Wer jemandem die Haare gewaltsam abschneidet, demonstriert Macht. Für das Opfer bedeutet es Demütigung. „Horizontale Kollaborateurinnen“, angebliche Hexen, Sklaven – ein Blick in die Geschichte zeigt: Das Kahlscheren ist immer wieder angewendet worden, um zu bestrafen, Kräfte zu brechen oder Menschen zu entwürdigen.
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Als ich einziehe, hat meine Mitbewohnerin schulterlange, blonde Haare, markante Gesichtszüge und einen einzigartigen Stil. Der Stil und die Gesichtszüge sind geblieben, doch ihre Haare hat sie sich letztes Jahr im Oktober auf neun Millimeter abrasiert. Seitdem bringt sie die wildesten Geschichten über Reaktionen zu ihrem Frisurenwechsel und ihren abrasierten Haaren mit nach Hause. So wild, dass es sich lohnt, darüber zu sprechen … Weiterlesen
Haare gelten als Ausdruck der eigenen Persönlichkeit. Unser äußeres Erscheinungsbild wird als Abbild unseres Inneren betrachtet. Somit lassen sich mit Frisuren eigene Ansichten oder auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmen Gruppe transportieren. Wer auffallen will, sorgt für außergewöhnliche Frisuren. Denn diese garantieren viel Aufmerksamkeit. Die wohl radikalste Form der Veränderung ist vermutlich das Scheren der Haare. Ein kahlrasierter Kopf fällt ins Auge. Doch wann wird dies zum Protest?
Häufig wird ein kahlrasierter Kopf mit Krebserkrankungen verknüpft. Rasieren Menschen ihre Haare absichtlich ab, ist dies meist ein Symbol für politischen oder gesellschaftlichen Protest. Besonders Frauen setzen so optisch ein Statement. Diese Form des Protests findet in den unterschiedlichsten Bereichen statt: Die starke Emma González, das Gesicht der Jugendbewegung „March for our Lives“, setzt sich für schärfere Waffengesetze ein und trägt eine Glatze. Die Designerin Vivienne Westwood ruft zu einem bewussteren Umgang mit der Umwelt auf. Um die Aufmerksamkeit ihrer Mitmenschen zu gewinnen, ersetzte sie ihre lange, rote Mähne durch eine Glatze. Auch im Iran stehen kahlrasierte Köpfe für Protest: Mutige Iranerinnen scheren ihre Haare, um sich für Emanzipation einzusetzen und sich gegen den Kopftuchzwang zu wehren. Diese außergewöhnlichen Frauen und ihre Anliegen sollen im Folgenden vorgestellt werden: Ein Beitrag über Haare und Protest.
March for our Lives
Emma González ist das Gesicht der Jugendbewegung „March for our Lives“, die sich nach dem Amoklauf an einer Schule in Florida für schärfere Waffengesetze einsetzt und gegen Waffengewalt und die Waffenlobby protestiert. Die 18-jährige Schülerin ist Überlebende des Amoklaufs von Parkland und wurde vor allem durch ihre bewegende Rede auf einer Demonstration in Washington bekannt. „Schämt euch!“ rief sie Politikern und der National Rifle Association (NRA) zu. Emma González ist wütend. Wütend auf die lockeren Waffengesetze, die Regierung und den hohen Einfluss der übermächtigen Waffenlobby NRA. Die junge Frau fordert, dass sie und ihre Mitschüler die letzten Opfer eines Amoklaufs waren. Sie postuliert: es muss sich endlich etwas ändern! Schärfere Waffengesetze seien erst der Anfang, so die Schülerin. Die Bewegung erreichte, dass Präsident Trump und einige Politiker zumindest bereit sind, über strengere Waffengesetze zu diskutieren.
Optisch fällt Emma González vor allem durch ihr ungewöhnliches Aussehen auf: ihre Haare hat sie abrasiert – dies geschah zuerst aus Bequemlichkeit, dann aus Protest. Auf Instagram schreibt die junge Frau, dass ein Kurzhaarschnitt weniger Aufwand bedeute und zugleich günstiger sei. Außerdem waren ihre Eltern zuerst dagegen, wodurch sie umso mehr in ihrem Vorhaben bestärkt wurde. Ihr kahlrasierter Kopf ist ihr Markenzeichen. Sie bleibt im Gedächtnis. Als Gesicht der Protestbewegung verkörpert sie Willensstärke und Mut. Der Milimeterschnitt auf ihrem Kopf wird zum Symbol von Protest und Stärke. Diese bewies sie bereits vor „March for our Lives“ : Emma González ist es ein Anliegen, etwas verändern zu wollen: sie setzt sich für Menschenrechte ein und ist Vorsitzende der Gay-Straight Alliance (GSA) ihrer Schule (Jetzt.de). Wir erleben sie als eine mutige junge Frau, die etwas bewegen möchte – ihre abrasierten Haare stehen stellvertretend dafür.
