„Wir suchen kommunikative, kreative und flexible Personen mit mindestens 3 Jahren Arbeitserfahrung. Außerdem sollten Sie offen auf andere Menschen zugehen können und Auslandserfahrungen mitbringen.“ So in etwa lauten viele Stellenbeschreibungen, die nur auf eine Personengruppe zugeschnitten sind: Extrovertierte. Wie überleben introvertierte, schüchterne und hochsensible Menschen in so einer lauten Arbeitswelt?
Vier Betroffene berichten aus ihrem Leben.

„Hey, wo wollen wir später essen gehen?“. Schulterzucken. „Ok, hast du eher Lust auf italienisch oder mexikanisch?“ „Hm, weiß‘ nicht.“ „Hast du einen anderen Vorschlag?“. „Entscheide du!“ Konversationen dieser Art führte ich schon etliche Male mit meiner Cousine. Oft wusste ich mit der Mischung aus Schüchternheit und Unentschlossenheit nichts anzufangen. Sie war immer etwas stiller und zurückhaltend. In den Augen unserer Eltern galt sie als das Paradebeispiel für eine gelungene asiatisch strenge Erziehung, da ich im Gegensatz zu ihr immer frech war.

Später in der Schule wurde sie von den Lehrern und auch von ihren Klassenkameraden als schüchtern abgestempelt und als Introvertierte bezeichnet. Die Frage, ob jemand extrovertiert oder introvertiert ist, kommt nicht nur in der Schule auf, sondern macht sich später schnell im Alltag bemerkbar, vor allem in der Arbeitswelt. Kriterien in Stellenbeschreibungen wie Offenheit, Flexibilität und Kommunikationsfähigkeit sind zum Standard geworden. Wie ordnen sich also Introvertierte in so eine laute Arbeitswelt ein?

Introvertiert = schüchtern?

Bei den Big Five handelt es sich um ein Modell der Persönlichkeitspsychologie.

Geht die Gleichung schüchtern gleich introvertiert auf? Nicht ganz. In der Alltagspsychologie zeigen eine Vielzahl neuerer Sachbücher drei verschiedene Phänomene auf: Schüchternheit, Introversion und Hochsensibilität. Alle Phänomene einzeln betrachtet haben unterschiedliche Merkmale und Ausprägungen. Während Hochsensibilität unter manchen Forschern als Modethema abgetan wird, stößt die Extroversion auf große Popularität. Die Extroversion wird zu den sogenannten Big Five gezählt, jenen fünf Dimensionen, mit denen sich die Persönlichkeit fast jedes Menschen recht gut erfassen lässt. Außer Extroversion zählen noch Offenheit für neue Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit und Neurotizismus, die Neigung zu Labilität, dazu.

Introversion gilt unter forschenden Psychologen nicht als Gegenpol zur Extroversion, sondern zeichnet sich durch deren Abwesenheit oder geringen Ausprägung aus. Diese wurden in einer Veröffentlichung im Jahr 2013 in sechs verschiedenen Facetten herausgearbeitet. Bei Introvertierten seien die Merkmale Aktivität, Erlebnishunger, Frohsinn, Herzlichkeit, Geselligkeit und Durchsetzungsfähigkeit nur in geringem Maß vorhanden. Die Bielefelder Universitätspsychologen Fritz Ostendorf und Alois Angleitner beschreiben die Facetten Aktivität, Erlebnishunger und Frohsinn als Temperamentsmerkmale – und damit weitgehend als angeboren, die anderen als interpersonelle Stile. Diese können von der Umwelt geprägt werden.

Das Arbeitsleben als Introvertierter

Nils* ist der langjährige Freund meiner Mitbewohnerin. Die zwei können gegensätzlicher nicht sein. Sie hat immer gute Laune. Immer. Und dabei trinkt sie überhaupt keinen Alkohol. Er ist stets bedacht. Fast so, als würden sich die beiden ergänzen. Sie ist die kreative Kunstgalerieassistentin, er der rationale Projektleiter. Nils arbeitet in einem Medizintechnikunternehmen in Tübingen und ist für elektrische Geräte sowie für IT-Projekte verantwortlich. Er hat viele Freunde, die er noch aus der Schulzeit kennt, oder enge Kollegen, mit denen er in regelmäßigen Abständen kocht. Die Zeit, in der sich sein Freundeskreis erweitert, ist vorbei. „Im Laufe des Lebens wird man reservierter. Es kommt auf andere Dinge an, man hat andere Gesprächsinhalte. Ich habe aber gar nicht das Bedürfnis neue Leute kennenzulernen“, erzählt Nils.

