Das Daumenkino existiert schon lange, doch richtig populär wurde es nie. Oft wird es als Kinderspielzeug oder Gag abgetan. Dass ein Daumenkino viel mehr als Spielzeug sein kann und für echte Emotionen sorgt, zeigt Volker Gerling, der mit seinen Daumenkinos durch die ganze Welt reist, um die Menschen zu begeistern.

Die Geschichte des Daumenkinos beginnt früh. Um genau zu sein reicht sie bis ins Jahr 1868 zurück. In diesem Jahr ließ sich John Barnes Linnet das fotografische Daumenkino (engl. flip book) unter dem Namen The Kineograph a new optical Illusion patentieren. Doch bis heute bleibt die große Popularität des Daumenkinos aus. Dennoch ruft die Akademie Schloss Solitude 2004 in Stuttgart das erste Daumenkinofestival ins Leben. Mehrere andere Städte folgten diesem Beispiel. Ein Festival, das bis heute jährlich stattfindet, ist das Daumenkinofestival in der österreichischen Stadt Linz. Doch was genau ist ein Daumenkino überhaupt? Der Duden sagt, das Daumenkino ist ein „kleiner Block aus Zetteln mit Bildern, die beim raschen Aufblättern [mithilfe des über die seitliche Kante des Blocks geführten Daumens] einen Bewegungsablauf (wie beim Zeichentrickfilm) ergeben“. Das Hirn erzeugt dabei die Illusion eines bewegten Bildes und lässt die einzelnen Seiten wie einen Film wirken. Das fotografische Daumenkino ist hierbei eine besondere Art: Statt Zeichnungen werden Bilder so aneinandergereiht, dass sich vor dem eigenen Auge ein kleiner Film abspielt.

„Die Leute finden es spannend von jemandem zu hören, der ohne Geld mit 6 Daumenkinos hinauszieht in die Welt und guckt was passiert.“

Jemand der sich schon seit über 20 Jahren mit der Thematik des Daumenkinos beschäftigt ist Volker Gerling. Er hat sich auf fotografische Daumenkinos spezialisiert. Bemerkenswert ist, dass es gerade die kleinen Veränderungen von Bild zu Bild sind, die die Zuschauenden faszinieren. Diese unbedachten Momente wirken viel stärker als große Veränderungen. Mit einer Frequenz von drei Bildern pro Sekunde fängt Volker Gerling Augenblicke ein und lässt sie danach auf Papier zu neuem Leben erwachen. Mit diesen Daumenkinos reist er durch die ganze Welt um Menschen zu begeistern – von Deutschland über China bis nach Australien und Neuseeland. Dort tritt er auf Theater-Festivals auf und während er für seine Auftritte durch die Welt reist, fängt er neue Momente und Geschichten ein und lässt diese zu einem Daumenkino werden. Zudem schrieb er das Buch Der Mantel der Eigenzeit – Gedanken zum fotographischen Daumenkino, in dem er sich mit der Thematik des fotografischen Daumenkinos weiter befasst. In einem Gespräch gibt er mir Einblicke in seine Arbeit und überzeugt auch mich: Das Daumenkino kann viel mehr, als sein Ruf vermuten lässt.

Porträt aus Volker Gerlings Daumenkino ©Volker Gerling

„Für die, die es das erste Mal sehen, ist es eine völlig neue Art des Sehens. Eine neue Art Menschen zu begegnen. Sehr überraschend, sehr berührend.“

Volker Gerling erzählt mir von seinem Bühnenprogramm, bei dem er seine Daumenkinos unter einer Kamera abblättert und auf eine Leinwand projiziert, um sozusagen aus einem Daumenkino ein Daumenkino-Kino zu machen. Die Emotionen und Reaktionen der Zuschauer sind dabei sehr intensiv. Von Weinen bis Lachen ist alles dabei. Er macht etwas Einzigartiges, Unbekanntes, was die Menschen überrascht und begeistert. Begleitend zu seiner Vorführung erzählt er von den Menschen, die seine Daumenkinos porträtieren. Doch für ihn ist auch das Papier als Medium des Daumenkinos enorm wichtig.

