Ihr glaubt, die Traumwelten blinder und sehbehinderter Menschen sind trist und formlos? Weit gefehlt. Auch geburtsblinde oder erst im Laufe des Lebens erblindete Menschen verarbeiten ihre täglichen Emotionen und Erlebnisse im Schlaf. Ob mit oder ohne Sehsinn – Träume von blinden und sehbehinderten Menschen sind facettenreicher, als man denkt.

Blindes Träumen stellt Außenstehende meist vor große Rätsel. Sehende können sich nur schwer vorstellen, dass der Sehsinn durch Sinne wie das Riechen, Schmecken, Hören und Fühlen im Traum ersetzt wird und auch auf diese Weise Handlungen entstehen können. Auch für Betroffene, die erst im Laufe ihres Lebens erblindet sind und sehendes Träumen davor kennengelernt haben, ist dies eine gewaltige Umstellung. Sie begeben sich auf neue Wege und damit in eine etwas andere Traumwelt. Drei blinde Frauen haben uns von ihren Erlebnissen erzählt und erklärt, was sie in ihren Träumen wahrnehmen.

Träumen mit allmählich voranschreitender Erblindung

Wichtig ist zunächst die Unterscheidung, ob die jeweilige Person von Geburt an blind ist oder ob sie erst nach und nach durch eine Krankheit ihr Augenlicht verloren hat. Im Laufe des Lebens erblindete Menschen berichten von Eindrücken, die sich vor ihrem inneren Auge abspielen und die sie nun nicht mehr zuordnen können. Die Beschreibungen dieser Eindrücke sind vor allem deshalb so schwierig, weil die Erinnerung an Farben, Formen oder an die Wahrnehmung von hell und dunkel allmählich verblasst. Das sehende Träumen bleibt diesen Personen meist noch eine ganze Weile erhalten und ist daher zeitversetzt mit der eigentlichen Erblindung im Wachzustand. Da die optischen Signale für die Sehnerven abnehmen und der Gebrauch von anderen Sinnen stärker wird, bildet sich das Sehen im Traum mit der Zeit zurück, bis es schließlich vollständig verschwindet.

Träume bei geburtsblinden Menschen

Menschen, die von Geburt an blind sind, verfügen meist über keine bis wenig Visualität in ihren Träumen. Das, was hier an Eindrücken verarbeitet wird, erfolgt oft über die Sinne, die blinde Menschen im Alltag am intensivsten beanspruchen. Dennoch ist es nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass geburtsblinde Menschen in Bildern träumen. Möglich sind vor allem bei minimalen Sehrestwerten Repräsentationen von sehr intensiv erlebten Begegnungen oder Wahrnehmungen von Orten, für die ein sehr gutes Gefühl der räumlichen Anordnung nachempfunden werden konnte. Hierbei ist es möglich, dass geburtsblinde Menschen über die anderen Sinneskanäle die nötigen Informationen und Merkmale herausfiltern, sodass das Gehirn beginnt einen optischen Eindruck zu erzeugen.

Nachgestellte Sicht im Traum von Luisa Grube. © Viktoria Boll

Eine Para-Alpin-Skifahrerin über ihre Träume

Schaut man sich den Instagram-Feed von Para-Alpin-Skifahrerin Luisa Grube an, fällt es schwer zu glauben, dass sie von Geburt an nur über eine Sehkraft von gerade mal zwei Prozent verfügt. Sie gilt gesetzlich als blind, lässt sich davon aber keinesfalls einschränken. Ganz im Gegenteil: Als blinde Person eine Skipiste herunter düsen, ist ganz schön beeindruckend. Das, was sie sieht, nimmt sie über einen Tunnelblick wahr, erklärt sie im Interview. Am Ende des Tunnels sieht sie nur noch verschwommen, als würden sich die Objekte hinter einem Milchglas befinden. Luisa träumt so, wie sie auch ihre Realität wahrnimmt, dadurch fühlt und hört sie auch in ihren Träumen. „Ich kenne meine Umwelt nicht anders und kann deshalb auch nicht anders träumen“, so Grube.

Sehend träumen, trotz Blindheit

Bloggerin Julia nimmt ihre Instagram-Follower*innen mit auf die Reise in die Blindheit. Im Jahre 2017 wurde ihr eine unheilbare Netzhauterkrankung diagnostiziert. Heute gilt sie mit 26 Jahren gesetzlich als blind. Allerdings kann auch sie den verbleibenden Sehrest nutzen. Sie ist daher nicht geburtsblind und träumt auch heute noch meistens sehend. Obwohl sie im Laufe ihres Lebens erblindet ist, kann sie in ihren Träumen weiterhin alle Formen scharf wahrnehmen. Ab und an träumt Julia auch blind. In diesen Träumen hört sie dann sehr viel. Sinne wie das Riechen und Schmecken sind in ihren Träumen bisher noch nicht aufgetreten.

Ohne Blindenstock durch die Traumwelt

Jennifer Sonntag, Autorin, Journalistin und Kuratorin, setzt sich in und außerhalb der sozialen Medien für ein barrierefreies Leben ein. Mit dabei ihr Blindenführhund Paul. Auch sie erblindete aufgrund einer Netzhauterkrankung. Auf ihrem Blog „Blind verstehen“ nimmt sie ihre Leser*innen mit in ihre Traumwelt. „Mein Unterbewusstsein versetzt mich innerhalb meiner Traumwelten in den Zustand vor meiner Blindheit zurück“, so Sonntag. Somit bleibt ihr das Sehen zumindest im Traum ansatzweise erhalten.

Farben und Formen treten in den Hintergrund. Gedanken und Gespräche dominieren allmählich die Träume blinder und sehbehinderter Menschen. © Viktoria Boll

Wiederkehrende Traummotive

Jennifer Sonntag erzählt in ihrem Blogbeitrag, dass sie sich in ihren Träumen manchmal als „kleines Mädchen“ sieht, das „in der Schule“ sitzt. In einem anderen wiederkehrenden Traumbild sieht sie sich in „Modeboutiquen“. Sie kann die „Kleidungsstücke“ als Objekte wahrnehmen, die farbliche Zuordnung hingegen ist nicht mehr möglich. „Da das Sehzentrum des Gehirns nicht mehr regelmäßig für die Verwertung von Seheindrücken gebraucht wird, verblassen auch die visuellen Erinnerungen“, so Sonntag. Daher berichten Menschen, die erst sehr spät erblindet sind, dass sie in ihren Träumen beispielsweise nur noch schwarz-weiß sehen. Schwinden die visuellen Eindrücke in den Träumen, so treten neben den Sinneseindrücken Gespräche oder intensive Gedankengänge vermehrt in den Vordergrund.

„Der brennende Baum“

Traummotiv „Der brennende Baum“ von Jennifer Sonntag. © Jennifer Sonntag

Ein Traummotiv, das Jennifer Sonntag vor allem in der Zeit begleitete, in der sie Farben und Konturen zu verlieren begann, ist „Der brennende Baum“. Gemeinsam mit einem sehenden Partner visualisierte sie dieses wiederkehrende und wichtige Traummotiv. 
„Es hat etwas Zerstörerisches, da ich einen wichtigen Sinn verlor, aber inzwischen wächst da neues Grün, ein neuer Baum, vor meinem inneren Auge. Letztlich ist die Blindheit gar nicht zerstörerisch, nur die Angst davor war es. Also birgt das Bild auch den Neuanfang“.