Bei großen Menschenmassen, wie auf Festen, Partys und Konzerten, steht er nicht gerne im Mittelpunkt, er fühlt sich dabei etwas beklemmt und unwohl. Doch auf der Arbeit trägt er viel Verantwortung und muss als Projektleiter oft vor Publikum sprechen oder Vorträge vor renommierten Fachleuten halten. Für ihn stellen diese Situationen kein Hindernis dar. Nils unterscheidet zwischen privat und professionell, „und bei professionell stelle ich mir nicht die Frage, ob ich es jetzt tue oder nicht, sondern es muss einfach getan werden. Das ist für mich der Hauptunterschied, da ist die Motivation eine andere.“ Vorträge halten, Networking betreiben, über Geschäftliches reden. Als Introvertierter wie Nils alles kein Problem. Wenn aber auf einer Party viele betrunkene Menschen sind und zudem noch schlechte Musik läuft. „Da meinen Leute sagen zu müssen, hey, hab’ doch mal gute Laune, jetzt guck’ doch nicht so grimmig und hab’ doch auch mal Spaß, dann ist es sehr schwer für mich da rauszukommen. Viele Leute denken da, sie müssten mich mitziehen. Dabei will ich nur meine Ruhe und mein Wasser trinken“.

In der Vorstellung vieler Menschen seien Introvertierte grundsätzlich bemitleidenswerte Menschen. Es gibt zwar auch unglückliche Introvertierte, dann aber meist aus anderen Gründen oder weil die Introversion selbst vom Umfeld nicht erwünscht ist und deshalb soziale Ablehnung hervorruft. Dennoch bilden Introvertierte keine soziale Minderheit. Je nachdem, in welchem Land sie leben und ab welchem Grad der Abwesenheit von Extroversion man überhaupt von Introversion sprechen möchte, können sie sogar die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen. Introvertierte verfügen über Stärken: Viele von ihnen denken mehr und intensiver nach als Extrovertierte, bevor sie Entscheidungen treffen. Ihre Distanziertheit, Behutsamkeit und Ernsthaftigkeit machen sie mitunter zu besonders guten Wissenschaftlern, Priestern oder Journalisten, so Asendorpf.

Schüchternheit

Schüchternheit hat es nicht in die Big Five geschafft und doch ist sie dort irgendwo zu verorten. Viele Forscher zählen sie zur Extroversion. Für Asendorpf und viele seiner Kollegen aber liegt sie „quer“ zu Extroversion und Neurotizismus, einer Neigung zu emotionaler Labilität und von Asendorpf als „Disposition zu übermäßiger Besorgtheit“ definiert. „Hohe Schüchternheit wäre hoher Neurotizismus plus hohe Introversion und niedrige Schüchternheit eben Extroversion plus niedriger Neurotizismus“. Schüchterne zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie in ihrer Besorgtheit allzu leicht gehemmt sind. Sei es innerhalb von sozialen Gruppen oder bei romantischen oder sexuellen Beziehungen. Asendorpf hat eine Zweifaktorentheorie entwickelt und mit vielen empirischen Untersuchungen untermauert. Demnach kann Schüchternheit auf einem Temperamentsmerkmal beruhen, also angeboren sein, sich dann aber durch häufig erlittene soziale Ablehnung verstärken oder durch positive Erlebnisse auch abschwächen.

Das Arbeitsleben als Schüchterne

Auf die Frage, ob meine Cousine introvertiert, schüchtern oder hochsensibel sei, meint sie „nur meine Haut ist hochsensibel“. Ihr Grinsen verschwindet, als sie sich an ihre Schulzeit zurückerinnert. Damals fiel es Lin* schwer, in größeren Diskussionen zu Wort zu kommen, sie wurde von ihren Mitschülern immer als schüchtern gebrandmarkt, mit der man nicht gerne abhängt, weil sie nie etwas sagt. Innerhalb ihres Freundeskreises kann sie ausgelassener reden, weil sie sich in einem geschützten sozialen Umfeld befindet. Ihre sozialen Kontakte beschränken sich auf diesen Kreis; sich auf neue Leute einzulassen bereitet ihr immer noch Probleme. „Aber ich leide nicht darunter. Ganz im Gegenteil. Durch meine Arbeit in der Apotheke mit Kunden, die ihre ganze Wut und ihre Probleme bei mir abladen, habe ich am Ende des Tages gar keine Lust mehr auf Menschen.“ Ihre Kolleginnen beschreiben sie als die innere Ruhe schlechthin, manchmal gehen sie besorgt auf Lin zu und fragen ob alles ok ist, sie sei heute so ruhig. „Ich bin doch immer ruhig, denke ich mir halt“, witzelt Lin. Sie ist sich nicht so sicher, ob sie nun introvertiert oder schüchtern ist. Sie versucht aber in ihrer ruhigen und gelassenen Art auch eine gewisse Stärke gegenüber ihrer Kunden zu sehen, die sich ihr dadurch anvertrauen und gut aufgehoben fühlen, so die Rückmeldungen. „Mit dominanten Personen, die zu sehr das Gespräch lenken, fühle ich mich trotzdem überfordert, weil ich mit meinen eigenen Gedanken nicht hinterherkomme. Bis ich sie ordne und zu Wort kommen könnte, ist mein Gegenüber schon beim nächsten Thema.“ Lin blickt in die Ferne und äußert den Wunsch, dass Menschen sich beim ersten Kennenlernen ihr gegenüber mehr Zeit lassen sollten, statt direkt ein Urteil über sie zu fällen.

