganze Landstriche.

Ein Erfahrungsbericht aus dem Sagarmatha Nationalpark

Im Hintergrund blitzt eine winzige Spitze des Mount Everests hinter der Bergkette auf. (Quelle: L. Haas)

Als ich 2015 zum ersten Mal eine winzige Spitze des höchsten Berges der Welt erblickte, fühlte es sich an, als würde dieser runde Planet aufhören sich zu drehen. Ein winziges Stück Berg hinter dem Lhotse und dem Nuptse, den beiden Bergen, die den Berg der Berge umgeben. Eine weiße Rauchfahne scheint von der Spitze aufzusteigen. „Der Berg raucht“, erklärt mir Sune Tamang, unser Bergführer mit seinem gewohnt verschmitzten Lächeln. Von etwa 4.000 Metern Höhe kann ich nur erahnen, wie stark der Wind dort oben auf 8.848 Metern pustet und diese weiße Fahne auslöst. Einige Tage später, vom Gipfel des Aussichtsberges Kala Patthar aus blicke ich von läppischen 5.555 Metern hinauf zum noch immer unerreichbaren Dach der Welt. Ich kämpfe mit der Anstrengung des Aufstiegs. Alle paar Schritte muss ich anhalten und wegen des kaum vorhandenen Sauerstoffs schon auf dieser Höhe wie ein Walross schnaufen. Keine halbe Stunde bleiben wir dort, schon geht es wieder hinunter ins Dorf auf 5.100 Meter, um die Höhenkrankheit zu vermeiden. Ich frage mich, wie könnte ich jemals auf den Mount Everest steigen, wenn mir hier schon die Puste ausgeht?

Kommerz auf dem Dach der Welt

Viele andere Bergsteiger*innen stellen sich diese Frage nicht. Der Berg übt eine Faszination aus, die ihresgleichen sucht. Einmal am höchsten Punkt der Erde sein, dem Himmel so nah wie nie zuvor. Das ist der Wunsch hunderter Bergsteiger*innen, die jedes Jahr nach Nepal oder Tibet kommen und den Aufstieg wagen wollen. Und manche von ihnen kehren nie wieder heim. Denn der höchste Berg der Welt fordert Opfer. Über 200 Menschen sind bereits oben am Berg gestorben. Viele haben nicht die Kondition oder die technische Erfahrung, die ein solcher Aufstieg erfordert. Sie haben aber das Geld und kaufen sich ihren Weg auf den Berg. Über 60.000 Dollar kostet es, auf den Mount Everest zu steigen. Für das Permit (die Aufstiegsbescheinigung) verlangen die Nepali so viel Geld, weil ihnen der Berg heilig ist. Am liebsten sollte niemand hinaufsteigen, doch so ist er immerhin eine gute Einnahmequelle. Wer den Aufstieg oder den Weg hinunter nicht überlebt, bleibt wohl für immer dort oben. Eine Bergung ist zu riskant – und so ist der Weg nach oben von Leichen gesäumt. Auch diese Geister leben vermutlich am Berg weiter und sind Teil seiner Geschichte.

Auf dem Mount Everest Basecamp-Trek: schon aus der Ferne sieht man die Spitze hervorblicken. (Quelle: L. Haas)

Der Traum eines jeden Bergsteigers

Als Bergtourist in Nepal bekommt man einiges von der Kultur mit, die durch ein friedliches Zusammenleben von Buddhismus und Hinduismus geprägt ist. Beim Aufbruch zum Bergaufstieg wird Reis ins Feuer geworfen und die Bergsteiger mit dem buddhistischen Mantra „Om mani padme hum“ verabschiedet. Mit diesem Mantra in Sanskrit wird Mitgefühl ausgedrückt. Trotzdem blieb auch für mich diese umfangreich gelebte Kultur ein bisschen hinter dem Massentourismus zurück. Als wir im Basislager des Mount Everest ankamen, wurde für mich ein Traum wahr. Einmal dort zu sein, wo die großen Bergsteiger gestartet sind. Der Berg ist einerseits so nah und doch so fern, denn von hier sind es noch immer über 3.000 Meter Aufstieg bis zum Gipfel. Dort oben warten Gefahren wie Wetterumschwünge, Sauerstoffmangel und die eigene körperliche und geistige Belastungsgrenze. In der Todeszone über 7.000 Meter darf man sich nicht lange aufhalten, denn dort beginnt man irgendwann zu halluzinieren, wenn die Höhenkrankheit eintritt. Es ist ein magischer Ort für die Einheimischen, aber auch für jeden Bergsteiger. Die buddhistischen und menschlichen Geister auf dem höchsten Berg der Welt machen ihn zu dem, was er ist: ein faszinierendes, schicksalhaftes Mysterium.

Berge sind nicht nur in Nepal Herberge für Geister. Lesen Sie hier, welche besondere Bedeutung der Ayers Rock in Australien für die Einheimischen hat.

Hier geht es zu einem Artikel über von Geistern bewohnte Vulkane und Berge zum Beispiel in Indonesien, Madagaskar und auch Deutschland.

In Madagaskar ist der Ahnenglaube weit verbreitet und zieht sich durch alle Lebensbereiche der Menschen. Welche Bedeutung Ahnengeister für die Menschen haben, wie eine Totenfeier abläuft und warum es sogar gut ist, Schulden für die Ahnenfeste zu machen, erklärt die Tübinger Ethnologin PD Dr. Sabine Klocke-Daffa, die seit den 90er Jahren zum Südlichen Afrika und seit 2014 zu Madagaskar forscht.

In Madagaskar gibt es achtzehn ethnische Gruppen. Ist der Glaube an Ahnengeister innerhalb dieser Gruppen weit verbreitet?

Dr. Sabine Klocke-Daffa forscht seit 2014 zu Madagaskar. Foto: Dr. Sabine Klocke-Daffa

Ja, er ist insofern weit verbreitet, als dass die meisten Madagassen indonesischen Ursprungs sind, wobei die genaue Herkunft nicht bekannt ist. Wahrscheinlich sind die Menschen aus dem heutigen Malaysia in mehreren Wellen eingewandert. Wobei die Einwanderungszeitpunkte umstritten und historisch nicht ganz geklärt sind. Es gibt aber auch Einflüsse aus verschiedenen Teilen Afrikas und aus dem arabischen Raum, sodass das eine einzigartige Mischung der Bevölkerung ist. Diese indonesische Herkunft zeigt sich in der Sprache und insbesondere in der sozialen Organisation sowie in kosmologischen Vorstellungen in der Erinnerung der Ahnen. Denn in Indonesien ist der Glaube an Ahnen ebenfalls verbreitet.

Haben die Ahnen einen großen Einfluss auf das Leben der Madagassen?

Die Ahnen beziehungsweise die Toten sind immer auch Teil des Lebens der Lebenden. Das heißt für die Madagassen, dass sie tatsächlich ihre Lebensweise und ihre Verhaltensweise so organisieren, dass die Toten darin immer irgendwie vorkommen, bei all ihren Plänen. Auch für die Zukunft haben sie eine Bedeutung.

Wie kann man sich das vorstellen?

Man erinnert sich nicht nur an die Ahnen, sondern man macht Feste für sie, um Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Sie kommen also zu bestimmten Zeiten im Jahr sozusagen zu Besuch. Man muss jedoch ihre Regeln befolgen, zum Beispiel, wie man sich wem gegenüber zu verhalten hat, wann man Feste feiert, wie sie ausgerichtet sind und welche Rolle die Toten dabei spielen. Denn die Madagassen teilen die Vorstellung: ‘Ich habe nur Glück, wenn ich mich nach den Regeln der Ahnen verhalte.‘ Somit sind die Ahnen aktiv im Leben der heutigen Lebenden tätig, was bedeutet, dass es natürlich große Auswirkungen auf das Verhalten und auf den Alltag der Menschen gibt. Wenn man die Madagassen fragt, worauf diese Regeln beruhen, sagen sie: ‚Die sind von den Ahnen geschaffen.‘

Und wenn man sich nicht an die Regeln hält?

Wenn man dagegen verstößt, was natürlich viele Leute machen, dann wurde ein Verbot, ein sogenanntes fady, überschritten. Das wird auch bestraft. Die Ahnen sind nicht nur wohlwollend und bringen Glück, sondern sie können auch strafen. Das heißt, die Menschen erklären sich vieles, was sie sich sonst nicht erklären können oder was an negativen Dingen im Leben passiert, mit dem direkten Eingreifen der Ahnen.

Was wäre ein konkretes Beispiel für das Überschreiten eines fadys?

Man darf beispielsweise kein Land verkaufen, weil es das Land der Ahnen, der Vorfahren ist. Das bringt Unglück. Es gibt aber immer wieder Menschen, die es trotzdem an Fremde verkaufen oder verpachten, weil es finanziell zu verlockend erscheint. Das hat dann negative soziale Konsequenzen und führt dazu, dass sie schlecht angesehen werden.

Was für Rituale gibt es, bei denen die Ahnen eine große Rolle spielen?

Sicherlich spielen sie in allen Lebenszyklusritualen eine Rolle, wie bei der Geburt oder bei Hochzeiten, aber insbesondere bei Totenfeiern. Es gibt einige Feste, die hauptsächlich für die Toten durchgeführt werden. Ganz berühmt ist die famadihana, eine Totenfeier bei der die Gräber – das sind so eine Art Mausoleen – geöffnet und die Toten herausgeholt werden.

Totenhäuser auf Grabstätten. Foto: Dr. Sabine Klocke-Daffa

Wie läuft so eine famadihana ab?

Nachdem erste Reden gehalten und Rinder geschlachtet werden, öffnet man das Grab, um die Knochen der Toten zu säubern und sie in neue Seidentücher einzuwickeln. Sie werden dann in die Menge herausgetragen und herumgereicht, es wird musiziert, getanzt und gesungen und alle sehen: Diese Person ist jetzt da. Die engen Familienmitglieder nehmen den Toten auf den Schoß und erzählen ihm, was passiert ist, seitdem er nicht mehr lebt und stellen ihm die neuen Familienmitglieder, die Kinder, vor. Die Seelen sind zwar ganz weit weg, aber sie können wiederkommen, solange noch etwas vom Menschen übrig ist. Nach der Zeremonie wird der Tote wieder in die Grabstätte gebracht und die Bastmatten, in denen er eingewickelt war, werden anschließend von den Frauen mit nach Hause genommen. Diese Matte ist symbolisch zu verstehen. Es ist für die Frauen so, als ob sie die Aura oder ein bisschen vom Geist des Toten mitnehmen. Davon versprechen sie sich Fruchtbarkeit und Glück.

Was für Erklärungen gibt es noch für die Ausrichtung einer famadihana, außer, dass eine Verbindung zu den Ahnen hergestellt wird und den Menschen Glück bringen soll?