Die Schilderungen der Träume dieser drei Frauen decken sicherlich nicht die gesamte Traumwelt von blinden und sehbehinderten Menschen ab. Dennoch zeigt dieser Einblick, wie spannend und vielfältig das blinde Träumen sein kann und welche neue Sinnessphären sich für Betroffene eröffnen, die sehenden Menschen meist verwehrt bleiben.

Titelbild: © Unsplash

Carl Gustav Jung Archetypen

Was passiert, wenn wir träumen – und warum? Die Theorien reichen von Spekulationen über Geisterwelten und parallele Dimensionen bis hin zur nüchternen Reduktion des Traums auf ein neuronales Nebenprodukt. Zwischen diesen Extremen stellt das Traumverständnis von Carl Gustav Jung eine interessante Alternative dar: Im Traum sieht der Begründer der analytischen Psychologie den Schlüssel zur Selbstverwirklichung. 

„Sex sells“ heißt es ja bekanntlich, und für Sigmund Freud ist diese Formel aufgegangen: Der Psychoanalytiker und seine libido-orientierten Theorien sind den meisten Menschen ein Begriff. Weniger bekannt, aber nicht minder bedeutsam für die moderne Psychologie ist ein ehemaliger Schüler und Vertrauter Freuds: Carl Gustav Jung. Besonders fasziniert war der Schweizer von Ausnahmezuständen des menschlichen Bewusstseins, wie sie sich in Psychosen, scheinbar paranormalen Erlebnissen oder eben im Traum ausdrücken. Im Gegensatz zu vielen Forschenden war es jedoch nicht sein Anliegen, diese Phänomene  als irrelevant oder unsinnig „abzustempeln“. Jung nahm das Rätselhafte ernst.

Kronprinz der Psychoanalyse

Sigmund Freud (vorne links) mit C.G. Jung (vorne rechts). (Quelle: Wikimedia Commons.)

Ein 13-stündiger Podcast: So kann man sich das erste Treffen zwischen Carl Gustav Jung und Sigmund Freud in Wien vorstellen. Auf das gesprächsintensive Kennenlernen im Jahr 1907 folgte ein reger intellektueller Austausch. In Jung sah Freud einen würdigen Nachfolger, bezeichnete ihn sogar als „Kronprinzen der Psychoanalyse“. Beide waren an der Erforschung des Unbewussten interessiert – also den Aspekten der Psyche, die dem Ich-Bewusstsein unzugänglich sind, aber dennoch sein Fühlen und Handeln mitbestimmen.

Doch allmählich kristallisieren sich Differenzen zwischen den beiden heraus: Jung kritisierte die Vorrangstellung des Sexualtriebs in Freuds Lehre, während Freud Jungs Faszination für das Paranormale ablehnte1913 führten diese Meinungsverschiedenheiten schließlich zum Bruch zwischen den Gelehrten. Jung entschied sich gegen das Erbe Freuds und begründete seine eigene Schule – die analytische Psychologie 

Traumdeutung bei Jung und Freud

Auch in der Traumdeutung gehen Freud und Jung von einem ähnlichen Ansatz aus, bewegen sich aber dann in verschiedene Richtungen. Beide sehen im Traum einen bedeutsamen Mechanismus des Unbewussten und glauben, dass die Traumanalyse zu positiven psychologischen Transformationen führen könnenWas aber die Funktion des Traumes ausmacht und wie sich  Traumbotschaften entfalten – darin scheiden sich die Geister Jungs und Freuds. Für Freud drücken Träume Wünsche aus – oftmals auch geheime Wünsche, die vom inneren „Zensor“ des Individuums unterdrückt werden. Um der Zensur zu entgehen, tauchen diese Wünsche versteckt in Träumen auf. Jung dagegen glaubt nicht an das Versteckspiel der Träume, im Gegenteil: Im Traum spricht für ihn das Unbewusste direkt zum Menschen.  

Botschaften aus dem Inneren

Stell dir vor, du fährst auf der Autobahn. Plötzlich leuchtet ein Warnsignal in deinem Wagen auf. Es ist nichts Schlimmes – das Kühlmittel muss nur wieder nachgefüllt werden. Trotzdem solltest du dieses Zeichen lieber nicht ignorieren. In ähnlicher Weise interpretiert Jung die Funktion des Traums: Träume sind ein Feedback der Psyche an das Ich-Bewusstsein. Dieser bewusste Teil der Persönlichkeit, auch Ego genannt, stellt nach Jung lediglich einen Teil des Individuums dar. Wie der Fahrer navigiert sich das Ego durch den Alltag, ist sich aber oft nicht der inneren Mechanismen des Körpers und Geistes bewusst – ebenso wie ein Fahrer nicht immer genau weiß, was sich unter der Motorhaube seines Autos abspielt.

Hier kommen die Träume ins Spiel: Wie Warn- und Fehlersignale machen sie den Menschen auf psychische Ungleichgewichte und Störfaktoren aufmerksam. Diese inneren Botschaften sind nicht zwangsläufig große Offenbarungen. Jung unterscheidet zwischen „kleinen Träumen“, die sich mit alltäglichen Problemen beschäftigen, und dem „großen Traum“, der an kritischen Wendepunkten im Leben auftaucht.  

Der Keller unter dem Keller: das kollektive Unbewusste

Carl Gustav Jung (Quelle: Wikimedia Commons)

Auch Jung selbst hatte solch einen „großen Traum“: Er träumte, er sei in einem mehrstöckigen Haus. Zunächst befand er sich in einem prachtvoll eingerichteten Salon im oberen Stockwerk. Als er ins Erdgeschoss hinunterging, schien dort alles dunkler und älter, die Wände und Möbel wirkten mittelalterlich. Neugierig beschloss er, den Rest des Hauses zu erkunden und stieg in den Keller hinab – wo sich uraltes römisches Gemäuer über ihm wölbte. Doch das war noch nicht alles: Auf dem Kellerboden entdeckte er eine Platte mit einem Ring. Er zog daran und enthüllte wiederum eine Treppe, die in eine noch tiefere Ebene des Hauses führte.

Dieser schicksalhafte Traum inspirierte Jung zu seiner zentralen These: Unterhalb des persönlichen Unbewussten gebe es noch eine tiefere, instinktive, archaische Ebene der Psyche – das kollektive Unbewusste. Diese Ebene existiert in jedem Menschen, unabhängig von seinem Charakter und seiner Herkunft. Träume können sowohl dem „ordentlichen Obergeschoss“ entspringen – also der individuellen Psyche – als auch dem „Keller im Keller“. In dieser Untiefe der Menschheitsseele werden die ewigen Probleme der eigenen Spezies aufgegriffen. Solche kollektiven Träume und Symbole bezeichnet Jung als „archetypisch“.  

Die Sprache der Träume lernen

Doch woher weiß ich, welche Botschaft mir der Traum vermitteln will? Wie kann ich herausfinden, ob ich im Traum die archetypische Angst vor dem Tod oder bloß die typisch studentische Angst vor Deadlines verarbeite? Warnsignale im Auto sind meist eindeutig, was man von Träumen nicht gerade behaupten kann. Wenn Träume also Mitteilungen sind, wieso sind sie so verworren? Nach Jung liegt es nicht daran, dass Träume etwas verbergen. Sie teilen dem Träumenden etwas laut und deutlich mit – nur eben in ihrer eigenen Sprache. Träume arbeiten in einem anderen Modus als das rationale Alltagsbewusstsein, ebenso wie Dichter*innen sich anders ausdrücken als Wissenschaftler*innen.  