Hochsensibilität

Für viele Menschen ist Hochsensibilität mit ihren Vor- und Nachteilen eine intensiv erlebte Realität. In der wissenschaftlichen Psychologie dagegen hat der Ansatz immer noch einen schweren Stand. Aber die Forschung dazu wächst. Elaine Aron, Psychologieprofessorin, trat im Jahr 1996 mit ihrem Buch eine ganze Bewegung los. „The highly sensitive person“ gibt es auch längst in deutscher Übersetzung. Es handelt sich weniger um ein psychologisches als ein physiologisches Phänomen. Für jeden Menschen, so Arons Annahme, gebe es ein Fenster, in dem er Reize von außen optimal verarbeiten kann: eine Spanne von „Gerade noch wahrnehmbar“ bis „Zu viel“. Bei Hochsensiblen liege dieses Fenster am reizarmen Ende. Sie könnten deshalb subtile Signale, die andere Menschen nicht wahrnehmen, gut erfassen, würden aber durch stärkere Signale schon überfordert, wenn andere sich noch völlig wohlfühlen. Auch verarbeiten Hochsensible Umweltreize tiefer und intensiver, was mitunter zu einer kleinen Verzögerung in ihren Reaktionen führe. Hochsensibilität ist damit weder ein Vorteil noch ein Nachteil. Sie bei sich zu erkennen, kann Aron zufolge aber viel Gutes bewirken.

Das Arbeitsleben als hochsensibler Mensch

Es hat viel Zeit gebraucht, bis Nathalie* verstanden hat, was mit ihr los ist. Dies spiegelte sich in ihren Zeugnissen wider. In der Grundschule erhielt sie die Rückmeldung, dass sie sehr abwesend, verträumt und nie bei der Sache war. Auf der Realschule war sie immer Klassenbeste, allerdings soll sie sich mehr unter ihre Mitschüler mischen.  Selbstzweifel begleiteten sie durch ihr Leben, und sie stellte sich immer die Frage, was mit ihr nicht stimmt. In einer Verhaltenstherapie kam die Aufarbeitung ihrer Innenwelt. Große Menschenmengen, intensiver Kontakt mit Menschen erschöpft sie extrem. Nicht nur mit Menschen, sondern auch mit Lautstärken, Eindrücken, intensive Erlebnisse. „Eine Reizüberflutung fühlt sich ein bisschen an wie eine Panikattacke. Eine starke Unruhe überrollt mich und ich habe das Gefühl der Situation entfliehen zu müssen. In Extremsituationen hilft nur eine Augenbinde sowie Oropax.“ Die Konsequenz daraus ist, dass sie ihr Leben danach ausrichten muss. Mit ihren besten Freunden plant sie nur kurze Treffen. Sobald ihr Reizlevel überstiegen und ihre Batterie leer ist, braucht sie 13 bis 15 Stunden Schlaf, um sich zu regenerieren.