Um die soziale Gemeinschaft zu reproduzieren, weil alle von Nah und Fern kommen müssen, um die Familie wieder zusammenzubringen. Das ist eine Verpflichtung der eigenen Familie und den Ahnen gegenüber. Das hat auch finanzielle Konsequenzen, alle müssen beitragen und in diesem Fall stehen die Ahnen sozusagen dahinter.

Dieser Verpflichtung Geld für die famadihana zu erwirtschaften, geht vor allem die ethnische Gruppe der Zafimaniry nach.

Das stimmt. Aber nicht nur für die famadihana. Man kann auch andere Feste für die Ahnen feiern. Insbesondere, wenn etwas passiert ist, macht man ein Fest für sie. Beispielsweise, wenn ein Haus abgebrannt ist oder jemand einen Unfall hatte. Dann laden die Menschen die Ahnen ein, holen sich Rat bei ihnen und hoffen auf mehr Glück. Für so ein Fest braucht man allerdings viel Geld. Die Zafimaniry sind berühmt für ihre Holzschnitzereien. Aber außer in der Holzverarbeitung, gibt es für sie kaum Arbeitsplätze. Das heißt, sie müssen irgendwo anders arbeiten oder Schulden aufnehmen, um das finanzieren zu können. Schulden sind aber nicht grundsätzlich etwas Negatives. Nicht, wenn sie für solche Anlässe verwendet werden.

Bei wem verschulden sich die Zafimaniry?

In den Dörfern sind die meisten gegenseitig verschuldet, bei den Nachbarn, den Freunden, dem Arbeitgeber. Das stärkt unheimlich den sozialen Zusammenhalt. Schulden sind die Basis der sozialen Organisation. Wenn Sie es ganz eindampfen würden: Schulden bringen Glück. Sie investieren nicht in ökonomisches, sondern in sozio-kosmologisches und in soziales Kapital, in soziale Beziehungen zu den Lebenden und den Toten. Sie glauben daran, dass sie viel davon haben, dass sie den Segen der Ahnen, Glück, Wohlstand, Sicherheit, Kontinuität der Familien und Kinder bekommen. Mit einem Business können sie pleitegehen, aber soziales Kapital ist unbezahlbar.

Vielen Dank für dieses Gespräch Frau Klocke-Daffa.

 

Für Leser, die sich über den Beitrag hinaus mit dem Ahnenkult auf Madagaskar beschäftigen möchten, empfehle ich folgende Literatur:

Bittner, Alfred, 1992: Madagaskar. Mensch und Natur im Konflikt. Basel [u.a.]: Birkhäuser.

Bloch, Maurice. 1971: Placing the dead: tombs, ancestral villages, and kinship organization in Madagascar, Seminar studies in anthropology. London: Seminar.

Graeber, David. 1995: Dancing with Corpses Reconsidered: An Interpretation of „famadihana“ (In Arivonimamo, Madagascar). American Ethnologist 22 (2):258-278.

Sharp, Lesley A. 1996: The Possessed and the Dispossessed. Spirits, Identity and Power in a Madagascar Migrant Town. Berkeley: University of California Press.

Das Geisterfest in China, ein Fest für den Tod wie der Día de los Muertos in Mexiko, fällt auf den 15. Tag des 7. Monats nach dem chinesischen Mondkalender. Ursprünglich zählte es zu den wichtigsten traditionellen Festen, aber allmählich verliert es seine Bedeutung für die moderne Gesellschaft. Nur noch einige Bürger*innen, Bauern und Bäuerinnen in einigen Regionen sowie manche Überseechines*innen feiern heutzutage noch diesen Vollmondtag. Warum interessieren sich die meisten Chines*innen nicht mehr für das Geisterfest?

Der Geistermonat

Das Geisterfest war ursprünglich ein Opferfest. Diese Tradition lässt sich auf die Qin-Dynastie (221-207 v. Chr.) zurückführen. Die antiken Chines*innen legten viel Wert auf die Opfergabe im Frühling und Herbst. Der Frühling symbolisiert den Anfang des Lebens, während der Herbst den Untergang markiert. Im Herbst hielten der Kaiser und die Fürsten eine Reihe von Zeremonien ab, darunter auch die Opfergabe für Baidi (白帝), den Gott des Todes. Es wurden Speisen und Räucherwerke für den Gott und die Vorfahren aufgestellt und Bankette gegeben. Solche höfischen Veranstaltungen beeinflussten das Bürgertum. Nach und nach wurde der siebte Monat (nach dem chinesischen Mondkalender, ungefähr Ende August nach dem heutigen Kalender) zum Geistermonat. Nach dem Volksglauben wird die Tür der Unterwelt am ersten Tag geöffnet und am 15. Tag wieder geschlossen.

Das Licht auf der Straße soll den Weg für die Toten gen Heimat weisen. Diese Tradition passt nicht mehr zum modernen Stadtleben.

Im Geistermonat kommen die Gespenster nach langer Wartezeit auf die Erde. Traditionell werden auf der Straße Kerzenlichter angezündet und Schuhe aufgestellt, damit die Toten bequem gehen können. Ansonsten verursachen die unzufriedenen Geister unerträgliche Katastrophen, die den Lebenden drohen. Man lässt auch Papierboote und Laternen auf dem Wasser schwimmen. Einerseits weist das Licht den Toten den Weg in ihre Heimat, wo ihre Familien Speisen aufstellen und Höllengeld verbrennen, um ihre Müdigkeit zu vertreiben und ihr Leben in der Unterwelt zu verbessern. Anderseits hoffen die Menschen, dass die Geister voller Groll (weil sie lange Zeit in der Dunkelheit des Jenseits verbracht haben) so schnell wie möglich ihre Zielorte erreichen. Das Geisterfest, das am 15. Tag des Monat gefeiert wird, ist der Höhepunkt – ist es für die Toten doch ihr letzter Tag auf der Erde.

Zwei religiöse Ursprünge

Die Daoisten lesen  heilige Schriften, bringen Opfergaben dar und schreiben Gebete auf Papier.

Das Geisterfest hat zwei religiöse Ursprünge. Für die Daoisten heißt das Fest eigentlich Zhongyanjie (chinesisch 中元节). Die Buddhisten feiern an diesem Tag das Ullamabna-Fest (chinesisch 盂兰盆节). Interessanterweise entwickeln sich die beiden Religionen fast reibungslos in China, wahrscheinlich wegen der Offenheit der chinesischen Kultur. Seit der Song-Dynastie (960–1279) ist zu beobachten, dass Daoismus und Buddhismus gemeinsam mit Konfuzianismus drei unverzichtbare Grundlagen für die chinesische Kultur bilden. Seither können die Anhänger*innen der beiden Religionen das Fest harmonisch gemeinsam feiern.

Nach dem Daoismus entsteht die Welt aus drei Elementen: Himmel, Erde und Wasser. Für die drei gibt es jeweils einen daoistischen Gott. Der Gott des Himmels, geboren an dem 15. Tag des ersten Monats nach dem Mondkalender, erteilt den Segen. Der Gott der Erde, geboren am 15. Juli, verzeiht die Sünde. Und der Gott des Wassers, geboren am 15. Oktober, hilft in der Not. Jeder Gott kommt an seinem jeweiligen Geburtstag zur Erde, um seinen Dienst zu leisten. Es ist also der Gott der Erde, der am 15. Tag des Geistermonats auf die Erde kommt und die verlorenen Seelen rettet. Diese sind Tote, die während ihrer Lebenszeit etwas verbrochen haben. Die Daoisten stellen an diesem Tag einen Altar auf, lesen bestimmte heilige Schriften und verbrennen Räucherwerke, damit sie den Unsterblichen (Gott) empfangen können und beim Sühnen der Sünden der toten Geister helfen.

Mulian sieht das Leid seiner Mutter und wendet sich an Buddha.

Die Geschichte von Mulian

Genau an diesem Tag feiern die Buddhisten das Ullambana-Fest (盂兰盆节). Auf Sanskrit bedeutet Ullam „auf dem Kopf gestellt“. Dieser Stand verkörpert Leiden. Bana ist ein bestimmter Behälter für Opfergaben. Im Ullambana-Sutra wird die Geschichte von Mulian (目连) erzählt, einem heiligen Anhänger Buddhas. Eines Tages träumte er, dass seine bereits verstorbene Mutter in der Unterwelt unter Hunger litt und schlank wie eine Skelett wurde. Er stellte als ihr Nachkomme Speisen vor dem Altar auf, aber sie konnte sie nicht genießen.

So bat er Buddha, das Leid seiner Mutter zu vermindern. Buddha antwortete, dass seine Mutter zu Egui (饿鬼, ein bestimmter Geist, der unter ewigem Hunger leidet) geworden sei, weil sie zu Lebenszeiten geizig und nicht wohltätig war. Um sie zu retten, musste Mulian am 15. Tag des 7. Monats Speisen und Getränken für Buddhisten aus aller Welt anbieten. Als alle dann für sie beteten, konnte sie sich von diesen Leiden befreien. Aus der Geschichte ist ein Fest geworden, bei dem man Opfer gibt, Schriften liest und zusammen für Vater und Mutter der jetzigen und der sieben früheren Generationen betet.

Ein Fest in der Vergangenheit?

Eine Familie auf dem Dorf stellt Speisen auf den Tisch und wartet auf die Geister der Vorfahren.

Beim Geisterfest kommen Volksglaube, daoistische und buddhistische Traditionen zusammen. Die Grundideen bildet das Erinnern an die Vorfahren, das Leisten der Sühne und das Verehren der Toten. In den modernen chinesischen Städten gerät das Geisterfest zunehmend in Vergessenheit.

Zunächst ist es kein staatlicher Feiertag, obwohl es eine lange Geschichte und vielfältige Ursprünge hat. Das führt dazu, dass die jüngeren Generationen kaum Kenntnis davon haben. Zweitens wird es nicht mehr gemeinsam gefeiert. Buddhisten und Daoisten feiern das Fest im kleinen Kreis, jeweils getrennt voneinander. In einigen Regionen, besonders auf dem Land, werden noch Papierboote und Laternen aufs Wasser geschickt und Speisen auf den Tisch gestellt, aber das wird in einer Gesellschaft, die Atheismus als Leitkultur markiert, eher als Aberglauben angesehen. Nicht zuletzt fehlt dem Fest für die meisten Leute ein gemeinsames Symbol oder Thema, wie Jack O’Lantern bei Halloween oder La Catrina beim Día de los Muertos. Ist das Geisterfest also selbst ein Gespenst in der modernen Welt?

 

Japan – ein Land zwischen Tradition und Fortschritt. Das gilt auch für seine Geistergeschichten. Was gibt es für Geisterarten in Japan? Und warum bieten sie einem Klopapier an?