Werde, wer du bist – die Individuation

Carl Gustav Jung zufolge sprechen im Traum die verborgenen Facetten der Psyche zum Menschen. Doch wieso sollte der Mensch überhaupt zuhören? Für Jung war der Traum vor allem als Hilfsmittel im Prozess der Individuation von Bedeutung. Individuation bedeutet „zu werden, wer man ist“ – also sein volles inneres Potenzial auszuschöpfen. Darin sah Jung das höchste Ziel des Menschen. Das Individuum erreicht dieses Optimum, indem es die Polarität innerhalb der eigenen Psyche – das Persönliche und das Kollektive, das Männliche und das Weibliche, das Licht und den Schatten – zu einem harmonischen und authentischen Ganzen vereint. Für Jung sind Träume also Wegweiser auf der Reise zum Selbst. Wann und ob man ans Ziel kommt, kann einem niemand verraten. Die letzte und wichtigste Medaille verleiht sich das Individuum selbst.  

Die Medaille der Individuation muss sich jeder selbst verleihen – in diesem Sinne ist dies ein sehr archetypisches Meme.  (Quelle: Knowyourmeme.com)

 

 

 

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Kopf mit bunter Wolke Träume

 

Ein Schlag, ein kreischendes Geräusch, Metall auf Metall. Die Schwerkraft scheint aufgehoben, oben ist unten und unten ist oben. Der Gestank nach Benzin. Ein furchtbarer Schmerz. Stille. Immer derselbe Alptraum. So kann es Menschen gehen, die mit Traumata zu kämpfen haben. Über den Zusammenhang von Alpträumen und Traumata haben wir mit einer Traumatherapeutin gesprochen.

„Manchmal fühle ich mich ein bisschen wie Sherlock Holmes“, sagt Almute Nischak, studierte Tübinger Ethnologin. Seit mehr als zehn Jahren arbeitet sie als Traumatherapeutin mit dem Schwerpunkt dissoziative Störungen. Als Quereinsteigerin gelangte sie über die Biographieforschung und die systemische Familientherapie zur Traumatherapie. „Ich schaue gemeinsam mit den Klient*innen, zu welchen Symptomen die erlebte Traumatisierung geführt hat und begleite sie dann in der Aufarbeitung des Erlebten.“

Alpträume können dabei ein Hinweis unter vielen anderen sein. Auch Erinnerungen, die tagsüber von der Ablenkung des Alltags unterdrückt werden, doch in der Nacht die Träume infiltrieren. Dies können unter anderem einzelne Szenen, Erinnerungsfetzen oder Gefühle der Bedrohung sein. Der Alptraum am Tag kann dabei zum Alptraum der Nacht werden: „Zum Einschlafen muss sich das Bewusstsein zurückziehen und damit fällt eine wichtige Kontrollinstanz weg. Wenn etwas unterdrückt wird, kann das hochploppen“, erklärt die Therapeutin. Das Wegfallen der Kontrolle durch unser Bewusstsein ist für traumatisierte Menschen oft schwierig, denn einzuschlafen erfordert auch das Vertrauen, gut durch die Nacht zu kommen und wieder aufzuwachen.

Trauma ist nicht gleich Trauma

Traumata können ganz unterschiedlich aussehen. Sobald ein Punkt der Bedrohung erreicht sei, erklärt Nischak, der extrem zu viel sei und die menschlichen Bewältigungsmöglichkeiten radikal überfordere, schalte der Körper auf einen Notfallmodus um: fliehen oder kämpfen. Dabei ist auch das traumatisch wirkende Ereignis von Bedeutung, aber vor allem die Vulnerabilität der Person. Diese kann abhängig sein von Alter, Geschlecht, Vorerfahrungen oder der Biographie. Ist weder fliehen noch kämpfen in dieser Situation möglich, erstarren wir unwillkürlich. Traumata haben viele Gesichter, sind mal laut und mal ganz leise: Vergewaltigung, Unfälle oder auch katastrophale Naturereignisse können genauso traumatisierend wirken wie extreme Vernachlässigung oder Verwahrlosung. Traumatisierungen können zu jedem Zeitpunkt im Leben eines Menschen passieren, auch im Mutterbauch.

Alpträume gehören zur Symptomgruppe der Intrusionen, erklärt Nischak. Das sind unwillkürlich einschießende Bilder, Erinnerungsfetzen oder auch Körperwahrnehmungen aus dem traumatisch Erlebten, ausgelöst durch äußere oder innere Schlüsselreize. Das Gehirn verarbeite nachts, was es tagsüber oder auch früher erlebt hat. Dabei können die Alpträume in seltenen Fällen ein Flashback darstellen. Darunter versteht Nischak ein Erinnerungsbruchstück, eine Körpererinnerung, die zum Zeitpunkt der Traumatisierung teilweise eins zu eins abgespeichert wurde und unwillkürlich Einfluss nimmt auf die Person – wie auch auf ihre Träume: „Bei Kindern sind es häufig Kinderperspektiven, aus denen das Geschehene gesehen wurde. Der Moment der Traumatisierung wird abgespeichert, wie er in dem Entwicklungsstand wahrgenommen wurde.“ Wichtig sei aber: Wer Alpträume hat, hat nicht zwangsläufig ein Trauma erlebt.

Detektivarbeit am Alptraum 

Almute Nischak erzählt von einer Frau, deren Erinnerung an mehrfache Vergewaltigungen als Kind erst über Träume an die Oberfläche des Bewusstseins kamen:

„Sie zeigte die für eine Posttraumatische Belastungsstörung relevanten Symptome, konnte sich aber nicht an alle traumatisierenden Ereignisse erinnern. Im Laufe des therapeutischen Prozesses erhielt sie über ihre Träume Hinweise, was noch geschehen war.“

Alpträume können dabei Gefühle der Angst, des Schreckens, des Ausgeliefertseins, der Ohnmacht und des Feststeckens im Alptraum widerspiegeln. „Manche Menschen merken auch, dass sie träumen, sie sind sich dessen bewusst und versuchen sich aus dem Alptraum rauszukämpfen. Weil es im Traum so unerträglich ist.“

Den Alptraum umschreiben

Eine Technik der Traumatherapie kann das Umschreiben von (Alp-)Träumen sein. Dabei schreiben die im Fachjargon sogenannten Klient*innen zuerst ihre Träume auf: „Dann fokussieren wir uns auf den ohnmächtigen, peinigenden Part“, erklärt Nischak. „Trauma heißt meist, dass etwas nicht vollendet, etwas stecken geblieben ist. Durch das Umdeuten und Umschreiben dieses Parts holt sich der Mensch aus der passiven Rolle in die Aktivität, in das Handeln.“ Das ist allerdings nicht ganz einfach und erfordert viel Geduld und Übung. Ein anderer Weg, mit Alpträumen zu arbeiten, ist das klassische Traumtagebuch.

Was der Traumatherapeutin an ihrem Beruf besonders gefällt? „Für mich ist es jedes Mal ein dankbares Gefühl, dass meine Klient*innen sich so öffnen, obwohl sie Schlimmes erlebt haben. Es ist ein unglaublich zufriedenstellendes Erlebnis, wenn Menschen dann mit sich in Kontakt kommen und mit der Zeit wieder Herr oder Frau im eigenen Haus werden.“ So kann der Alptraum ein Ende finden – am Tag und in der Nacht.

Titelbild: © Pixabay

 

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Kopf mit bunter Wolke Träume

Schon öfter mal dasselbe geträumt? Oder wiederkehrende Traumszenen mit neuen Charakteren und Handlungssträngen erlebt? Wie bei einer Seifenoper bastelt sich das Unterbewusstsein gerne Wiederholungen zusammen, gerne auch dramatisch: immer wieder gejagt werden, aus der Höhe fallen oder die Kontrolle über ein Fahrzeug verlieren. Woher kommt es, dass so viele Menschen wiederkehrende Träume haben? Und was bedeuten sie?

