Wer jemandem die Haare gewaltsam abschneidet, demonstriert Macht. Für das Opfer bedeutet es Demütigung.  „Horizontale Kollaborateurinnen“, angebliche Hexen, Sklaven – ein Blick in die Geschichte zeigt: Das Kahlscheren ist immer wieder angewendet worden, um zu bestrafen, Kräfte zu brechen oder Menschen zu entwürdigen.

Sie sitzt auf einem Stuhl. Drei Männer kamen vor einer Stunde, haben sie aus dem Haus gezerrt. Jetzt sitzt sie hier, um sie herum die johlende Menge. So viel Hass in den Augen der anderen. Sie blickt starr geradeaus, als der Mann die Schere ansetzt. Jemand schreit „Verräterin“. Haarsträhnen fallen auf ihren Schoß. Ihr Kopf fühlt sich leicht an.

Kahlscheren für horizontale Kollaboration

Demütigung ist die Strafe für „horizontale Kollaboration“. (Life Photo Collection chez Google Arts & Culture via flickr)

So oder ähnlich erging es schätzungsweise 20.000 französischen Frauen nach der Befreiung 1944/45. In einer Art Säuberungswelle entlud sich der Hass auf die deutschen Besatzer in ganz Frankreich. Die Racheaktionen galten Frauen, denen „horizontale Kollaboration“ vorgeworfen wurde. Frauen, die sich mit Wehrmachtssoldaten eingelassen hatten – angeblich. Denn die Aktionen trafen auch diejenigen, die für die Besatzer beispielsweise nur geputzt oder etwas übersetzt hatten. Der Kontakt hatte ihnen Vorteile gebracht und den Neid darüber bekamen die Frauen im Nachhinein zu spüren. Sie wurden bei Razzien festgenommen und im Schnellverfahren verurteilt, dann öffentlich geschoren und durch den Ort getrieben. Die „Verräterinnen“ wurden zu Sündenböcken, auf denen die Schuld der Kollaboration abgeladen wurde. Zu solchen Exzessen kam es nicht nur in Frankreich, auch unter anderem in Norwegen oder den Niederlanden wurden Frauen für ihre Beziehungen mit deutschen Soldaten bestraft.

Eine lange Tradition der Erniedrigung

Das Kahlscheren ist dabei keine neue Form der Strafe, sondern fand im Laufe der Geschichte immer wieder statt. Ehebrecherinnen wurde zum Beispiel schon im Mittelalter die Haare abgeschnitten, in Kriegs- und Besatzungszeiten kam es regelmäßig dazu. Aber warum funktioniert die unfreiwillige Schur als Bestrafung? Denn körperlichen Schmerz  verursacht das Abschneiden in der Regel nicht und die Haare wachsen nach einiger Zeit nach. Beim Kahlscheren geht es aber eben nicht, wie bei anderen Bestrafungen, um physische Verletzung, sondern um Demütigung. Die Haare bilden einen Teil der Identität – wer Haare zwangsweise abschneidet, nimmt der anderen Person ein Stück der Persönlichkeit. Deshalb ist das Kahlscheren ein Akt der Erniedrigung, der für Macht und Unterwerfung steht.

Schon im Alten Ägypten wurde Sklaven daher die Haare abgeschnitten als Zeichen ihrer Unfreiheit. Genauso geschah es in anderen Gesellschaften, die Sklaverei tolerierten. Im Dritten Reich begann die schrittweise Entwürdigung von Menschen in Konzentrationslagern ebenfalls mit dem Kahlscheren. Den Menschen wurden ihre Namen genommen, stattdessen bekamen sie eine Nummer. Dann wurden ihnen auch noch die Haare geschoren – sichtbare Zeichen von Individualität, Kultur und Religion. Gerade für die zahlreichen Juden in den Konzentrationslagern war das eine furchtbare Art der Entwürdigung, weil Haare in ihrer Religion eine wichtige Rolle spielen.

Samson und Delilah, Stom

Mit seinen Haaren verliert Samson auch seine Kraft. Gemälde von Matthias Stom (pixelsniper via flickr)

Die Kraft der Haare

Eine der ältesten Geschichten über die Kraft, die Haaren innewohnt, ist die alttestamentliche Erzählung von Samson. Von Gott auserwählt, ist Samson mit unglaublicher Kraft gesegnet. Eines Tages verliebt er sich in Delilah und verrät ihr schließlich das Geheimnis seiner großen Kraft: Es sind seine Haare, die er nie schneidet. Leider verrät Delilah ihn an seine Feinde, die seine Haare scheren und so seine Kraft brechen.

Auch in anderen Kulturen werden den Haaren seit jeher besondere, oft sogar magische Eigenschaften zugesprochen, die über Aspekte der Schönheit hinausgehen. In der Antike brachten die Griechen beispielsweise regelmäßig ihren Göttern Haaropfer dar. Außerdem schneidet Thanatos, der griechische Gott des sanften Todes in der griechischen Mythologie, den Sterbenden eine Locke ab. Dann erst geleitet er sie in die Unterwelt. Dies sind nur einige Beispiele, in denen Haare mit (Lebens-)Kraft assoziiert werden. Das Abschneiden von Haaren bedeutet folglich den Verlust dieser Kraft. Dass manche Völker ihre besiegten Feinde skalpierten und die Haare als Trophäe mitnahmen, passt ebenfalls dazu. Magische oder vielmehr dämonische Kräfte wohnten angeblich auch in den Haaren von Hexen. In der Frühen Neuzeit während der Hexenverfolgung in Europa wurden daher zahlreiche Frauen kahlgeschoren, um ihnen diese Mächte zu nehmen.