Die japanische Kultur kennt unzählige Arten von Gespenstern. Zwischen göttlichen Naturgeistern und rachsüchtigen Totenseelen ist so ziemlich alles dabei. Denn Geister nehmen in Japan einen ganz anderen Stellenwert ein als in der westlichen Welt. Das kann auch die Tübinger Japanologin Petra Jeisel bestätigen. Während ihrer Studienzeit im Land der aufgehenden Sonne hat sie das selbst erlebt: „Als ich mit einem Einheimischen einen Friedhof besucht habe, wollte ich ein Foto machen. Er schien doch einigermaßem erstaunt und meinte, er hätte dabei ein schlechtes Gefühl – wegen der Geister.“

Japanische Geisterwesen – Eine lange Tradition

Vor allem die spirituellen Wurzeln Japans (Shintō und Zen-Buddhismus) und die dortige Wertschätzung von Traditionen sind verantwortlich für diese Ehrfurcht vor den Geistern. Denn die heutigen Vorstellungen von „bakemono“ (Oberbegriff für gespenstische und übernatürliche Wesen im japanischen Volksglauben) sind von den letzten Jahrhunderten mythologischer Überlieferungen geprägt. Die „bakemono“ lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: „Yōkai“ und „Yūrei“ …

Wer braucht schon Poltergeister?

Notice me senpai! (Bild: Marcel L.)

„Yōkai“ lassen sich wohl am ehesten mit westlichen Fabelwesen vergleichen. So gelten beispielsweise Tanuki (Marderhunde) als Yōkai, die ihre Gestalt wandeln können und mit listigen Plänen durchaus auch mal in menschlicher Gestalt durch die Welt ziehen. Neben „Oni“ (Dämonen) und „Tengu“ (Berggeister und Meister der Waffenkunst mit einem Schnabel) zählen zu den Yōkai auch sogenannte „Tsukumogami“. Dabei handelt es sich um Alltagsgegenstände, die nach hundert Jahren der Vernachlässigung plötzlich zum Leben erwachen.

Wenn also in einem japanischen Haushalt plötzlich Teller durch die Gegend fliegen, ist das nicht unbedingt das Werk eines Poltergeistes, sondern einfach ein Schrei nach Aufmerksamkeit von beseeltem Porzellan.

Totgesagte „leben“ länger

Ein Onyrō nimmt Rache an einem Mönch; aus Wakan ehon sakigake 和漢絵本魁, 1836 (Bild: The British Museum.

„Yūrei“ oder auch „Bōrei“ kommen der westlichen Vorstellung eines Gespenstes näher. Es handelt sich hierbei nämlich um Seelen von Verstorbenen, die aufgrund eines Unrechts zu Lebzeiten oder kurz nach ihrem Tod (z.B. ein unrühmliches Begräbnis) keinen Frieden finden konnten. Ähnlich wie in unserer Vorstellung von Gespenstern haben auch Yūrei keine Beine, sondern schweben durch die Luft. Dabei suchen sie die Lebenden heim, jedoch meist ohne ernsthaften Schaden anzurichten. Es sei denn, es handelt sich um sogenannte Onryō – Rachegeister.

Eine Besänftigung der toten Seelen kann durch verschiedene buddhistische Rituale, einem Exorzismus nicht unähnlich, erreicht werden. Erste Quellen für diese Praxis stammen schon aus dem 8. Jahrhundert. Auch heute spielt die Besänftigung der Seelen Verstorbener eine wichtige Rolle für die japanische Bevölkerung. Ähnlich wie beim mexikanischen Día de los muertos wird in Japan seit über 500 Jahren das Totenfest „Obon“ gefeiert, bei dem die Geister der Ahnen befriedet werden sollen. Aber diese kulturell vorgeschriebende Verehrung von Geistern inspiriert auch ganz andere Geschichten …

Von wegen stilles Örtchen – Onryō und Yūrei in „Urban Legends“

In japanischen Sanitäranlagen kann man nicht nur moderne High-Tech-Toiletten mit Sprachfunktion und Turbobrause finden. Unzählige „Urban Legends“ – eine moderne Form des Ammenmärchens – ranken sich um die Keramikabteilung. Zwei davon sollen hier kurz vorgestellt werden.

 „Rotes oder blaues Papier?“

Die Qual der Wahl – oder umgekehrt? (Bild: Marcel L.)

Aka Manto (was übersetzt so viel wie „roter Umhang“ bedeutet) ist eine Geistergestalt, die ihr Unwesen auf so ziemlich allen öffentlichen Toiletten treibt. Gehüllt in ein rotes Cape und mit einer Maske vor dem Gesicht, soll der Geist Menschen heimsuchen, die sich gerade auf den Porzellanthron gesetzt haben.

Auf seine Frage „Willst du rotes oder blaues Papier?“ sollte man am besten gar nicht antworten. Denn wenn man sich für das rote Papier entscheidet, so wird man so lange aufgeschlitzt, bis die eigenen Klamotten ganz rot sind. Und wenn man den blauen Zellstoff wählt, so erwürgt Aka Manto einen, bis das Gesicht ganz blau angelaufen ist.

Angeblich soll Aka Manto der Geist eines gut aussehenden jungen Mannes sein, der auf ungeklärte Weise auf der Toilette getötet wurde. Aus Schmach über dieses unrühmliche Ende soll er seine Maske also tragen, um seine Identität zu verbergen. Als Onryō sucht er deswegen auch gerade am Ort seines Todes Vergeltung.

„Willst du mit mir spielen?“

Hanako-San ist eine „Urban Legend“, die vor allem an japanischen Grundschulen beliebt ist. Ähnlich wie bei der Bloody-Mary-Legende soll der Geist dieses kleinen Schulmädchens mit Bubikopf und rotem Kleid nach bestimmten Ritualen erscheinen – und zwar auf der Mädchentoilette. Die Geschichte wird mitunter auch als Vorlage für die Maulende Myrthe in Harry Potter vermutet. Hanako soll auf grausame Weise von ihren Eltern ermordet oder bei einem Luftangriff während des Zweiten Weltkriegs von Bomben zerfetzt worden sein, und lässt sich darum wohl am ehesten als Yūrei bezeichnen.

Der genaue Ablauf des Rituals variiert dabei aber von Schule zu Schule. In einer Version muss man im WC im dritten Stock an der dritten Kabinentür dreimal anklopfen und Hanako-San fragen, ob sie mit einem spielen will. In einer anderen Variante genügt es, ihren Namen in eine der Kabinen zu rufen. Das sieht dann ungefähr so aus:

Ob die kleine Hanako die mutigen Mädchen nun dem Mythos nach auffrisst, aufschlitzt oder einfach nur verängstigt – die Folgen solcher Geistergeschichten sind real. Studien weisen darauf hin, dass Sagen rund um das WC, wie die um Hanako Blasenentleerungsstörungen, Angststörungen bei kleinen Mädchen verursachen können.

Horror made in Japan

Wenn es eines gibt, was Aka Manto und Hanako-San zeigen, dann dass die traditionsreiche Geisterkultur Japans auch in der Gegenwart fortlebt. Aber auch abseits von „Urban Legends“ und Kindermutproben sind die Geister noch immer präsent. Nicht umsonst gibt es ein eigenes Filmgenre, J-Horror, dass sich neben Aspekten des psychologischen Horrors vor allem auch mit Onryō und Yūrei auseinandersetzt. Diese Filme sind wiederum ein Sinnbild für die tiefe Verbindung zu den eigenen Traditionen. Denn häufig adaptieren sie Geschichte sowohl aus altertümlicher wie auch klassischer Literatur – aber das wäre ein Thema für einen anderen Beitrag.

Wer sich für andere asiatische Geistertraditionen und -geschichten interessiert, sollte sich diese Artikel auf unserem Blog noch unbedingt ansehen:

Alberne Gespenster aus aller Welt – der japanische Shirime

Geschichten von Liebe und Hass: Geister in chinesischen Mythen

Gerät das Geisterfest in China in Vergessenheit?

Weiterführende Literatur:

Michael Dylan Foster (2008) – Pandemonium and Parade: Japanese Monsters and the Culture of Yōkai.

Michael Dylan Foster (2006) – Strange Games and Enchanted Science: The Mystery of Kokkuri. In: The Journal of Asian Studies 65(2), S. 251-275.

Siegbert Hummel (1949) – Das Gespenstige in der japanischen Kunst (Bakemono).

Bernhard Scheid – Religion in Japan.

2013 tauschte Canny Sutanto ihr Leben in Jakarta, Indonesien, gegen eines in Deutschland ein. In diesem Interview erzählt die Hamburger Grafikdesignerin einige indonesische Geistergeschichten und erklärt, welches kulturelle Gepäck es nicht durch den Zoll geschafft hat.

Sind Gespenster in Indonesien ein größeres Thema als in Deutschland?

Ja, auf jeden Fall. Wenn ich den Leuten hier erzählte, dass ich an Gespenster glaube, würden sie denken, dass ich eine Idiotin sei (lacht). Ich persönlich glaube nicht an Gespenster, aber in meiner Familie und unter meinen Freunden gibt es viele, die das tun.

Wie sehen indonesische Gespenster aus?

Das kommt darauf an. Wir haben eine Menge davon. Wenn Du zum Beispiel Muslim bist und stirbst, wirst Du in dieses weiße Leichentuch, das Potschong, eingewickelt, das am Kopfende zusammengeknotet wird. Wie eine Mumie, aber eben eine indonesisch-muslimische. Manchmal kommen die Toten dann als Potschong-Gespenster aus ihren Gräbern, und weil sie von Kopf bis Fuß eingewickelt sind, hüpfen sie herum und spuken.

Und die Leute sehen solche Gespenster?

Mein Cousin hat sie gesehen. Er war in einer Stadt außerhalb Jakartas und schlief auf einer Matratze auf dem Boden. Er wachte auf, und sah einen dieser weißen Potschongs durch die Wand ins Zimmer hüpfen. Dann hielt das Gespenst neben ihm inne und hüpfte schließlich über seine Matratze.

(So sieht ein „echter“ Potschong aus)

Es gibt auch die Tuyul, die Geister. Sie sind wie kleine Personen. Eine Freundin hat mir erzählt, dass ihre Tante sie sehen könne. Dann habe ihre Tante sie “geöffnet,” sodass auch sie die Tuyul habe sehen können. Sie liefen einfach in der Gegend herum.

Woher kommen die Geister?

Es ist ein weitverbreiteter Glaube in Indonesien, dass unsere Welt parallel sei mit der Welt der Geister. Wenn Du einen siehst, dann heißt das, dass an jenem Ort ein Portal ist und die beiden Welten dort miteinander kollidieren.

Gespenster waren also ein normaler Bestandteil  deiner Kindheit?

Absolut. Mein Schwager hat sogar ein Gespenst in Amerika gesehen. Er lag in seinem Haus im Bett und fühlte sich seltsam. Dann hörte er etwas und schaute aus dem Fenster. Da war eine Person mit einem entstellten, verbrannten Gesicht, die ihn anstarrte. Mein Schwager schloss seine Augen, und sprach ein Gebet. Als er sie wieder öffnete, war das Gespenst verschwunden.