Obwohl wiederkehrende Träume seit langem bekannt sind, hat sich die Forschung noch relativ wenig um deren Ursachen, Entstehungsbedingungen, Häufigkeit und Inhalte gekümmert. Und wenn, dann haben Traumforscher*innen auch unterschiedliche Interpretationen von wiederkehrenden Träumen: In der psychotherapeutischen Gestalttherapie zum Beispiel werden wiederkehrende Träume als Ausdruck des aktuellen psychischen Ungleichgewichts eines Individuums angesehen. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud betrachtete wiederkehrende Träume als Ausdruck eines neurotischen Wiederholungszwanges. Carl Gustav Jung wiederum glaubte, dass wiederkehrende Träume nicht nur auf das Vorhandensein eines psychischen Konflikts hinweisen, sondern dass sie auch „von besonderer Bedeutung für die Integration der Psyche“ sind. Die beiden Granden der Psychoanalyse stimmen jedoch zumindest darin überein, dass wiederkehrende Träume mit ungelösten Schwierigkeiten im Leben des Träumenden zu tun haben.

Liegt es am eigenen Wohlbefinden?

Ronald Brown und Don Donderi von der McGill Universität in Kanada untersuchten speziell den Zusammenhang von wiederkehrenden Träumen mit dem Wohlbefinden. Die Ergebnisse zeigen: Die Gruppe von Personen mit wiederkehrenden Träumen berichtete über ein geringeres Maß an Wohlbefindens als die Gruppe ohne solche Träume. Zum Beispiel seien Menschen, die häufig träumen, weniger anpassungsfähig in Bezug auf Angst, Depression, persönliche Anpassung und Stress durch Lebensereignisse. Nicht nur das, die sogenannten ‚rekurrenten‘ Träumer*innen träumten häufiger von Angst, Feindseligkeit, Versagen und Unglücksfällen.

Laut einer Studie der Harvard University aus dem Jahr 2014 treten wiederkehrende Träume bei 60 bis 75 Prozent der Erwachsenen auf und sind bei Frauen häufiger als bei Männern. Zu den häufigen Themen gehören unter anderem: angegriffen oder gejagt werden, fliegen, fallen, gefangen sein, zu spät kommen, einen Test verpassen oder durchfallen, die Kontrolle über ein Auto verlieren, einen Zahn verlieren und nackt sein.

Sich mit Ängsten und Unsicherheiten konfrontieren

Können wiederkehrende Träume eigenständig gelindert oder beseitigt werden? Bis jetzt gibt es keine einheitliche und klare wissenschaftliche Methode, aber Wissenschaftler*innen und Experten*innen haben einige solide Vorschläge. Eine kalifornische Gesundheits- und Therapie-Webseite rät, ein Schlaftagebuch zu führen, um so viele Informationen wie möglich über die eigenen Träume zu sammeln. Dies wird dabei helfen, die tieferen Gründe zu erforschen, warum diese Träume erscheinen. Wie das berühmte Sprichwort sagt: „Sich selbst zu kennen ist der Anfang der Weisheit“. Letztlich sind es wir selbst, die auf Entdeckungsreise gehen.

Im nächsten Schritt geht es darum, den wiederkehrenden Traum zu analysieren und herauszufinden, was uns der Traum sagen will, welche Bedeutung also hinter ihm steckt. Sun Tzu, ein chinesischer Militärstratege, Schriftsteller und Philosoph, sagte einmal: „Wenn man den Feind kennt und sich selbst kennt, braucht man das Ergebnis von hundert Schlachten nicht zu fürchten“. Dies gilt auch für den wiederkehrenden Traum. Wie wir wissen, können wiederkehrende Träume von ungelösten Problemen im Leben ausgelöst werden. Um sie zu verstehen, muss man also die eigenen versteckten Ängste, Unsicherheiten oder negativen Emotionen kennen, die Probleme verursachen können. Und darüber nachdenken, was einen im Moment stresst oder aufregt. Vielleicht muss man sogar tief in der Vergangenheit graben, um herauszufinden, ob es Traumata gibt, mit denen man sich noch nicht auseinandergesetzt hat. Danach ist es an der Zeit, die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen. Es ist sinnvoll Schritte zu ergreifen, um die Probleme in eigenen Leben zu lösen und den Stress zu bewältigen, egal ob es sich um die Arbeit, eine Beziehung, den Verlust eines geliebten Menschen oder etwas anderes handelt.

Wiederkehrende Träume können mit versteckten Ängsten, Unsicherheiten und negativen Emotionen zusammenhängen. © Gwendal Cottin on Unsplash

 

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Kopf mit bunter Wolke Träume

 

Träume: Nur absurd-konfuse Bilder vor unseren Augen oder steckt mehr dahinter? Oft fragt man sich, ob diese Nachtgespenster etwas mitteilen wollen. Laut Sigmund Freud tun sie das tatsächlich – zwar nicht als Weissagung über die Zukunft, sondern als Auskunft über uns selbst.

Mit seinem Werk Die Traumdeutung bringt Freud 1899 eine neue Sichtweise in die bestehenden Traumtheorien. Sein Ansatz liegt in der Psychoanalyse: Wenn Menschen schlafen, verarbeitet ihr Unterbewusstsein alle möglichen Reize und Anregungen des Tages, welche dann in Form des Traums an das schlummernde Bewusstsein weitergereicht werden. Als tragendes Motiv der Traumentstehung benennt Freud dabei die ‚Wunscherfüllung‘. Jeder Traum ist laut ihm eine Erfüllung eines Wunsches oder mehrerer Wünsche, was bei manchen Träumen offensichtlich ist und bei anderen nur durch tiefgehende Analyse herausgearbeitet werden kann. Denn unser Geist macht es uns nicht immer leicht, die eigentlichen Gedanken der Traumbilder zu erkennen – sonst wäre die Selbstreflektion wohl zu einfach. Doch was ist der Grund für diese Bilderrätsel im Kopf?

Der innere Kampf gegen sich selbst

Sigmund Freud

Deutete Träume als Tor in unsere Psyche: Sigmund Freud. © Wikimedia-Commons / Max Halberstadt

Freud zufolge sträuben wir uns ganz natürlich gegen gewisse Wünsche und unterdrücken sie, sowohl bewusst als auch unbewusst. Beispiele wären: Sich wünschen, an einer unschönen Situation nicht die Schuld tragen zu müssen. Oder jemandem etwas ‚Schlechtes‘ wünschen. Wenn wir dann schlafen, kommen manche dieser Gedanken wieder ans innere Tageslicht. Das kann man sich so vorstellen, dass in uns eine psychische Instanz das letzte Tagesgeschehen prüft und Anregungen findet, welche im Unterbewusstsein verdrängte Wünsche aufwirbeln. Die Instanz stellt dann den sogenannten ‚latenten Traumgedanken‘ her, der einen Wunsch aufgreift, welcher uns beschäftigt. Doch es gibt laut Freud auch eine zweite psychische Macht, die eine Art Kontrollfunktion ausübt. Wenn der Inhalt des Traumgedankens dieser zweiten Instanz nicht gefällt, wird der Wunsch entsprechend ‚zensiert‘. Der Inhalt des Traums wird dann vertauscht und verkleidet, um verstörende Elemente, die nicht ans Bewusstsein gelangen sollen, herauszufiltern. Diesen Streitprozess der zwei Instanzen nennt Freud die ‚Traumarbeit. Die Traumarbeit überträgt letztlich den latenten Traumgedanken auf einen ‚manifesten Trauminhalt‘, also jene durcheinander gewürfelten, audiovisuellen Bilder, an welche wir uns nach dem Aufwachen erinnern. Dabei bedient sich die erste Instanz einer Menge Tricks, um der Zensur der zweiten Instanz zu entgehen.