Glatze für den Klimawandel
Die 72-jährige Designerin Vivienne Westwood, bekannt für aussagekräftige Mode und ihre langen, roten Haare, trägt nun fast eine Glatze. Ihre rote Mähne hat sie gegen wenige Millimeter kurze weiße Haare eingetauscht. Damit zeigt sie, dass sie stolz auf ihr Alter ist. Aber vor allem ist die neue Frisur ein Symbol im Kampf gegen den Klimawandel: Die Designerin möchte so auf die Erderwärmung, Umweltkatastrophen, das Schmelzen der Polkappen und die Ausbeutung natürlicher Rohstoffe aufmerksam machen (Gernot Uhl, Mit Vivienne Westwood an der Nähmaschine). Ihre Glatze soll die Konsequenzen des Klimawandels aufzeigen und die Menschen aufwecken. Westwood möchte diese für einen nachhaltigeren und bewussteren Umgang mit der Natur sensibilisieren und dazu motivieren, sich für den Klimaschutz einzusetzen.
Eine Sprecherin der Designerin erläuterte: „Vivienne hat sich die Haare abgeschnitten, damit wir alle merken, dass wir aufwachen müssen und etwas gegen den Klimawandel tun müssen“ (Madonna.at). Westwood erklärt, ihre Protestaktion sei eine Demonstration gegen Ungerechtigkeiten und auch Konventionen, in der Hoffnung die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Westwood ist bereits seit Jahren für ihr Umweltengagement bekannt und setzte sich bereits für PETA und viele weitere Organisationen ein.
„Für die Freiheit schnitt ich meine Haare ab“
Frauen im Iran, die sich den Anordnungen des Regimes widersetzen und keinen Schleier tragen, drohen Verhaftung und Gefängnisstrafen. Der Ganzkörperschleier und das Kopftuch stehen symbolisch für den Ausschluss der Frauen aus der Gesellschaft und die Geschlechtertrennung. Doch immer mehr Frauen legen bewusst den Schleier ab, sie wollen ein Zeichen setzen im Kampf gegen die Unterdrückung des Regimes. Mittlerweile sind es Tausende von Iranerinnen, die das Kopftuch ablehnen und Fotos von sich ohne ihren Schleier auf Facebook posten. Diese mutigen Frauen sind wahre Heldinnen, machen anderen Iranerinnen Mut und werden zu starken weiblichen Vorbildern.
Protestbewegung auf Facebook gegen Kopftuchzwang
Viele Iranerinnen gehen noch weiter: Um sich nicht mehr verschleiern zu müssen, rasieren sie sich die Haare ab. Keine langen Haare, die Weiblichkeit repräsentieren – keine Notwendigkeit für ein Kopftuch mehr. So sieht das auch Jean Seberg. Die junge Iranerin rasierte ihre Haare ab und spendete sie für krebskranke Kinder. Anschließend postete sie ein Foto von sich in der Facebookgruppe „My Stealthy Freedom“, die seit Jahren Fotos von Frauen veröffentlicht, die ihren Schleier ablegen und damit gegen die Hijab-Pflicht protestieren. Doch die kahlrasierten Köpfe der iranischen Frauen sind nicht nur Ausdruck von Protest. Immer mehr iranische Frauen negieren ihre Weiblichkeit, rasieren ihre Haare ab und tragen weite Kleidung, um für Männer gehalten zu werden. So sind sie weniger eingeschränkt, fühlen sich auf der Straße sicherer und laufen nicht Gefahr, verhaftet zu werden. Kurzhaarfrisuren sind die Lösung für mehr Sicherheit und mehr persönliche Freiheit (Emma.de).
Masih Alinejad, Gründerin der Bewegung „My Stealthy Freedom“, postete auf der Facebookseite das Bild einer jungen iranischen Frau, die auf den ersten Blick nicht weiblich wirkt – sie trägt einen Kurzhaarschnitt und weite Kleidung. In der Bildunterschrift kommentiert die junge Frau ihr Aussehen: „Ich bin ein iranisches Mädchen. Um der Moralpolizei zu entgehen, habe ich meine Haare abgeschnitten und trage Männerkleidung. So kann ich mich frei in den Straßen des Iran bewegen“ (Tilllate.com).
من یک دختر ایرانی ام. برای اینکه گیر گشت ارشاد نیافتم که مدام بهم بگن موهاتو بپوشون کل موهام رو کوتاه می کنم لباس پسرونه…
Gepostet von My Stealthy Freedom آزادی یواشکی زنان در ایران am Dienstag, 17. Mai 2016
Diese drei Beispiele zeigen eindrucksvoll die verschiedenen Kontexte, in denen Frauen ihre Haare abrasieren, um gegen gesellschaftliche oder politische Strukturen zu protestieren und um Problematiken aufzuzeigen. Trotz der unterschiedlichsten Hintergründe haben alle eines gemeinsam: Haare sind ein einflussreiches symbolisches Mittel, eigenes Gedankengut zu repräsentieren und Ansichten zum Ausdruck zu bringen. Ein Symbol des Protests und der Veränderung.