Ich habe ihn dann gefragt: “War es weiß oder… war es asiatisch?” (lacht). Er antwortete, es sei weiß gewesen. Dass es also ein einheimisches Gespenst gewesen sei. Kein indonesisches.

Die Spukvilla in Jakarta; Foto: Canny Sutanto

Dann ist da dieses große, teure, moderne Haus in einem elitären Viertel in Jakarta. Es steht jetzt seit einer sehr, sehr langen Zeit völlig leer, weil die Leute sagen, es spuke darin. Es steht an der größten Straße des Viertels und ist einfach leer. Mittlerweile haben sie es bestimmt abgerissen. Man sagt aber, selbst wenn man es abreiße, würde es noch immer dort spuken.

Kann man Gespenster auch wieder loswerden?

Ja, das ist sogar ein Beruf. Wir nennen ihn Dukun.Die Schwester meines früheren Arbeitskollegen in Jakarta war scheinbar von jemandem verflucht worden.  Die Dukun sagten ihr: ,Jemand hat das über Dich gebracht. Du bist verflucht.‘

War ein Gespenst die Ursache?

Eher ein böser Geist. Mein Kollege erzählte mir die Geschichte: Die Familie kam einmal während des Ramadan zusammen, um zu kochen. Sie kauften also frisches Fleisch ein und fingen an, ein Rindercurry zuzubereiten. Plötzlich tauchten Maden in dem Curry auf, viele Maden. Sie warfen es also weg und dachten, das Fleisch sei verdorben gewesen. Sie kauften dann anderswo neues Rindfleisch und kochten erneut Curry. Wieder tauchten mit einem Mal Maden darin auf.

Die Dukun sagten ihnen: “Legt vier Eier in die vier Ecken eures Hausdachs. Wenn sie schwarz werden, wisst ihr, dass ein Geist hier ist.” Und sie wurden alle schwarz.

Das passierte zu der Zeit als mein Kollege und ich zusammen gearbeitet haben. Ich sehe keinen Grund, warum er die Geschichte hätte erfinden sollen.

 

Deutschland ist ein sehr, wie soll ich sagen… unspirituelles Land.

 

Wie ist es für dich so lange an einem Ort gelebt zu haben, wo man nicht an Geister glaubt?

Deutschland ist ein sehr, wie soll ich sagen… unspirituelles Land. Ich denke, das hat mich von diesem Teil meiner Weltsicht entfremdet.

Du glaubst nun selbst nicht mehr an Geister?

Ich denke nicht, dass ich jemals sagen werde, dass ich definitiv nicht daran glaube. Aber wenn ich hier bin, habe ich nicht das Gefühl, dass es spuken könnte. Wohingegen ich in Indonesien vielleicht Angst davor bekomme, wenn ich einen Gruselfilm angeschaut habe. Hier spüre ich das selten. Und warum sollte ich auch? Wie sollten Gespenster  überhaupt existieren? Ich denke, es gibt sie nicht. Aber sicher bin ich mir nicht.

Macht es dir etwas aus, dass dein deutscher Freund nicht an diesen Teil deiner Kultur glaubt?

Ich sehe das als etwas Positives, weil es Vernunft in meinen Kopf bringt. Ich glaube ja an Wissenschaft und all das und weiß darum, dass Gespensterglaube eigentlich Quatsch ist. Er erinnert mich manchmal daran.

 

Vielleicht ist die Theorie, dass Du die Gespenster sehen kannst, wenn Du an sie glaubst, und wenn nicht, dann eben nicht.

 

Würdest du diese Sicht der Dinge allen Indonesiern wünschen?

Vielleicht wenigstens meinem kleinen Neffen. Er war neulich zu Besuch, wir sind durch Europa gereist und er redete ständig über Gespenster. Er sagte, ‚da drüben ist ein Gespenst‘, oder hier…

Selbst in Hamburg, wo du lebst?

Oh, zum Glück nicht! Dann würde ich mich sehr unwohl fühlen! Er sagte ja so Sachen wie:  ‚Schau mal, der Typ da drüben hat keinen Kopf‘. Ich glaube aber nicht, dass er tatsächlich irgendetwas sieht. Ich denke, er ist einfach von den Gespenstergeschichten beeinflusst. Vielleicht ist die Theorie, dass du die Gespenster sehen kannst, wenn du an sie glaubst, und wenn nicht, dann eben nicht.

Könnte es sein, dass du in Indonesien an Gespenster glaubst und hier in Deutschland nicht?

Nein. Tatsächlich sage ich mir selbst immer wieder, dass ich nicht an Gespenster glaube, weil ich persönlich sie ja nicht sehe. Und ich bin froh, dass ich sie nicht sehe.

Aber du glaubst deinen Freunden?

Ja, das tue ich. Es ist ein ziemlicher Widerspruch.

Und wie ergeht es südamerikanischen Gespenster in Deutschland? Eine argentinische Studentin an der Uni Tübingen erzählt.

Gespenster können mal eine politische Idee sein, mal schaurige Monster, und oft Figuren in unseren liebsten Geschichten. Doch hat die Menschheit im Laufe ihrer illustren Historie schon das ein oder andere Gespenst hervorgebracht, bei dem man sich fragt, ob uns alle guten Geister verlassen haben. Begeben wir uns auf eine kleine, skurrile Weltreise.

1. Das „Highgate Chicken“ Gespenst

Sir Francis Bacon war ein Philosoph, Staatsmann und Jurist und gilt als einer der wichtigsten Vorreiter der empirischen Forschung. Man mag von Ironie sprechen, dass sich ausgerechnet aus dem Umfeld Bacons eine der faszinierendsten Gespenstergeschichten Englands entwickelt hat. Die Geschichte des „Highgate Chicken“ Gespensts.

Wir schreiben das Jahr 1626. In Europa wütete der verheerende dreißigjährige Krieg. Im verschneiten England, genauer am Highgate Pond nahe London, lieferte sich Wissenschaftler Francis Bacon eine hitzige Diskussion mit seinem Freund Dr. Witherbone darüber, auf welche Art sich Fleisch am besten konservieren ließe und vielleicht auch darüber, wer von beiden den lustigeren Nachnamen hat.

Bacon argumentierte, dass Kälte die Lösung sein könnte, und um das zu beweisen, ging er los und kaufte ein Huhn. Es ist nicht bekannt, ob dieses Huhn bereits Anzeichen von dämonischer Präsenz zeigte. Man weiß nur, dass Bacon es kaltblütig ermordete, rupfte, ausnahm, mit Schnee füllte und in einem Sack in mehr Schnee vergrub. So erfand Bacon, Verfasser der Universalenzyklopädie De dignitate et augmentis scientiarum, das erste gefrorene Hähnchen. Am selben Tag erkältete er sich und starb wenig später an einer Lungenentzündung.

Jener Ort, an dem Bacon das Huhn vergrub, gilt seit jenem schicksalshaften Tag als heimgesucht. Doch ist es nicht Bacons Geist, der den Ort heimsucht, oder der ruhelose Dr. Whiterbone, der nie darüber hinwegkam, dass Bacon Recht hatte. Nein, noch bis heute soll dort der Geist des Highgate-Hähnchens sein Unwesen treiben. Es gibt verschiedene Berichte von Zeugen, die am Highgate Pond ein halb-gerupftes, kopfloses Huhn im Kreis herumrennen gesehen haben. Wild mit den Flügeln schlagend und auf den Boden pickend mit einem Schnabel, welchen es nicht mehr hat. Die letzte angeblich belegte Sichtung des Horror-Huhns aus der Hölle, soll es in den 1970ern, gegeben haben. Wollen wir hoffen das Huhn hat erkannt, dass es für die Wissenschaft starb und es jetzt, glücklich gackernd, seinen Frieden in den ewigen Jagdgründen gefunden hat.

2. Mula-sem-cabeça – Das kopflose Maultier

Wir kennen den christlichen Gott als jemanden, mit dem man sich besser nicht anlegt. Mal schmeißt er Frösche herab, lässt Erstgeborene sterben, flutet den halben Planeten oder straft uns fürs Turmbauen mit Fremdsprachen lernen. Manchmal verwandelt er einen zur Strafe aber auch in ein kopfloses lila Maultier, das Feuer aus dem Halsstumpf speit. Laut brasilianischer Folklore soll dieses Schicksal eine brasilianische Prostituierte erlitten haben, die eine Affäre mit einem Priester hatte.

Je nach Version variiert die exakte Form des Fluches, mit welchem die Frau von Gott in dessen unendlicher Kreativität belegt wurde. Einig ist man sich darin, dass die Verfluchte dazu verdammt ist sich Donnerstag nachts in jene albtraumhafte Maultier-Gestalt zu verwandeln. Meist trägt sie dabei noch ein fliegendes Zaumzeug, gibt das Jammern einer Frau von sich und ist geschmückt mit einer brennenden Mähne. Sie trampelt achtlose Menschen nieder und man kann sich ihr nur entziehen, indem man sich flach auf den Boden legt und ruhig bleibt. Angeblich sieht sie nicht so gut …

Wir wollen an dieser Stelle nicht den pädagogischen Wert diskutieren, eine käufliche Dame dafür zu bestrafen Sex zu haben, während man den Priester laufen lässt. Denn der Fluch hat ein Gegenmittel! Um die brennende Geisterdirne zu retten, bedarf es nur der Entfernung des Zaumzeugs. Oder man ersticht sie. Denn dann würde sich das kopflose Maultier zurück in das Freudenmädchen verwandeln, nackt, schwitzend und nach Sulfur stinkend. Der „Glückliche“, dem dies gelingt, muss sie anschließend zur Frau nehmen.

Vermutet wird, dass die Geschichte als christliches Lehrstück gegen die in Brasilien weit verbreiteten Naturreligionen entstanden ist, um die Zügel- und Kopflosigkeit des wilden, animalischen Menschen zu verdeutlichen und Priester vom Zölibat zu überzeugen. Denn wer will schon für eine galoppierende, das Dorf terrorisierende, feuerspeiende Geisterdirne verantwortlich sein?

Künstlerische Veranschaulichung

 

3. Shirime

Zuletzt wollen wir noch einen Blick in das Mutterland seltsamer Gespenstergeschichten werfen: Japan. Neben einer Unzahl an Todesgöttern, Naturgeistern und Horror-Sagen gibt es in Japan sogenannte Yōkai, eine Klasse an Gespenster, die mit Monstern oder unseren westlichen spukenden Geistern vergleichbar sind. Oft auch als Mononoke bezeichnet, haben diese Gespenster die Fähigkeit der Gestaltwandlung, können von Tieren Besitz ergreifen oder beleben Gegenstände. Meist läuft eine Yōkai-Geschichte aber ziemlich ähnlich ab. Ein einsamer Wanderer trifft eine seltsame Person. Diese entpuppt sich als irgendeine Art Gespenst. In der Folge flieht das Opfer schreiend, der Geist verschwindet oder irgendwer wird von irgendwas gefressen.