Verschiebung: Das Irrelevante im Scheinwerferlicht

Traumarbeit

Freuds Methoden bei der ‚Traumarbeit‘. © Franziska Frank

Um den Traumgedanken nun in entstellter Form so zu verpacken, dass er nicht der Zensur unterliegt, werden insbesondere zwei Methoden bei der Traumarbeit genutzt: Die ‚Verschiebung‘ und die ‚Verdichtung. Verschiebung bedeutet, dass der Fokus des Trauminhalts nicht auf den eigentlichen Kern des Traumgedanken, sondern auf etwas Anderes gesetzt wird. Nebensächliches wird in den Vordergrund gerückt und stattdessen mit dem eigentlichen Traumgedanken assoziiert. Dafür werden laut Freud häufig die Erinnerungen des letzten Tages als Anregung verwendet, da diese noch nicht mit anderen Gedankengängen übermäßig assoziiert wurden und somit ‚frisches‘ Material darstellen. Als Beispiel schildert Freud einen Traum, in welchem er in einer selbstgeschriebenen botanischen Monografie blättert. Hinterher erinnert er sich, tags zuvor ein ähnliches Buch im Schaufenster gesehen und nicht weiter beachtet zu haben. Doch sein Unterbewusstsein habe eine Assoziation hergestellt: Freud hatte vor Jahren einen Aufsatz zur Cocapflanze verfasst, welcher die Aufmerksamkeit eines Doktors erregte und diesen auf die Idee von medizinischer Verwendung von Kokain brachte. Freud erzählt, dass er letztens daran erinnert wurde, als er eine Festschrift der Erfolge des Herrn erhielt. Er fühlt, beim Erfolg des Doktors unberücksichtigt geblieben zu sein. Diese Erinnerung sei der eigentliche Auslöser der Wunscherfüllung – „Ich habe den Erfolg auch verdient“ – aber die Verschiebung habe den neidischen Gedanken entstellt und mit dem gesehenen Buch im Schaufenster verknüpft. Woher kommt die Verbindung? Der Verfasser der Festschrift, welcher Freud begegnete, hieß Gärtner, dessen Frau wurde von Freud als blühend wahrgenommen.

Verdichtung: Eins bedeutet vieles

Die zweite Methode nennt Freud ‚Verdichtung. Das heißt, dass der Traumgedanke mehrmals im Trauminhalt eingewebt wird. Das kann sich in Form von starker Kompression mehrere Assoziationen zeigen. Ein Objekt im Traum kann also vieles auf einmal bedeuten. Zugleich werden einander ähnliche Assoziationen als Einheit zusammengefasst, sodass sich zum Beispiel ‚Mischpersonen‘ bilden. So entstehen komprimierte Trauminhalte, hinter denen eigentlich eine Menge mehr steckt. Freud beschreibt beispielhaft einen Traum, in welchem er eine Mischung der Gesichter seines Onkels und eines Freundes vor sich sieht. In seiner Analyse bewertet er beide Personen als „Schwachköpfe“, was der Wunscherfüllung seines Traumes diente. Die Verdichtung soll also bewirken, dass so viel wie möglich vom mit der Wunschvorstellung verknüpften Inhalt zusammengepresst wird.

Typische Träume und ihre Bedeutung nach Freud
Nacktheit im Traum Hinweis auf unerlaubten Wunsch mit kindlichem Ursprung
Tod von Personen Wunsch nach Abwesenheit mit kindlichem Ursprung
Prüfung im Traum Träumer spürt Verantwortungsdruck, Traum erinnert an bereits gemeisterte Situation
Man kommt nicht von der Stelle Willenskonflikt zu einem Wunsch zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein

Traumdeutung als Königsdisziplin der Psychoanalyse

Freuds Werk „Die Traumdeutung“ mit Plüschtieren auf einem Kopfkissen

Freud ist überzeugt, dass die meisten verdrängten Wünsche in unserer Kindheit begründet werden. © Franziska Frank

Freud zufolge stellen Träume als Wunsch-Erfüller ein Tor in unsere Psyche und eine Möglichkeit dar, uns selbst besser zu verstehen. Das liegt unter anderem an seiner Überzeugung, dass die meisten verdrängten Wünsche in unserer Kindheit begründet werden und uns noch bis ins Erwachsenenalter begleiten. Auch Wünsche, die uns peinlich sind oder heutzutage erschrecken würden. Freud zufolge wäre das zum Beispiel der unerlaubte Wunsch nach sexuellem Verkehr mit einem Elternteil. Er argumentiert, dass solche Wunscherfüllungen dann zu den sogenannten Alpträumen führen, weil ein Interessenskonflikt zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein aufgedeckt wird. Das Bewusstsein erschrickt dann über den Ausdruck des Wunsches.

Freuds Traumtheorie wird bis heute angewendet, diskutiert und kritisiert. Alfred Adler und Carl Gustav Jung, beide jeweils Begründer anderer Gebiete der Psychologie, bemängeln an der Traumdeutung den Fokus auf Sexualität, die laut Freud bei der (oft kindlichen) Wunschentwicklung eine tragende Rolle spielt. Freud spricht auch jedem einzelnen Traum einen Sinn zu, und wenn man die Wunscherfüllung nicht erkennen kann, so liegt es seiner Ansicht nach an einer mangelhaften Deutung. Überprüfbar sind Traumdeutungen letztendlich nicht, da wir keinen Blick in das Unterbewusstsein werfen können.

Aber wer möchte, kann in den nächsten Nächten ja ganz bewusst über seine Träume nachdenken – und sich fragen, ob geheimnisvolle Wünsche dahinter lauern.

Titelbild: © Franziska Frank

 

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Kopf mit bunter Wolke Träume

(@unslpash)

Tagträume sind verpönt. Abschweifen tut man besser heimlich, still und leise. Sollten wir aber nicht, findet zumindest unser Autor. Warum wir unseren Tagträumen guten Gewissens eine Chance geben dürfen.  

35,3 Milliarden Dollar. Stell dir vor, du verfügst bereits mit 38 Jahren über so viel Geld. Du hast nach deinem Studium 15 Jahre gearbeitet, blickst auf einige berufliche Erfolge zurück. Und doch hast du nun beschlossen, dass du dieses Leben erstmal hinter dir lassen möchtest. Was nun? Nimm dir ein wenig Zeit und lass deine Gedanken schweifen. An was denkst du? Würdest du mit dem Geld reisen, dir ein tolles Haus kaufen, es spenden oder möglichst gewinnbringend anlegen? Vielleicht bist du froh, dass du diese Frage nicht beantworten musst. Mit großer Sicherheit aber schweifen deine Gedanken bei solchen Summen ab. Du beginnst zu träumen, verlierst dich im sogenannten Tagtraum. Das möchte übrigens auch der junge Mann tun, der diese 35,3 Milliarden Dollar laut der US-Zeitschrift Forbes auf seinem Konto hat. Yiming Zhang, ein chinesischer IT-Unternehmer, der unter anderem die Plattform TikTok gründete. Mit noch nicht einmal 40 Jahren gehört er zu den reichsten Männern seines Landes. Sein Unternehmen Byte Dance zählt mittlerweile etwa 100.000 Mitarbeiter*innen. Zeit aufzuhören. Oder zumindest kürzer zu treten. Nach eigener Aussage möchte Zhang wieder mehr Zeit ins Tagträumen investieren.