Auch ihre Karriere blieb davon nicht unberührt. Nathalie hatte in ihren 40 Jahren schon sieben verschiedene Festanstellungen. Heute ist sie als Projektassistenz im Eventbereich tätig. Das war nicht immer der Fall. Dominante Führungskräfte hatten oft eine starke Vorstellung davon, was richtig und falsch ist, um ganz oben auf der Karriereleiter anzukommen. Ihre Art gehörte nicht dazu. Sie ist immer unter den Radar gefallen. Stellen mit wenigen Schnittpunkten zu anderen Kollegen waren daher unvorteilhaft. Die Konsequenz daraus war, dass sie nie präsent genug war, um bei Gehaltserhöhungen in Frage zu kommen. Sie versucht einen Job zu finden, der auf ihre Bedürfnisse abgestimmt ist. Dies gelang ihr nur über viel Reflektion und Selbstakzeptanz. Sie entschied sich bewusst für einen Job am Telefon. So kann sie den vielen Kundenkontakt beibehalten – nur aus einer gewissen Distanz. „Ich wünsche mir eine aufgeschlossenere Gesellschaft. In Stellenbeschreibungen merkt man oft, dass die Arbeitswelt einem vermittelt, man soll extrovertiert sein. Wenn es nur extrovertierte Menschen gäbe, kommen sie sich doch alle in die Quere.“

Auch Thomas* beschreibt sich als hochsensibel. Er arbeitet in einem Großunternehmen. Durch seine starke Wahrnehmung von Reizen ist es fast unmöglich für ihn konzentriert im Großraumbüro zu arbeiten. Neben Telefongesprächen der Kollegen und Tippgeräuschen der Tastatur wird er zu schnell abgelenkt und aus seinen Gedanken herausgerissen. Umso dankbarer ist er für die flexiblen Arbeitsmöglichkeiten, wie von zu Hause aus zu arbeiten. Jeden Vormittag arbeitet er im Home-Office, mittags ist er im Büro für persönliche Meetings mit den Kollegen. Seit einiger Zeit kann er auch mit Kopfhörern im Großraumbüro arbeiten. Er kam auf die Idee weißes Rauschen zu generieren und es über die Kopfhörer während der Arbeit ablaufen zu lassen. Der Vorteil daran ist, dass bestimmte Frequenzen überdeckt werden. Das Rauschen hört sich an wie eine Flugzeugturbine, Frequenzen wie Sprache werden herausgefiltert. Dabei kann er besser abschalten und fokussiert arbeiten. „Sprache triggert immer eine gewisse Informationsverarbeitung im Gehirn. Das kostet Aufmerksamkeit. Fremdsprachen umso mehr. „Manche Kollegen finden die Idee interessant, andere halten mich für verrückt,“ erzählt er. Thomas schafft sich mit seiner Hochsensibilität einen Rahmen, in dem er effizient arbeiten kann.

Für mich wird nun einiges klarer. In einer idealen Arbeitswelt sollte es nicht darum gehen, wer am lautesten schreit. Sie braucht geschulte Führungskräfte und Leiter, die die Stärken und Schwächen ihrer Mitarbeiter kennen und sie gezielt einsetzen. Sie braucht neben Home-Office und Free Seating flexiblere Arbeitsmodelle und -atmosphären für alle. Mehr Rückzugsorte für konzentriertes und stilles Arbeiten wie zu Zeiten von Klausuren und Prüfungen. Aber auch Orte für Meetings und Diskussionen. Jedes Unternehmen sollte eine eigene Kultur etablieren, in der Anders sein nicht verpönt wird. Es sollte ein Bewusstsein geschaffen werden für einen offeneren Umgang mit Bedürfnissen und Wünschen. Nicht nur für Extrovertierte, sondern auch für schüchterne, introvertierte und hochsensible Menschen.

*Namen wurde auf Wunsch der interviewten Personen geändert

 


Mehr zum Thema und weitere spannende Beiträge gibt es auf unserem Blog Under Construction. Außerdem halten wir unsere Leserinnen und Leser auf Facebook und Instagram auf dem Laufenden.

„Das kann ich auch noch morgen machen.“ – Prokrastination ist das Aufschieben wichtiger Aufgaben und betrifft vor allem junge Menschen. Die Art und Weise, wie wir unsere Hängepartien verbringen, ist dabei eine Kunst für sich. Wie wir heutzutage prokrastinieren, wann wir von pathologischer Prokrastination sprechen und warum der Hang zur Aufschieberitis nicht immer schlecht sein muss, verraten uns leidenschaftliche Wissenschaftler und Prokrastinierer.

Weiterlesen

Wenn du zu viel arbeitest, die Arbeit dich auslaugt und du vor lauter Belastung keine Aussicht auf Entlastung siehst: Früher nannte man das eine Erschöpfungs-Depression, heute reden wir von Burnout. Weiterlesen

Wenn Arbeit massiv unterfordert, kann das krankmachen. Boreout nennt man dieses noch recht unbekannte Phänomen. Warum es jeden treffen kann, was Boreout mit Burnout zu tun hat und warum Aufklärung so wichtig ist, erklärt uns Sabrina Betz, Heilpraktikerin für Psychotherapie. Weiterlesen