Dies bringt uns zur Gespenstersage des Shirime. Die Geschichte geht so: Ein Samurai läuft, nahe Kyoto, eines Nachts die Straße entlang. Plötzlich trifft er auf einen Mann in einem Kimono, der ihm den Weg versperrt und sagt: „Entschuldigen Sie … bitte nur einen Moment ihrer Zeit.“ Der Samurai wappnet sich misstrauisch für einen Angriff. Er antwortet: „Was willst du von mir?“ Plötzlich dreht sich der rätselhafte Mann ruckartig um, bückt sich, hebt seinen Kimono und streckt dem Samurai seinen nackten Hintern entgegen. In der Mitte ein Licht ausstrahlendes, großes Auge. Angsterfüllt schreit der Samurai und ergreift die Flucht. Ende der Geschichte.

By Yosa Buson (与謝蕪村, Japanese, *1716, †1784) – scanned from ISBN 4-5829-2057-8., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2221693

Die Moral dieser Sage soll jeder für sich entscheiden. Im Japanischen wird dem Shirime nachgesagt, dass er keine böse Absicht hegt und es einfach nur witzig findet Leute zu… nunja, verarschen. In dieser Funktion kommt er beispielsweise auch im Film „Pom Poko“ des berühmten japanischen Zeichentrickstudios „Ghibli“ vor. Wer jetzt denkt, dass er auch schon den ein oder anderen Arsch mit Augen getroffen hat, sollte aber nicht davon ausgehen, dass es sich dabei gleich um einen Shirime handelte. Denn wie die gängige Defintnion von Gespenst empfiehlt, können alle möglichen „furchterregenden spukenden Wesen“ Gespenster sein.

4. Heimreise

Wir sehen also, egal ob Hühner in England, Maultiere in Brasilien oder Hintern in Japan: Gespenster tauchen auf der Welt in den skurrilsten Formen und Farben auf. Es gäbe noch unzählige zu entdecken, wie ein gespenstischer haariger Zeh in den USA, Föten-Geister in Indonesien oder das „Hantu Tetek“ (dt.: Busen-Gespenst) aus Malaysia. Auch die ein oder andere heimische Wunderlichkeit haben wir hier im Blog mit spukenden Bauernhöfen, Fußballgeistern und verstorbenen Tübinger Studenten schon vorgestellt. Am Ende muss man eh gar nicht so weit schauen, um alberne Gespenster zu finden. Oder wer kennt nicht das Gespenst mit dem Bettlaken über dem Kopf?

Nirgends war die Reaktion auf diesen Gespensterblog so positiv wie in der kleinen Runde von lateinamerikanischen Frauen, der ich vor kurzem von unserem Projekt erzählte. Als einzige Deutsche war ich ganz überrascht von deren Begeisterung für das Thema Gespenster. Ein Interview über gruselige Zimmer, verstorbene Verwandte und darüber, wie sich der christliche Glaube mit Spiritualität vereinbaren lässt.

Jessica Lizeth Catacora Castañeda ist 27 und Masterstudentin der Humangeographie in Tübingen und die perfekte Kandidatin für einen vergleichenden Blick, denn sie kennt sich in Deutschland genauso gut aus wie in Peru: Insgesamt elf Jahre hat sie bisher in Deutschland gelebt und kann voller Sarkasmus über Latinoklischees sprechen. Dem Thema Gespenster widmet sie sich aber mit Ernsthaftigkeit.

Jessi, hast du schon mal einen Geist gesehen?

Nein, aber ich habe von einigen Leuten gehört, denen das passiert ist. Meiner Großtante zum Beispiel. Nachdem ihr Mann gestorben ist, hat sie ihn eines Abends gespürt. Sie lag alleine im Bett und hat gefühlt, dass jemand sie umarmt und ganz fest drückt, das war er. Danach hat sie angefangen zu beten.

Sind Geister meistens verstorbene Personen?

Ja, verstorbene Verwandte, die man gut kennt. Aber es gibt sicher auch andere Geister. Wenn man offen ist und eine Sensibilität dafür hat, dann sieht man sie. Mir passiert das aber nicht.

Bist du nicht offen dafür?

Ich bin zu ängstlich. Ich will nichts sehen, sonst mache ich mir zu viele Gedanken. Ich spüre etwas, aber ich sehe keine Geister. Wenn meine Freundin Vivian von ihrer verstorbenen Mutter erzählt, dann habe ich immer das Gefühl, dass sie da ist. Ich spüre ihre Präsenz. Aber das ist ein angenehmes Gefühl.

Im Haus meiner Oma gibt es ein Zimmer, in dem ich einfach nicht einschlafen kann.

Geht von den Geistern kein Gefühl von Gefahr für dich aus?

Nein, eigentlich nicht. Aber wenn ich jetzt so drüber nachdenke… Im Haus meiner Oma gibt es ein Zimmer, in dem ich einfach nicht einschlafen kann. Es ist das Gästezimmer. Dort kann ich nicht alleine sein mit geschlossener Tür, das macht mir einfach Angst. Und es geht nicht nur mir so! Meine Schwester, meine Cousins – alle, die dort schlafen, haben Alpträume. Es gab mal einen Brand im Haus, und der ging von diesem Zimmer aus. Danach haben sie ein Buch über schwarze Magie im Zimmer gefunden, es gehörte meiner Tante.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen Geistern und schwarzer Magie?

Ja und nein. Schwarze Magie ist für mich Aberglaube. Aber ich denke, wenn man etwas sucht, dann findet man auch etwas. Wie bei diesem Spiel, Ouija. Wenn man negative Energien ruft, dann bekommt man wahrscheinlich auch eine Antwort. Ich glaube, es gibt eine Dimension, von der wir nichts wissen. Dort kommen die Geister her. Aber wie die Aufteilung dort ist, also Gut, Böse, Teufel und so weiter, das weiß ich nicht.

Wie passt das alles in Peru zusammen: Der Glaube an Geister, vielleicht auch an schwarze Magie, und dann der christliche Glaube?

In Peru haben wir eine Mischung aus Katholizismus, Aberglauben und dem Glaubenssystem der Kulturen, die vorher da waren. In Lateinamerika sind die Leute sehr offen. Es ist sehr multikulturell, und es gab historisch eine starke Mischung verschiedener Vorstellungen. Eine Person kann gleichzeitig an viele Dinge glauben. In den Anden wird z.B. auch die Erde verehrt, ohne dass das dem Glauben an Himmel und Hölle und den christlichen Gott widersprechen muss.

Wie kann ich mir das vorstellen mit den Geistern in Peru, ist es normal, dass man sie für real hält?

Ja, darüber wird gar nicht diskutiert! Man erzählt einfach davon, als Teil der Realität. Manchmal klingt es vielleicht komisch, wenn man so zusammen am Tisch sitzt, aber man glaubt das, was die anderen sagen. Das sind dann gar keine Gruselgeschichten, sondern eher so: Der hat uns vor kurzem besucht, oder die war gestern da. Oder jemand erzählt von seinen Träumen. Meine Mutter nimmt z.B. vieles in ihren Träumen wahr.

Hier gibt es auf jeden Fall auch Geister! Mit Sicherheit! Die Leute sind nur nicht offen dafür, oder es ist gesellschaftlich nicht akzeptiert.

Und wie findest du im Vergleich dazu den Umgang mit Geistern in Deutschland?

Hier gibt es auf jeden Fall auch Geister! Mit Sicherheit! Die Leute sind nur nicht offen dafür, oder es ist gesellschaftlich nicht akzeptiert. Auch der Glaube ist hier anders. Es gibt eine rationale Seite im Glauben, das ist so ein großer Unterschied zu Lateinamerika. Man hinterfragt hier immer alles, und das ist auch irgendwie gut. Aber vielleicht blockiert das diese andere Welt, die man nicht erklären kann.

Ist das schlecht für uns? Fehlt uns etwas?

Ich weiß nicht. Es ist vielleicht einfacher, nur an das zu glauben, was man sehen und anfassen kann. Aber in Peru könnte man manchmal ein bisschen rationaler sein. Ein Gleichgewicht zwischen Vernunft und Aberglaube wäre vielleicht nicht schlecht. Andererseits mag ich diese Seite von Lateinamerika, die Offenheit. Es ist alles möglich, man versucht nicht, eine Antwort auf alles zu haben. Man ist nicht so arrogant zu sagen: Das müssen wir erklären können mit Physik und Molekülen. Manchmal hilft das. Aber deswegen haben wir halt in Lateinamerika nicht die Max-Planck-Institute [lacht].

Dafür habt ihr Gabriel García Márquez.

Ja, stimmt, den haben wir!

So lange die Menschheit sich schon Geschichten erzählt, lieben wir Erzählungen von Geistern, düsteren Gestalten und Verbrechen. Ob Spukgeschichte, Gruselbuch oder Horrorfilm – die Faszination des Dunklen und Bösen scheint ein Teil des Menschen zu sein. Aber was ist der Grund dafür, dass wir uns so gerne gruseln?

Lust am Gruseln

Gruselfilme locken Millionen Menschen in die Kinos (© Copyright: Warner Bros. Pictures)

Die Neuverfilmung von Stephen Kings „Es“ füllte im Jahr 2017 die deutschen Kinosäle. Über 3 Millionen Besucher*innen wollten sehen, wie der Horrorclown auf Beutezug geht. Rund 30 Filme des Genres Grusel und Horror werden allein in diesem Jahr in den deutschen Kinos anlaufen. Für den Erfolg spielt es keine Rolle, ob Gespenster oder Zombies ihr Unwesen treiben, blutsaugende Vampire aus ihren Gräbern steigen oder ein wahnsinniger Massenmörder mit seiner Kettensäge loszieht, um Jugendliche zu jagen. Die Besucherzahlen sind konstant.

Kein Wunder, denn rund die Hälfte der Bevölkerung empfindet Lust am Gruseln. Und dem Lichtspiel gelingt es ohnegleichen, eine Geschichte so realitätsnah wie möglich zu zeigen. Auf den Zuschauerrängen bietet sich bei jedem Gruselfilm dasselbe Bild. Finger krallen sich panisch in die Oberarme der Sitznachbar*innen. Hände schnellen vor die eigenen Augen, um nicht sehen zu müssen, welches Grauen sich auf der Leinwand abspielt. Nur, um dann doch durch die Finger zu lugen, damit man nichts verpasst. Es scheint, als kämpften die Zuschauer*innen mit sich selbst. So sehr man auch meint, nicht hinsehen zu können, so sehr möchte man doch wissen, was geschieht. Es tobt ein innerer Kampf zwischen Angst und Neugier. Aber warum gruseln wir uns so gern?