Freud würde schmunzeln

Wie kann sich ein so erfolgreicher Geschäftsmann nun dem Rumphantasieren verschreiben? Ein zufriedener Mensch würde das nicht tun. Womöglich könnte Sigmund Freud so über Zhang urteilen. Der wohl bekannteste Traumforscher sah Tagträume als Korrekturen einer unbefriedigenden Wirklichkeit, als unerfüllte Erfolgsphantasien, für die insbesondere jüngere Menschen anfällig seien. Ein wunschlos glücklicher Mensch, so Freud in seinem Aufsatz Der Dichter und das Phantasieren, brauche sich keinen Tagträumen hinzugeben.

Macht Tagträumen unglücklich?

Über diese Frage wird in zahlreichen Online-Foren eifrig diskutiert. Wenn man sich dieser Kontroverse wissenschaftlich nähert, landet man schnell bei dem Begriff des ‚maladaptiven‘ Tagträumens. Darunter verstehen etwa die israelischen Forscher*innen Nirit Soffer-Dudek und Eli Somer stundenlanges, fantasievolles Tagträumen, was mit dem Vernachlässigen realer Beziehungen und Verantwortlichkeiten einhergeht und zu funktioneller Beeinträchtigung führt. Ihre Studie Trapped in a Daydream sollte im Jahre 2018 Aufschluss darüber geben, welche Menschen für exzessives Tagträumen besonders anfällig sind. Es zeigte sich, dass zwei Drittel der Proband*innen bereits in psychotherapeutischer Behandlung waren und etwa die Hälfte dieser Menschen keine Arbeit hatte. Darüber hinaus war das Phänomen häufig mit anderen, psychopathologischen Krankheitsbildern verknüpft. Maladaptives Tagträumen, das bestätigt diese Studie, ist die Ausnahme. Und doch legen auch Erkenntnisse der Konsumforschung nahe, dass Tagträumen nicht immer ein guter Ratgeber ist. Der Soziologie Mark Lutter untersuchte den Zusammenhang von Tagträumen und Konsum am Beispiel von Lotterien. Seine Befragungsstudie zeigte, dass Spieler*innen, die intensiv in Form von Tagträumen über den scheinbar so greifbaren Lottogewinn nachdenken, häufiger und mit höherem Einsatz Lotto spielen. Warum dann also bewusst Tagträumen und eins werden mit den Glücksspiel-Romantiker*innen?

Mit Tagträumen schneller ans Ziel

Ob Albert Einstein, Woody Allen oder J. K. Rowling wohl auch Lotto gespielt haben? Diese Persönlichkeiten sind nämlich allesamt bekennende Tagträumer*innen. Und bei einem Blick auf deren Lebensläufe liegt die Vermutung nahe, dass aus bewussten Tagträumen geniale Ideen erwachsen können. Etwa 70 Jahre nach Freud setzte der amerikanische Psychologe Jerome L. Singer neue Schwerpunkte. So ist in seinem Buch The inner world of daydreaming zu lesen:

„Daydreaming is perhaps best viewed simply as a kind of capacity or skill in us that is part of our overall repertory of behaviors.“

Tagträumen als Fähigkeit. Diese modernere Sicht auf das gedankliche Umherschweifen wurde in zahlreichen Studien bekräftigt. So zeigt beispielsweise eine Arbeit unter der Leitung von Christine Godwin vom Georgia Institute of Technology, dass Tagträumer*innen ihren gedanklichen Fokus besser steuern können. Zahlreiche Tests im Rahmen ihrer Studie zeigten, dass bei Proband*innen, die zum Tagträumen neigen, Gehirnareale besser miteinander vernetzt sind. Dies wirkte sich wiederum positiv auf gemessene Intelligenz und Kreativität aus. Und mehr noch: Tagträumer*innen kommen schneller ans Ziel. Zumindest behalten sie ihre Wünsche für die Zukunft besser im Blick, wie eine Arbeit des Max-Planck-Instituts in Leipzig offenbart.

Tagträumen als Therapie

Ein Blick über die Berge ins schweizerische Will im Kanton Sankt Gallen zeigt, dass Tagträumen auch eine heilende Wirkung entfalten kann. Bis zum Sommer diesen Jahres gibt es dort im städtischen Museum unter dem Titel Durch die Linse Werke von Künstler*innen des Living Museum zu sehen. Im Living Museum arbeiten Menschen während oder nach ihres Aufenthalts in einer der psychiatrischen Einrichtungen des Kantons. Durch ein einzigartiges Konzept aus Kunst und Kreativität erfahren Patient*innen wichtige Impulse für ihre Regeneration.

Die aktuelle Ausstellung möchte zeigen, wie es den Künstler*innen gelingt, während des Pandemiealltags dem Alltag zu entfliehen. Einmal mehr lautet die Antwort: Tagträumen. Da existieren nämlich „weder Regeln noch Grenzen. Die Gedanken sind nicht nur frei, sie können auch befreien“, gibt Museumsleiterin Rose Ehmann anlässlich der Vernissage dem schweizerischen Tagblatt zu Protokoll. Und diese Befreiung schlägt sich sowohl in knallig-bunten Gemälden wie auch in bisweilen eher düsteren Fotografien nieder. Das interaktive Kunstobjekt „Auf Träumen gebettet“ lädt die Besucher*innen der Ausstellung darüber hinaus dazu ein, ihre Träume auf Notizzetteln festzuhalten und sie auf ein weißes Bettgestell zu kleben. Bereits nach den ersten Wochen der Ausstellung ist dieses Objekt mit Zetteln übersät. Sie haben sich mittlerweile auch rund um das Bett angehäuft. Gewiss kein großer Aufwand.

Jetzt bist du dran!

Was würdest du auf einen solchen Zettel schreiben? Mit Sicherheit sind dir seit Beginn des Textes noch ein paar Tagträume in den Sinn gekommen. Für welchen Tagtraum würdest du dich entscheiden? Vielleicht hast du einen Zettel in greifbarer Nähe und schreibst diesen Traum einfach mal auf ein Blatt Papier. Fühlt es sich gut an, diese Phantasie nun schwarz auf weiß zu lesen? Wenn du noch unentschlossen bist, seien dir die Worte eines weiteren, bekennenden Tagträumers mitgegeben.

„Was man sich nicht vorstellen kann, kann man nicht tun“.

Und wer weiß, vielleicht hat dich bereits dieser Gedanke des Filmemachers George Lucas deinem Tagtraum ein kleines Stückchen näher gebracht.

 

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Wieso träumen wir? Wie kann ich meine Träume deuten? Und wie werden wir Alpträume los? Das und mehr verrät uns Traumforscher und Psychologe Michael Schredl im Interview. Er ist wissenschaftlicher Leiter des Schlaflabors am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim und forscht an Fragestellungen rund um das Thema Träume. Mit seinen eigenen Träumen setzt er sich seit über 30 Jahren auseinander.

Herr Schredl, können Sie beschreiben, wieso wir überhaupt träumen? Hat das Träumen eine bestimmte Funktion für den Körper?

Die Frage ist bis heute unbeantwortet. Was wir auf jeden Fall wissen ist, dass jeder Mensch jede Nacht träumt. Das Gehirn als biologische Maschine schläft nicht, es hat sogar relativ viele Aufgaben während des Schlafes. Da werden Informationen, die tagsüber aufgenommen worden sind, nochmal bearbeitet und verbessert abgespeichert. Diese Funktionen sind recht gut belegt. Allerdings ist es eben so, dass diese Funktionen auf neuronaler Ebene funktionieren. Das heißt, da ist die Frage: Muss man dazu träumen?