Kahlscheren für horizontale Kollaboration

Das Kahlscheren soll den Frauen auch ihre Weiblichkeit nehmen. (Life Photo Collection chez Google Arts & Culture via flickr)

Raub der Weiblichkeit

Dass gerade Frauen häufig zur Strafe und Demütigung die Haare abgeschnitten wurden, ist kein Zufall. Das Kopfhaar spielt immer eine Rolle bei der Bewertung von Attraktivität: lange Frauenhaare gelten in vielen Kulturen als schön und verführerisch. Das Kahlscheren beraubt Frauen so ein Stück weit ihrer Weiblichkeit. Die Entweiblichung ist auch ein Motiv für das Kahlscheren der französischen Kollaborateurinnen 1944/45. Gleichzeitig wollten die Männer so die alte Ordnung wiederherstellen: die Herrschaft der französischen Männer über die französischen Frauen, die sie während der Besatzung verloren haben. Damit einher geht eine Entpersönlichung: Die Frauen sollen Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl verlieren. Da die Haare nicht so schnell nachwachsen, erfahren die geschorenen Frauen zudem über einen langen Zeitraum Ächtung, sie werden aus der Gesellschaft ausgeschlossen.

Die Geschichte zeigt: Haare sind mehr als Schönheit und Mode. Sie sind Ausdruck von sozialer Zugehörigkeit, Religion, Geschlecht. Das hat sich auch heute nicht geändert. Denn auch heute bietet die Frisur die Möglichkeit, sich auszudrücken, dazuzugehören, sich abzugrenzen. Haare sind Teil der Identität und mit dem Kahlscheren geht ein Stück davon verloren.

 

Quellen und weiterführende Literatur

Claudia Becker (2012): Haare – Nicht nur Frisur, sondern Weltanschauung, bei welt.de

Daniel Huber (2008): „Wenn Männer zur Schere greifen“, bei 20min.ch

Ulli Kappler (2014): „Was Kahlköpfigkeit in der Kulturgeschichte der Frau bedeutet“, bei breastnurse.de

Rolf Rietzler (1998): „Die mit dem Feind schliefen“, bei spiegel.de

Andres Wysling (2017): „Frankreichs geschorene Frauen“, bei nzz.ch

Ebba D. Drolshagen (1998): Nicht ungeschoren davonkommen. Das Schicksal der Frauen in den besetzten Ländern, die Wehrmachtssoldaten liebten. Hamburg: Hoffmann und Campe Verlag

Ute Frevert (2017): Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht. Frankfurt am Main: S. Fischer

Fabrice Virgili (2004): La France «virile». Des femmes tondues à la libération. Paris: Payot & Rivages

Beitragsbild: Life Photo Collection chez Google Arts & Culture via flickr

6 Kommentare
  1. Luna
    Luna sagte:

    Das so viele Frauen von dieser Art der „Bestrafung“ betroffen waren wusste ich nicht… aber Kahlscheren ist ja immer noch ein Thema, in Game of Thrones wird das ja auch als Mittel zur Demütigung verwendet

  2. Angelina
    Angelina sagte:

    Man merkt, dass du viel recherchiert hast und dich lange Zeit mit dem Thema auseinander gesetzt hast! Wirklich gut gelungen. Die Zahl der Opfer durch die Form der Bestrafung in 194/45 find ich schockierend. Das war mir nicht bewusst, dass so viele Frauen darunter leiden mussten. Die Erzählung von Samson find ich auch sehr interessant, besonders die Verknüpfung von Kraft und Haare.

  3. Laura Schneider
    Laura Schneider sagte:

    Ich denke, die meisten Frauen (und vielleicht auch Männer) können sehr gut verstehen, dass es absolut grausam war was diese Frauen durchmachen mussten. Die meisten von uns verzweifeln schon an einem Bad-Hair-Day.
    Während dem Lesen kamen mir auch Krebspatienten in den Sinn, die während der Chemotherapie ihre Haare verlieren. Für viele bedeutet es nicht nur, dass ihre bis dahin unsichtbare Krankheit letztendlich sichtbar wird, sondern eben auch eine Demütigung. Nicht vorhandene Haare kann man leider nur sehr schlecht verstecken und gerade bei Frauen sind Glatzen leider nicht gesellschaftlich Akzeptiert, dabei ist es im Grunde auch nur eine Frisur.

  4. Hannah V.
    Hannah V. sagte:

    Der Artikel behandelt ein sehr interessantes Thema, das heutzutage – zumindest bei uns – nicht mehr so stark im öffentlichen Fokus steht. Besonders schön finde ich, dass du auch kulturelle, religiöse und historische Kontexte in diesem Zusammenhang herausarbeitest und sie erklärst.

  5. debbelapple
    debbelapple sagte:

    Interessanter Beitrag! Auch mir war das Ausmaß des „Zwangs-Kahlscherens“ nach dem 2. Weltkrieg nicht bewusst. Richtig gut recherchiert und super geschrieben.

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