Adrenalin und Endorphine

Psycholog*innen nennen dieses Phänomen „Angstlust“. Angeblich ist ein gewisser Hang zum Bösen im Wesen des Menschen verankert. Nach Dr. Ulrich Kobbé vom subjektpsychologischen Institut in Lippstadt wird dieser durch das Ansehen von Gewaltszenen befriedigt – und das, obwohl wir Angst im Allgemeinen als ein unangenehmes Gefühl empfinden.

Wissenschaftler*innen stellten fest, dass im Körper des Menschen zwei Dinge passieren, wenn er/sie sich einen Horrorfilm ansieht. Nach der Erklärung des Münchner Psychologe Lothar Hellfritsch werden sowohl Adrenalin als auch Endorphine gleichzeitig ausgeschüttet. Dies geschieht durch die Wechselwirkung von Angst und Glück. Einerseits fürchtet man sich aufgrund der brutalen Filmszenen, ist andererseits aber froh, nicht der/die Betroffene zu sein. Solange wir uns in realer Sicherheit befinden und den Albtraum einer fiktiven Figur auf der Leinwand verfolgen, verschafft uns diese Gefühlsvermischung einen besonderen Kick.

Lust am Gruseln

Grenzgänge – etwas Furchteinflössendes zu bewältigen, kann beflügelnd wirken (Quelle: Lennard Wittstock, Pexels.com)

Horrorgeschichten verarbeiten die Urängste des Menschen: Dunkelheit, die Ungewissheit, was passieren wird, allein gelassen zu sein oder körperliche Qualen, Tod. Dass wir uns unseren Ängsten aussetzen wollen, ist ein normales und reizvolles Unterfangen. Bereits Kinder begeben sich selbst in Situationen, in denen sie sich gruseln. Sie versuchen sich etwa immer eine Stufe weiter hinein in den Keller zu wagen oder doch noch eine Minute länger allein im Dunklen auszuharren. Oder Jugendliche, die bei Nacht über den Friedhof ziehen. Sie selbst würden es eine Mutprobe nennen. Der ungarisch-britische Psychoanalytiker Michael Balint stellte heraus, dass es sich dabei um Grenzgänge handelt, die uns zwar im Moment ängstigen, im Nachhinein aber beflügeln und sogar stolz machen. Ähnlichen Stolz empfinden auch Erwachsene, die nach zwei Stunden Anspannung im Kinosessel sagen können: „Geschafft!“. Man glaubt, die eigenen Ängste bezwungen zu haben.

Die Mischung macht’s

Bei allem Hang zum Schrecken darf das Gefühl von Erleichterung nicht ausbleiben. Die Lust an der Angst funktioniert nur dann, wenn wir insgeheim wissen, dass wir in Sicherheit sind. Vergleichbare Empfindungen entstehen zum Beispiel bei einer Fahrt in der Achterbahn oder einem Besuch in der Gesiterbahn. Voraussetzung ist immer, dass wir neben der momentanen Erfahrung von Angst ein grundlegendes Vertrauen empfinden. Ein Urvertrauen in unsere Umgebung, in die Situation, in der wir uns befinden, oder in die Menschen um uns herum. Im Grunde müssen wir uns sicher und aufgehoben fühlen, um die Angst ausgleichen zu können, die durch einen Film oder ähnliches hervorgerufen wird. Wer es liebt, sich im Kinosaal gemeinsam mit 300 anderen Besucher*innen einen Schauer über den Rücken laufen zu lassen, der tut das nicht auch unbedingt gern allein zu Hause auf dem Sofa.

Das gilt übrigens auch auf erzählerischer Ebene. Eine bloße Aneinanderreihung von Gewaltszenen würde die Angstlust der Zuschauer*innen längst nicht befriedigen. Auch innerhalb des Films muss es Situationen geben, in denen durchgeatmet werden kann. Das heißt, in denen etwas passiert, das uns den Schrecken kurzzeitig vergessen lässt. Im besten Fall etwas, das uns emotional rührt. Schon Aristoteles wusste, die perfekte Mischung für eine Tragödie besteht aus Furcht und Mitleid.

Was hat der Kinderbuch-Klassiker Otfried Preußlers mit Saudi-Arabien zu tun? Die Amerikanerin Kristie Pladson schreibt über ihre Zeit an einer saudischen Mädchen-Highschool und darüber, wie es kam, dass sie auf das kleine Gespenst neidisch wurde. 

Ich saß auf einem winzigen Sofa, meine Beine untergeschlagen, einen Druckbleistift in der einen Hand, Otfried Preußlers „Das kleine Gespenst“ in der anderen. Die Seiten des englisch-deutschen Wörterbuchs auf dem Wohnzimmertisch vor mir flatterten im Luftzug der Klimaanlage. Der Plan war klar: Lies das Kapitel einmal, unterstreiche alle neuen Wörter, schlag sie im Wörterbuch nach und lies das Kapitel noch einmal.

„In Deutschland hatte ich bereits ein paar Deutschkurse belegt. Mein Verlobter meinte, ich sei bereit, ein richtiges Buch zu lesen.“ Otfried Preußler: „Das kleine Gespenst“ (1966)

Zwei Seiten, 20 neue Wörter und eine halbe Stunde später lachte ich auf bei dem Gedanken an die Leute, die mir vorgeschlagen hatten, ich solle mit Kafkas „Verwandlung“ anfangen.

Aber welchen Unterschied machte es schon, wie lange ich brauchen würde? Ich hatte Zeit. Keine Bars, keine Musik, keine Kinos, kein Grün, kein öffentlicher Nahverkehr. Draußen war es 35 Grad heiß, es gab dort nichts und für mich sowieso keine Möglichkeit, dorthin zu gelangen. In Saudi-Arabien hatte ich alle Zeit der Welt für mein kleines Gespenst.

Kapitel 1

Es war das Jahr 2014. Noch drei Monate zuvor hatte mein Leben dem vieler anderer, frischgebackener amerikanischer College-Absolventen geglichen: Ich saß im Haus meiner Eltern im mittleren Westen der USA und durchsuchte das Internet nach einem Job. Allerdings nicht nach irgendeinem Job. Was ich suchte, war scheinbar unmöglich – ich wollte eine gute Bezahlung und mit dem deutschen Studenten zusammenziehen, in den ich mich in einem Auslandssemester verliebt hatte. Ich merkte schnell, dass der internationale Arbeitsmarkt für Literaturstudentinnen aus Indiana ziemlich überschaubar war. Doch es musste diesen Weg geben, und ich würde ihn finden.

Riad – „Mein Verlobter sträubte sich. ‚Das ist der letzte Platz auf der Erde, an dem ich jemals würde leben wollen‘, waren seine exakten Worte.“ Foto: B.C. Biega

Es gab ihn tatsächlich, und er führte weit nach Osten.

„In Saudi-Arabien zu arbeiten ist herausfordernd und lohnend. Wenn Sie einen absolut einzigartigen Lebensstil kennenlernen und Teil eines sich schnell wandelnden Landes sein wollen, dann möchte ich jetzt mit Ihnen sprechen. Dies ist eine ausgezeichnete Chance auf einen schnellen Karriereschritt und ein beträchtliches, STEUERFREIES GEHALT.“

Steuerfrei. Mietfrei. Persönlicher Fahrer. Swimming Pool. Arbeitsvisum. Die Liste ging weiter.

Mein Verlobter sträubte sich. „Das ist der letzte Platz auf der Erde, an dem ich jemals würde leben wollen“, waren seine exakten Worte. Aber er hatte in seinen Augen Herzen so groß wie die Dollarzeichen in meinen. Als sich für ihn ein Job mit der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit in Riad auftat, war die Sache entschieden. „Es wird ein Abenteuer sein“, sagte ich, erst um ihn zu überzeugen, später dann, um mich selbst zu beruhigen.

„Das kleine Gespenst“ war in meinem Handgepäck auf dem Flug über den Atlantik zu meiner neuen Arbeitsstelle als Englischlehrerin. In Deutschland hatte ich bereits ein paar Deutschkurse belegt. Mein Verlobter meinte, ich sei bereit, ein richtiges Buch zu lesen.

„Das war das erste Buch, das ich je gelesen habe,“ meinte er. „Ich war so stolz, als ich es durch hatte. Du wirst es auch sein.“

Ottfried Preußlers Kinderbuch-Klassiker erzählt die Geschichte eines freundlichen Geists, der in der Burg der Stadt Eulenstein spukt. Mehr als irgendetwas sonst wünscht er sich, Eulenstein bei Tageslicht zu sehen, aber er verschläft jeden Tag aufs Neue. Eines Tages erwacht er zur Mittagsstunde, im hellen Sonnenschein. Er verbringt einen glücklichen Nachmittag damit, Unfug in der Stadt zu treiben, bevor er merkt, dass er in dieser Tageszeit gefangen ist.

Über die nächsten zehn Monate sollte sich diese schlichte Erzählung mir enthüllen, Wort für Wort.

Kapitel 2

Das Taxi holte uns am König-Khalid-Flughafen ab und setzte uns eine Stunde später in einer Straße ab, die rechts und links von stockwerkhohen Metallwänden gesäumt war. Große, verschlossene Metalltore waren in regelmäßigen Abständen zu sehen. Man sagte mir, die Mauern seien einem alten Gesetz gemäß gebaut, demzufolge sie so hoch sein müssten, dass ein Kamelreiter nicht darüberschauen kann. Jede Wohngebietsstraße in dieser Sechs-Millionen-Stadt sieht identisch aus.

Der Ort, an dem ich jetzt stand, war vor weniger als 80 Jahren noch eine Oasenstadt aus Lehm und Palmholz gewesen. Dann wurde Öl entdeckt, und eine klimatisierte Metropole aus Wolkenkratzern, Einkaufszentren und Stadtautobahnen entstand scheinbar aus dem Nichts. Mit der neuen Stadt kam eine neue Bevölkerung. Von ihren nomadischen Vorgängern unterschied sie sich dadurch, dass sie nicht mehr nur in der Moschee, sondern auch bei McDonalds und Starbucks einen Lebensmittelpunkt hatte. Das neue Riad baute eine wackelige Brücke in den Westen, auf der es Jahr für Jahr Tausende Englischsprecher wie mich herbeilockte, um seinen Einwohnern die englische Sprache beizubringen. Vorübergehend verzichteten mein Verlobter und ich auf mehrere Menschenrechte – auf Meinungsfreiheit, auf freie Ausübung unseres Glaubens, auf Musik, auf Bewegungsfreiheit. Im Gegenzug erhielten wir ein aufgeblähtes Gehalt und, anders als unsere Schicksalsgefährten aus Sri Lanka und Pakistan, die Sicherheit, dass wir jederzeit wieder würden verschwinden können.

Ich stand auf der Straße in dieser Nacht. In der Hand hielt ich mein Iqama, meinen saudischen Aufenthaltstitel: Ein Jahr lang würden wir hier leben.