Es gibt inzwischen auch viele Traumforscher, die sagen, es macht schon Sinn, dass wir gerade die Sachen, die uns tagsüber beschäftigen, auch in den Träumen nochmal verarbeiten. Es ist interessanterweise auch so, dass Träume sich häufig mit sozialen Themen beschäftigen, mit sozialer Interaktion. Und dann gibt es die Idee, dass das Träumen zum Üben da ist. Dass man besser mit anderen Leuten zurechtkommt, weil das ja auch evolutionär wichtig ist, um einen Partner zu finden, sich fortzupflanzen oder sozial in einer Gruppe integriert zu sein. Es gibt eben viele Theorien, aber man weiß nicht, ob es tatsächlich stimmt, weil es eben niemanden gibt, der nicht träumt. Man kann nicht vergleichen, wie es wäre, wenn man nicht träumen würde, weil alle Menschen träumen.

Sie sind Traumforscher. Bei der Recherche zum Thema hatte ich nicht den Eindruck, dass es viele Kolleg*innen gibt, die denselben Beruf wie Sie ausüben, oder?

Michael Schredl ist Traumforscher und bietet am ZI Mannheim eine Alptraum-Sprechstunde an. © ZI Mannheim

Ja, da haben Sie recht. Wir sind eine relativ kleine Gruppe. Träume sind ja definiert als subjektives Erleben während des Schlafes – somit hat die Traumforschung auch eine starke Verbindung zur Neurowissenschaft. Wobei man schon unterscheiden muss, dass die Neurowissenschaft eher den Schlaf und die Gehirnfunktionen untersucht. Das Träumen selbst, das subjektive Erleben, ist die Domäne der Psychologen.

Was hat Sie persönlich am Thema Träumen so fasziniert, dass Sie sich für den Beruf als Traumforscher entschieden haben?

Es liegt natürlich bei mir schon lange zurück, dass ich angefangen habe, mich für psychologische Themen zu interessieren. Ich habe dann ein Traumbuch gekauft, neben das Bett gelegt und angefangen, Träume aufzuschreiben. Was mich da immer fasziniert hat war, dass Träume so kreativ sind. Es sind immer sehr interessante Geschichten gewesen am Anfang, also Abenteuergeschichten zum Beispiel, und das hat mir damals schon Spaß gemacht. Das war ein Grund, wieso ich regelmäßig Träume aufschreibe, schon seit 30 Jahren, und mich eben auch vermehrt für das Thema interessiert habe.

„Träume sind kreative Darstellungen von Themen, die einen tagsüber beschäftigen.“

Es gibt ja auch verschiedene Vorgehensweisen, um Träume zu deuten. Man kann zum Beispiel Symbole nachschlagen, die dann bestimmte Bedeutungen hätten. Wie denken Sie über diese Art von Traumdeutung?

Die Traumdeutung, gerade Symboldeutung, hat ja schon eine lange Tradition. Aus meiner Sicht ist das aber wenig hilfreich, weil die Träume so kreativ sind, dass jeder Träumer und jede Träumerin eigene Umsetzungen von Dingen hat, die ihn oder sie tagsüber beschäftigen. Träume sind kreative Darstellungen von Themen, die einen tagsüber beschäftigen. Kreativ heißt für mich, dass es eben nicht so ist, dass eine schwarze Katze eine feste Bedeutung hat. Sondern dass jede Person ihre eigenen Symbole, ihre eigene Art hat, etwas darzustellen.

Ich mache mal ein Beispiel. Sie haben einen Verfolgungstraum, ein riesiges Monster taucht vor Ihnen auf. Nun kann man sich überlegen: Wieso habe ich von einem Monster geträumt? Aber wenn man schaut, was in dem Traum passiert ist, nämlich dass man Angst hatte und weggelaufen ist, wird es von Psychologen als Vermeidungsverhalten bezeichnet. Das heißt, der Traum hat eine kreative, dramatisierte Form von Vermeidungsverhalten beschrieben. Die Idee dahinter ist, dass der Traum ein Thema aufgreift, möglicherweise eine unangenehme Aufgabe oder ein Gespräch, die im Wachzustand vermieden wurden, und der Traum das plastisch macht.

Viele Menschen kennen auch Alpträume. Woher kommen solche negativen Träume?

Alpträume werden definiert als Träume mit so starkem negativem Affekt, dass dieser zum Erwachen führen kann. Meistens ist es Angst, es kann aber auch Wut, Ekel oder Trauer sein. Es gibt tatsächlich Personen, die eine Veranlagung dazu haben. Wir sind gerade dabei zu schauen, ob es auch mit Hochsensibilität zu tun hat. Wir vermuten, dass es einfach Menschen gibt, die sensibler, kreativer und empathischer sind und leichter an Alpträumen leiden. Der zweite Punkt ist dann der aktuelle Stress.

„Je mehr man Angst vor der Angst hat, desto größer wird sie.“

Gibt es wirklich Mittel, um die Alpträume komplett verschwinden zu lassen?

Jede Person hat im Traum ihre eigene Art und eigene Symbole, um Dinge darzustellen, erzählt Traumforscher Michael Schredl. © Unsplash

Tatsächlich gibt es eine sehr einfache und sehr wirkungsvolle Therapieform, die man sogar selbständig anwenden kann. Im englischen Sprachraum wird sie als Imagery Rehearsal Therapy bezeichnet, also eine Vorstellungsübungs-Therapie. Bei Ängsten ist es so: Je mehr man Angst vor der Angst hat, desto größer wird sie. Bei den Alpträumen ist das gleiche Prinzip wirksam. Nur ist es bei Alpträumen sogar noch einfacher, weil man sich einfach während des Tages vorstellt, wieder in der Alptraumsituation zu sein und sich dann vorstellt, was man anders machen würde. So kann man sich etwa möglichst plastisch ausmalen, sich umzudrehen anstatt wegzulaufen und vielleicht noch Helfer im Hintergrund zu haben. Und dann das Monster zu konfrontieren und aktiv die Situation zu bewältigen, anstatt durch das Aufwachen aus der Situation herauszugehen.

Bei der Therapie wird die Vorstellung über zwei Wochen tagsüber für fünf Minuten wiederholt und geübt. Das wirkt sich auf die Träume aus. Interessanterweise nicht nur auf die Träume, die man geübt hat, sondern auch auf andere Träume, weil man die Einstellung lernt: Wenn ich im Traum Angst habe, überlege ich, was ich tun kann. Und das ist tatsächlich ganz wirksam, die Therapie hilft ungefähr bei 70 Prozent der betroffenen Menschen.

 

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Wer kennt’s nicht: Alltagsstress, Unausgeglichenheit und eine nicht enden wollende To-Do-Liste? Da will man eigentlich nur noch in den Urlaub. Die gute Nachricht: Für eine Auszeit – am besten in einer Hängematte liegend und Cocktail schlürfend am Strand – muss man nicht einmal einen Flug buchen, geschweige denn das eigene Zimmer verlassen. Für eine Traumreise braucht man eigentlich nur ein Bett – und jede Menge Fantasie.