Mein Körper gewöhnte sich erst noch an die Wärme, den trockenen Wind und den wehenden schwarzen Umhang, der ihn zum ersten Mal verbarg. Mein Verlobter nestelte am Schloss herum. Eine Neonlampe schien auf das schwarze Tuch herab, das um mein Gesicht gelegt war, während ich die Wand hinaufstarrte, hinter der wir wohnen würden. Die Tür öffnete sich mit einem Quietschen. Wir rollten unser Gepäck hinein und schlossen sie hinter uns.

Die Wohnung, die uns mein Arbeitgeber zur Verfügung stellte, war einfach aber ausreichend: Zwei Zimmer plus Küche und Bad, billige Möbel, Plastikböden. Jeder Zentimeter war mit feinem Staub bedeckt, der von der Wüste, die die Stadt umgibt, hereingetragen wurde. Über die Monate würden wir wischen und fegen und putzen. Stets war der Staub binnen einer Stunde zurück und legte sich wie ein Schleier über die Wohnung, als sei sie verlassen und unbewohnt. Unsere Wohnung ähnelte auf diese Weise dem staubigen, verlassenen Dachstuhl, in dem Preußlers Gespenst den Tag verschläft. Und doch würde sie sich später weit entfernt anfühlen von jenem gemütlichen, stillen Zufluchtsort, um den ich das kleine Gespenst noch beneiden sollte.

Kapitel 3

Der Unterricht begann um 6:45 Uhr. Auf diese Weise konnten die Schülerinnen nach Hause, bevor die Hitze 30 Grad überschritt. Früh an jedem Morgen weckte mich die knarrende Stimme eines Mannes, der den ersten von fünf Gebetsrufen per Lautsprecher über unserer Straße ertönen ließ. Ich schloss meine Augen fester und versuchte, ein paar Minuten mehr Schlaf zu stehlen, bevor um 5:45 Uhr mein Wecker klingeln würde.

Aus dem Bett und in der Dunkelheit zog ich die Leggings, den knöchellangen Rock und das langärmlige Hemd an, die an der Mädchen-High-School, an der ich arbeitete, Pflicht waren. Darüber meine Abaya, der schwarze Umhang, den alle Frauen in Saudi-Arabien in der Öffentlichkeit tragen müssen. Ich legte ein schwarzes Tuch um meinen Hals, wie es von Ausländerinnen erwartet wird. Zehn Minuten war ich mit dem Fahrer auf dem Weg zur Schule. Fünf Minuten danach schritt ich an Wachmännern vorbei, durch das Tor der Al-Tarbiyah Al-Namouthajiyah International School.

An meinem ersten Tag lernte ich meine Schülerinnen kennen, saudische Mädchen im Alter von elf bis 14 Jahren, und meine Kolleginnen, Frauen aus Riad, Ägypten, Jordanien, Indien, einige aus England und den USA. Ich hatte keinen Plan. Stattdessen ließ ich meine Schülerinnen Fragen an mich an die Tafel schreiben. In großen, schnörkeligen Buchstaben krakelten sie: „Wie alt sind Sie?“, „Sind Sie verheiratet?“, „Was ist Ihre Religion?“, „Tragen Sie Bikinis?“, „Hatten Sie einen Freund, als Sie so alt waren wie wir? Haben Sie ihn geküsst?“

Die Flure und Klassenzimmer der Schule dröhnten vor Lachen und Geschrei, an jenem ersten Tag und jedem darauf folgenden. Die Schülerinnen blickten lächelnd zu mir auf, wie uniformierte katholische Schulmädchen, aber mit bodenlangen Röcken. Auf dem Parkplatz vor dem Fenster standen Palmen, die Blätter reglos in der Sonne.

„Ich legte ein schwarzes Tuch um meinen Hals, wie es von Ausländerinnen erwartet wird.“ Foto: Kristie Pladson

Kapitel 4

Ich hatte null pädagogisches Training oder Erfahrung und den Job trotzdem irgendwie bekommen. Ich dachte, weil man mir den Job gegeben hatte, müsse ich wohl auch qualifiziert dafür sein.

Meine Absichten waren gut, aber meine Umsetzung war fürchterlich. Ich entwickelte die schlechte Angewohnheit, Unterrichtspläne erst kurz vor dem Klingeln zusammenzuschustern, nur um es bis zum Ende des Tages zu schaffen. Jeden Tag nahm ich mir vor, „heute Abend wirst Du einen richtigen Unterrichtsplan machen. Heute Abend kommst Du wieder auf Spur.“

Aber dieser Abend kam nie. Meine dürftigen Schulaufgaben kamen bearbeitet zurück und bildeten wachsende Stapel in meinem staubigen Wohnzimmer. Vorwurfsvoll warteten sie darauf, benotet zu werden.

Erst schob ich es auf den Jetlag. Dann auf den Kulturschock. Dann auf die Organisation der Schule.

Diese Beanstandungen waren gerechtfertigt, meine Reaktion auf sie eher nicht.

Der Stundenplan änderte sich wöchentlich, manchmal von heute auf morgen oder sogar im laufenden Schultag. Lehrerinnen platzten unvermittelt in mein Klassenzimmer und schrien die Mädchen auf Arabisch an. Alle verließen den Raum. „Wir haben jetzt Koranunterricht, Miss.“

Mütter tauchten unangekündigt auf, um über die Noten ihrer Töchter zu diskutieren. 20 Zwölfjährige blieben im Englischunterricht sich selbst überlassen, während ich abgezogen wurde, um Nespresso zu trinken und ein sich im Kreis drehendes Gespräch zu führen, das immer damit endete, dass die Schulleiterin die Note nach oben korrigierte.

Jeden Morgen schallte der Gebetsruf durch das Fenster meines Klassenzimmers. Der Unterricht stoppte. Die Schülerinnen drängelten raus, um ihre Hände zu waschen und zu beten. Zehn Minuten später ging der Unterricht weiter. Aber die „unartigen Schülerinnen“, wie die saudischen Lehrerinnen sie nannten, versteckten sich jedes Mal auf der Toilette. Ich spürte sie dort auf; sie bettelten und flehten, noch beten gehen zu dürfen. Bis sie zurück kamen, war der Unterricht vorbei.

Einen Morgen erzählte eine Schülerin von einem Zauberer, der bei ihnen zuhause angerufen habe; am nächsten Tag beklagte sich eine andere über die Hexe, die ihre Cousine mit dem bösen Blick krank gemacht habe. Kollegen erzählten Geschichten von Dienstmädchen, denen unter Folter Geständnisse der Hexerei abgerungen und dann der Kopf abgeschlagen worden sei. Ich dachte an das kleine Gespenst und wie seine Schwierigkeiten im Vergleich dazu verblassten.

Jeden Nachmittag kam ich euphorisch nach Hause, einen weiteren Tag überstanden zu haben. An guten Tagen belohnte ich mich selbst mit einem Nachmittag auf dem Sofa, wo ich mich von der Klimaanlage anpusten ließ und „Verbotene Liebe“ und andere Vorabendserien der ARD anschaute – seltsamerweise einer der fünf Sender, die wir empfangen konnten. An schlechten Tagen zog ich die Polyestervorhänge zu und kroch ins Bett. Manchmal blieb ich dort zwei oder drei Tage liegen und grübelte über mein Versagen.

Kapitel 5

Ich arbeitete mich weiter mühsam durch „Das kleine Gespenst“, das ich bei meiner Ankunft angefangen hatte. Eine Seite hier, zwei Seiten da. Eine Passage auf der allerersten Seite blieb mir im Gedächtnis haften: „Tagsüber schlief es in einer schweren, eisenbeschlagenen Truhe aus Eichenholz, die stand auf dem Dachboden, wohl versteckt hinter einem der dicken Schornsteine, und kein Mensch hatte eine Ahnung davon, dass sie eigentlich einem Gespenst gehörte.“

Ich musste sowohl „Truhe“ als auch „Eichenholz“ in meinem englisch-deutschen Wörterbuch nachschlagen, bevor ich mir ein Bild machen konnte von dem stillen, gemütlichen, sicheren Platz, den das kleine Gespenst gefunden hatte, um dort den Tag zu verschlafen. Während sich meine Zeit in Saudi-Arabien in die Länge zog und mein Kontrollgefühl mir in den Fingern zerrann, tauchte dieses friedliche Bild in Anwandlungen plötzlichen, heftigen Neids immer wieder vor meinem geistige Auge auf.

„Tagsüber schlief es in einer schweren, eisenbeschlagenen Truhe aus Eichenholz…“ Bild: Thienemann-Esslinger Verlag GmbH

„Ich wünschte, auch ich könnte in eine Truhe klettern und den ganzen Tag lang versteckt bleiben“, sagte ich zu meinem Verlobten. Vielleicht war das an einem jener Tage, die mit einer auf dem Tisch tanzenden Schülerin und einer im Takt klatschenden Klasse endeten. Ihr fröhliches Gejohle übertönte meine hilflosen Ordnungsrufe.

Hätte ich noch Gedanken auf etwas anderes als mein Selbstmitleid verwenden können (und etwas schneller gelesen), wäre mir aufgefallen, dass das kleine Gespenst und ich noch durch viel mehr als meinen Neid auf seine Truhe verbunden waren.

Gefangen im Eulensteiner Tageslicht merkt das kleine Gespenst, dass der Schein der Sonne es von weiß zu schwarz verwandelt hat. Von da an will es nichts anderes mehr, als wieder das weiße Nachtgespenst zu werden, das es früher war, und in seine Eichentruhe auf dem Dachboden zurückzukehren.

Jeden Morgen legte ich wie betäubt meinen fließenden, schwarzen Umhang und mein schwarzes Kopftuch um und bewegte mich ziellos durch eine Stadt aus Mauern, die ich nie überwinden würde. Erst später wurde mir klar, dass auch ich ein Gespenst geworden war..

Kapitel 6

Ich las das Buch fertig. Mein Verlobter hatte Recht, ich war stolz auf mich. Aber wegen der Sprachbarriere hatte ich viele Details verpasst, und was ich verstanden hatte, ließ bei mir viele Fragen zurück. Wie zum Beispiel:

Wenn Kugeln und Schwertklingen durch den Körper des kleinen Gespensts fliegen können, ohne es zu verletzen, warum braucht es dann Schlüssel und Türen, um von Raum zu Raum zu schweben?

Ist das kleine Gespenst der Geist einer verstorbenen Person? Falls nicht, wo kommt es her?

Warum sucht es den Uhu Schuhu für seinen Rat und seine Weisheit auf, wenn es selbst doch eigentlich viel, viel älter ist als er?

Warum hatte die schwedische Armee solche Angst vor dem kleinen Gespenst, aber die Schulkinder, die ihn herumjagen, überhaupt keine?

Ist es nicht etwas rassistisch, dass die Bürger Eulenbergs ihn den „schwarzen Unbekannten“ nennen und versuchen, ihn aus der Stadt zu jagen?

Mein Verlobter lachte und meinte, ich solle die Geschichte einfach so akzeptieren, wie sie ist, wie er es als Kind auch getan habe.

Kapitel 7

Das Ende des Schuljahrs nahte. Ich gab alle Hoffnung auf ein professionelles Comeback auf, und meine Selbstmitleidstour gleich mit. Der bevorstehende Aufbruch nach Deutschland nahm mich jetzt ganz ein.

In den USA basteln Grundschulklassen, wenn sie zählen lernen, Ketten aus Papier, die für die Tage bis zu den Sommerferien oder Weihnachten stehen. Jedes Glied symbolisiert einen Tag. Mit jedem Tag, der vergeht, entfernen die Kinder ein Kettenglied. Ich riss alte Schülerarbeiten in Streifen, um eine Papierkette mit 14 Gliedern zu basteln, genug, um meine verbleibenden beiden Wochen zu messen. Jeden Tag riss ich ein Kettenglied ab und zählte alle verbliebenen Glieder zweimal laut.

Es waren vier Kettenglieder übrig, als ich mein Iqama verlor.

Ohne meine saudische Aufenthaltserlaubnis würde ich das Land nicht verlassen können. Ich benachrichtigte die Schule, von wo aus ich sofort zu einer Polizeistation gefahren wurde, mit der Anweisung zu lügen – mein Iqama sei gestohlen worden. Es zu ersetzen, würde andernfalls zu lange dauern, und ich würde meinen Flug verpassen. Die nächsten vier Stunden verbrachte ich damit, auf einer saudischen Polizeiwache Polizisten anzulügen.

Es funktionierte. Das neue Iqama kam rechtzeitig an. Weniger als 24 Stunden später gab ich es am König-Khalid-Flughafen ab und verließ Saudi-Arabien für immer.

Es ist jetzt vier Jahre her, dass ich in Deutschland gelandet bin. Alles Geld, das ich damals verdient hatte, ist weg. Ich habe meine Ausgabe des kleinen Gespensts verloren, habe aber neulich das Audiobuch angehört. Es dauerte 90 Minuten. Ich weiß jetzt, dass mein Neid auf das Gespenst nicht gerechtfertigt war. Genau wie ich verbrachte es die meiste Zeit des Buches damit, zu versuchen, zu seiner Truhe zurückzukommen. Ich war einfach ein langsamer Leser.

Wenn sich die Gelegenheit ergibt, sagt meine Schwiegermutter gerne, dass wir in Saudi-Arabien ein Jahr unseres Lebens verschwendet hätten. Das macht mich jedes Mal wütend. Liegt das aber daran, dass sie falsch liegt, oder richtig?

Das kleine Gespenst schafft es zurück in sein altes Leben dank der Freundschaft der Kinder von Eulenstein. Ich bin nie in mein altes Leben zurückgekehrt, aber die Menschen in Riad halfen mir in mein neues.

 

Beitragsbild: Stephan Geyer via Flickr

UNESCO-Welterbe, Touristenmagnet und Wahrzeichen – der Ayers Rock ist vermutlich der berühmteste Berg Australiens. Auch für die Aborigines hat er eine besondere Bedeutung. Gerade das führt zu Konflikten mit Besucher*innen.

Der rötliche Sand erstreckt sich bis zum Horizont. Lediglich widerstandsfähige Gräser und karge Büsche lockern das Landschaftsbild im Herzen des Kontinents auf. Hier, mitten im australischen Nirgendwo des Bundesstaats Northern Territory, erhebt sich der Ayers Rock.

Der 340 Meter hohe Inselberg ist ein Touristenmagnet und gehört zu den bekanntesten Wahrzeichen Australiens. Rund 400.000 Besucher*innen nehmen jährlich die umständliche Reise auf sich ‒ meist über das 470 Kilometer entfernte Alice Springs. Die Stadt gilt als Tor zum australischen Hinterland. Von dort kommt man nur über den Stuart Highway oder mit dem Flugzeug weiter. Die Passagiermaschinen landen direkt in Yulara, einem kleinen Ort mit Hotelanlage und Campingplatz in Reichweite des UNESCO-Welterbes. Was viele Tourist*innen aber nicht wissen: Das beliebte Ausflugsziel beherbergt einen Geist. Denn der Ayers Rock ist ein fester Bestandteil in der ‚Traumzeit‘ der Aborigines, der Ureinwohner*innen Australiens.

Ayers Rock – Heimat der Regenbogenschlange

Der Stuart Highway, bedeckt von rotem Sand.

Der rote Sand des australischen Hinterlandes bedeckt sogar den Stuart Highway, eine der wichtigsten Fernstraßen Australiens (Foto: Stephanie Constantin).

Der Begriff ‚Traumzeit‘ steht für die Mythologie und Religion der Aborigines. Sie gehört zu einer der ältesten Kulturen der Welt, die noch heute gepflegt wird. Ein Bestandteil der ‚Traumzeit‘ ist die Phase der Schöpfung. In dieser mythischen Vorzeit, von der die Geschichten der Aborigines handeln, kreierten sogenannte Schöpferwesen die Welt. Die Regenbogenschlange gilt als eines der wichtigsten Schöpferwesen – sie ist für die Entstehung von Bergen, Flüssen und Tälern verantwortlich. Dem Glauben der Aborigines nach leben die Geister der ‚Traumzeit‘ -Wesen in ihren Schöpfungen bis heute weiter. Am Ayers Rock, den die Aborigines ‚Uluru‘ nennen, lebt demzufolge der Geist der Regenbogenschlange. Corinna Erckenbrecht, Leiterin der Abteilung ‚Weltkulturen und ihre Umwelt‘ des Mannheimer Museumsverbundes ‚Reiss-Engelhorn-Museen‘, sagt: „Der Fels als Ganzes ist weniger wichtig. Es sind vielmehr einzelne Stellen, auch am Rand, die eine besondere Bedeutung haben.“ Daher seien spezielle Felshöhlen und Wasserquellen für die ansässigen Aborigines, die ‚Anangu‘, heilig.

Was für die ‚Anangu‘ heilig ist, muss jedoch für andere Stämme nicht ebenfalls wichtig sein. In Australien lebten vor der Ankunft der Briten auf dem Kontinent hunderte Stämme. Sie hatten verschiedene Sprachen und gaben der ‚Traumzeit‘ unterschiedliche Namen. Allerdings hatten auch die Mitglieder desselben Stammes nicht unbedingt den selben Wissensstand über die ‚Traumzeit‘. So waren die Stämme der Aborigines laut Erckenbrecht lockere Verbünde von Menschen, die sich untereinander durch eine gemeinsame Sprache und Kultur zugehörig fühlten. Innerhalb eines solchen Stammes lebten kundige Aborigines, die das Wissen mündlich durch Lieder, Tänze und Geschichten weitergaben. Allgemein galt das tiefere Wissen über die ‚Traumzeit‘ als geheim. Daher mussten es sich die jungen Aborigines durch bestimmte Rituale und Mutproben ‚verdienen‘.

Wohl behütetes Wissen

Felsmalereien am Ayers Rock

Die Wandmalereien in einer Höhle am Ayers Rock zeigen Geschichten aus der ‚Traumzeit‘ (Foto: Stephanie Constantin).

Spezielles ‚Traumzeit‘ -Wissen war außerdem jeweils Frauen oder Männern vorbehalten. Dies traf unter anderem auf den Initiationsritus zu, durch den die Jugendlichen in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen wurden. „Bei der Initiation der Jungen hatten die Männer das Sagen, und bei den Mädchen die Frauen“, sagt Erckenbrecht. Es habe getrennte Bereiche gegeben, über die eigenes Wissen überliefert wurde. Manche Orte, an denen die Geister der Schöpferwesen leben, seien demnach ausschließlich Frauen zugänglich, andere nur Männern, so Erckenbrecht. Dies trifft auch auf bestimmte Höhlen am Ayers Rock zu, in denen Aborigines Initiationsrieten durchführten.

Die spirituelle Landkarte Australiens

In Australien gibt es noch unzählige weitere Orte, die für die traditionell lebenden Aborigines mit der ‚Traumzeit‘ in Verbindung stehen. Dort leben dem Glauben der Ureinwohner*innen nach ebenfalls die Geister der Schöpferwesen. Diese Orte ergeben für Kundige eine Art spirituelle Karte, die auch einen praktischen Nutzen hat. „Für sie sind das bestimmte Orientierungsmerkmale in der Landschaft. Es ist wichtig zu wissen: wo gibt es Trinkwasser, welchen Pfaden kann ich folgen, welche muss ich eher meiden“, sagt Erckenbrecht.

Vielen Nicht-Aborigines fehlt darüber das nötige Wissen. Sie betreten die Ruhestätten der Schöpferwesen, obwohl die Orte nach den Regeln der Aborigines nicht betreten werden dürfen. So wollte beispielsweise ein amerikanischer Ölkonzern exakt an einer der Kultstädten nach flüssigem Gold bohren. Für die ansässigen Ureinwohner*innen ein Sakrileg. Die Probleme, die jedoch am Ayers Rock auftreten, sind verglichen damit eher vielschichtiger Natur.

Wohin mit den verlorenen Seelen?

Eine Felsniesche am Fuß des Ayers Rock.

Die Zeichnungen der Aborigines sind bei Tourist*innen besonders beliebt (Foto: Stephanie Constantin).

Beginnt man den Aufstieg auf den Berg, sieht man Plaketten, die verunglückten Tourist*innen gewidmet sind. „Die Leute überschätzen ihre Fähigkeiten beim Klettern in der Hitze. Es ist einfach wahnsinnig steil“, erklärt Erckenbrecht. Seit den 1950er Jahren kamen beim Klettern am ‚Uluru‘ rund 40 Menschen ums Leben. Die Seelen der Verunglückten müssten nach dem Glauben der Aborigines in ein Totenreich geleitet werden. Um diesen Übergang ins Jenseits zu erleichtern, gibt es spezielle Bestattungsriten. Jedoch geschieht eben das mit den Seelen der verunglückten Tourist*innen nicht, sagt Erckenbrecht. Daher würden die Seelen der Verstorbenen noch lange am Ayers Rock ziellos herumgeistern. „Das ist für die Aborigines sehr unangenehm“, so Erckenbrecht weiter.

Ab dem 26. Oktober 2019 sollen zumindest keine weiteren Seelen am Ayers Rock dazukommen. Dann wird auch wegen der Unfälle das Klettern verboten. Die Ureinwohner*innen würden sowieso nicht auf die Idee kommen, auf den Berg zu klettern. Erckenbrecht sagt: „Für die Aborigines ist das völlig sinnentleert. Da oben ist nichts.“ Der Blick vom Ayers Rock streift nur über karge Vegetation und rötlichen Sand, der sich bis zum Horizont erstreckt.