Ein paar kräftige Schwimmzüge noch, dann habe ich das Ufer erreicht. Langsam wate ich aus dem Wasser, meine Füße tauchen ein in den warmen Sand. Während ich den Strand entlang spaziere, lasse ich den Blick über das Glitzern des Meeres und die vor mir liegende Insel schweifen. Dort drüben, eine Hängematte. Zwischen zwei Palmen schaukelt sie sanft im Wind. Ich lege mich hinein, und nehme jetzt kaum noch die weibliche Stimme wahr, die mir ins Ohr flüstert: „Spüre mit jedem Schwingen den warmen Wind in deinem Gesicht und auf deinem Körper… du fühlst dich vollkommen glücklich und entspannt.“ Die Sonnenstrahlen und Schatten der Palmwedel tanzen im Duett vor meinen geschlossenen Augenlidern. Vögel zwitschern. Irgendwo hupt ein Auto. Ein Auto? Aufgeschreckt durch das Geräusch öffne ich die Augen.

Na toll. So fühlt sich also Entspannung an. Es ist Sonntagnachmittag und ich liege auf dem Rücken ausgestreckt auf meinem Bett. In der Nase habe ich jetzt nicht mehr den salzigen Geruch von Meerwasser, sondern die Gemüselasagne meiner Mitbewohnerin, die nebenan im Backofen schmort. Und auch die Stimme, die mir gerade noch ins Ohr gehaucht hat, ist verstummt. Stattdessen: Autohupen auf der Hauptstraße vor meinem WG-Zimmer in Tübingen. Beim nächsten Mal schließe ich von vornherein das Fenster, denke ich mir. Also nochmal von vorn: Aufstehen – Fenster zu. Wieder hinlegen – Augen zu. Dann startet die über YouTube abgespielte Traumreise aufs Neue. „Mach es dir bequem und lass die Hektik des Alltags hinter dir“, tönt es gleich darauf aus meinem Laptop. Tja, wenn das so einfach wäre, entgegne ich im Stillen den Anweisungen der Erzählerin.

„Bilder aus der Natur wirken sehr gut“

Eine Traumreise, auch Fantasiereise genannt, ist ein imaginatives Entspannungsverfahren, das mitunter in der Psychotherapie angewandt wird. Bei Traumreisen liegt man in einer angenehmen Körperposition und lauscht mit geschlossenen Augen einer Geschichte, die von Sprecher*innen erzählt wird. Dabei entwickeln die ‚Reisenden‘ in ihrer Vorstellung bestimmte Fantasien. Die als positiv empfundenen Sinneseindrücke und Bilder sollen Entspannung bewirken. „Wenn der Erzähler die richtigen Vorstellungsbilder zeichnet, können Menschen zur Ruhe kommen. Insbesondere Bilder aus der Natur wirken sehr gut“, sagt der Psychologe Volker Friebel im Gespräch mit Zwischenbetrachtung. Der 65-Jährige hat eine besondere Beziehung zu Traumreisen. Er führt sie seit Jahrzehnten durch, sowohl mit Schüler*innen als auch mit Erwachsenen: „In der Entspannungspädagogik spielen Traumreisen heutzutage eine wichtige Rolle. Sie bieten eine gute Möglichkeit für kurze Entspannung, um beispielsweise während der Arbeit mal eben runterzukommen.“

Aber was passiert eigentlich genau in unserem Gehirn, wenn wir uns einer Traumreise unterziehen? „Entspannung ist die Übergangsphase zwischen Wachzustand und Schlaf“, führt Friebel aus. „Und es herrscht ein verbreiteter Konsens darüber, dass dieser Übergang bei einer Traumreise verlängert wird.“ Damit eine Traumreise ihre entspannende Wirkung erziele, müssten allerdings ein paar Bedingungen erfüllt sein: „Für eine Traumreise eignen sich ruhige Orte, an denen mögliche Störgeräusche ausgeschlossen werden, am besten. Was nicht heißt, dass Traumreisen nicht auch unter ungünstigen Bedingungen funktionieren können“, so Friebel. Auf Seiten der Erzähler*innen sei es zudem wichtig, langsam und mit Pausen zu sprechen, damit die Vorstellungskraft der ‚Reisenden‘ angeregt werden kann.

Kichernde Kinder, ernsthafte Erwachsene

Soweit die Theorie. Und was sagt die Praxis? In meiner eigenen Traumreise habe ich es mittlerweile wieder geschafft, an den Strand der Insel mit der Hängematte zu paddeln. Das Autohupen und die Gemüselasagne sind schnell wieder vergessen, als ich durch den feinkörnigen Sand stakse. In der Ferne entdecke ich ein gestrandetes Fischerboot, während die flüsternde Stimme der Erzählerin an meine Ohren dringt: „Spüre wie der Sand mit jedem Schritt eine wohlige Wärme an deine Füße abgibt.“ Und wie ich die Wärme spüre. Ob’s auch an den mehr als 25 Grad Außentemperatur liegt, die an diesem Nachmittag in Tübingen herrschen? Kaum vorstellbar.

„Traumreisen funktionieren bei fast jedem“, so die These von Volker Friebel. „Es gibt eigentlich nur wenige Menschen, die sagen, dass sie sich nichts bildhaft vorstellen können.“ Bei Kindern seien sie generell wirkungsvoller als bei Erwachsenen – letztere fänden allerdings einen leichteren Zugang zu Traumreisen: „Erwachsene lassen sich in der Regel gleich auf die ungewohnte Situation ein. Kinder sind etwas unsicherer, wenn sie nebeneinander mit geschlossenen Augen auf dem Boden liegen. Die fangen dann auch schon mal an zu kichern.“ Nichtsdestotrotz würden vor allem unruhige Kinder sehr gut auf Traumreisen anspringen, so Friebel.

„Stress ist eigentlich eine schöne Sache“

Wann genau Traumreisen entstanden sind, ist unklar. Die Psychologie kennt die positive Wirkung von Vorstellungsbildern bereits seit vielen Jahrzehnten. Heute muss man natürlich nicht mehr bis zur nächsten Therapie-Sitzung oder Einheit für autogenes Training warten, um sich auf eine Traumreise zu begeben: Bei YouTube oder Spotify sind sie mit nur wenigen Klicks zu finden. Die meisten dauern zwischen 20 und 40 Minuten.

Auf meiner eigenen Traumreise bin ich nun dabei, im Schatten des Fischerbootes die Milch einer frisch ergaunerten Kokosnuss zu schlürfen, als ich erneut aus der Strand-Idylle gerissen werde. Klopf klopf. Meine Mitbewohnerin steckt ihren Kopf durch die Tür und fragt, ob ich bei ihrer Lasagne mitessen möchte. Ich vertröste sie auf später und versuche wieder auf „meine“ Insel zu gelangen. Doch dieses Mal ist es deutlich schwerer. Ich strenge mich an, allerdings vergeblich. Enttäuscht registriere ich wenige Augenblicke darauf die Stimme der Erzählerin: „Nun ist es an der Zeit zu gehen“ – eine Einschätzung, die ich überhaupt nicht teile. Diese ganzen Unterbrechungen durchs Autohupen und meine Mitbewohnerin stressen einen eher, dabei sollte eine Traumreise doch entspannend sein. Unter diesen Umständen ist das allerdings ein ziemlicher Wunschtraum. Das Ziel meiner Traumreise: verfehlt. Oder doch nicht?

„Entspannung ist schön und gut, aber wir Menschen brauchen auch die Aktivität“, sagt Volker Friebel. „Stress ist eigentlich eine schöne Sache, denn das Leben sollte nicht aus reiner Entspannung bestehen. Wenn der Stress kommt, ist es nur wichtig, dass ich weiß, wie ich mich entspannen kann.“ Möglicherweise hat mein kleiner Insel-Trip ja doch etwas gebracht. Immerhin trete ich mit Friebels Worten im Hinterkopf nun etwas beruhigter den Gang Richtung Küche und Lasagne an.

 

Titelbild: © Unsplash

 

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