„Das taktile Moment, was in einem Daumenkino steckt, macht es im wahrsten Sinne des Wortes begreifbar. Diese Begreifbarkeit erzeugt ein Jetztgefühl.“

Abgesehen von seinem Bühnenprogramm fordert das Daumenkino durch seine Papierform dazu auf, sich den Film selbst vorzuführen. Betrachter und Vorführer sind eine Person, was eine Nähe zum Inhalt des Daumenkinos schafft. Die Begreifbarkeit und Haptik schafft Nähe. Ebenso kann man durch die Haptik des Papiers die Geschwindigkeit, in der man ein Daumenkino abspielt, selbst bestimmen. Man kann es zwischendurch anhalten und Leerstellen entdecken, die es in einem „konventionellen“ Film so nicht gibt. Je nachdem wo man das Papierkino mit seinem Daumen stoppt, entdeckt man eventuell neue Nuancen der Geschichte. Zudem kann man die Geschichte sowohl vorwärts als auch rückwärts durchblättern. Laut Volker Gerling hat die Richtung des Abspielens keinerlei Einfluss auf die Wirkung der Emotionen. Die Geschichten funktionieren in beide Richtungen. Dadurch sieht man sich an einem Daumenkino auch nicht so schnell satt, es entsteht ein Reiz es immer wieder anzusehen.

„Das Daumenkino ist vor allem deshalb etwas Besonderes, weil man im wahrsten Sinne des Wortes die Zeit zwischen die Finger bekommt.“

Das Daumenkino ist ein sehr interaktives Medium, das der Betrachter oder die Betrachterin selbst beeinflusst. Es ist schade, dass es diese Kunst so selten an die Öffentlichkeit schafft. Sogenannte Live-Bilder, die man mit modernen Handys machen kann, sind sicherlich eine Art Nachfolge des fotografischen Daumenkinos – nur dass man bei einem Daumenkino die Erinnerung wahrhaftig durch die Finger rinnen lässt. Mein Fazit: Es ist beeindruckend, wie ein so kleines Büchlein, aus vielen auf Papier gedruckten Bildern, fasziniert.

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8 Kommentare
  1. Costanza Terino
    Costanza Terino sagte:

    Wo kann man Daumenkinos eigentlich kaufen? Ich kann mich daran erinnern, dass ich als kleines Mädchen sehr begeistert davon war und ein kleines Daumenkino besessen habe. Auch heute finde ich die Dynamik der Bilder noch sehr spannend. Daumenkinos sind wohl die einzig wahren „Zeitumkehrer“…

  2. Ann-Christine S.
    Ann-Christine S. sagte:

    Schöner und interessanter Text, vielleicht werde ich so eine Vorführung mal besuchen! Ich persönlich finde es auch sehr schade, dass Daumenkinos so sehr untergehen. Meiner Meinung nach besitzen sie einen gewissen Charme, auch auf Grund des relativ langsamen „Abspielens“ – das ist was komplett Anderes, als die ganzen Kinofilme, die man heutzutage zu sehen bekommt, denn da muss alles immer noch schneller und actionreichen sein, sodass man gar nicht mehr weiß, wo man hinschauen soll. Beim Daumenkino hingegen hat man mehr Zeit, sich die Bilder genau anzusehen. Auch wenn ich gestehen muss, dass mir die gezeichneten Varianten ein wenig besser gefallen 🙂

  3. Robert Galiard
    Robert Galiard sagte:

    Ich hab‘ als Kind mal ein Daumenkino gemacht, das nur aus einem Punkt bestand, der sich von der einen Seite des kleinen Schreibblocks zur anderen und wieder zurück bewegte. Ich war unglaublich fasziniert davon und habe in diesem Moment vermutlich zum ersten Mal so richtig begriffen, wie ein Film funktioniert.

  4. Laura Mitlewski
    Laura Mitlewski sagte:

    Ich liebe Daumenkinos! Ich kann mich noch erinnern, im Unterricht aus meinen Schulheften kleine Daumenkinos gemacht zu haben. Dein Beitrag wird diesem wundervollen Medium absolut gerecht!

  5. Rebecca Sahin
    Rebecca Sahin sagte:

    Oh Daumenkinos! Die habe ich früher immer sehr gemocht. Ich habe selbst oft gezeichnet u.a. auch Daumenkinos. Leider sind sie nur total in Vergessenheit geraten, bis ich deinen Beitrag gelesen habe – danke für die Erinnerung daran! Vielleicht durchsuche ich mal unseren Dachboden nach Daumenkinos von der kleinen Rebecca. 🙂

  6. FredericaTsirakidou
    FredericaTsirakidou sagte:

    Mir gefällt dieser Apspekt von Kunst in Bewegung. Das eigentliche Kunstwerk entsteht erst durch die Reaktion der Menschen auf die bewegten Bilder. Schöner Beitrag!

  7. Stefanie Hoschka
    Stefanie Hoschka sagte:

    Toll, Daumenkino! Wir haben früher in der Schule selbst versucht, kleine Daumenkinos zu erstellen – ich hätte nie gedacht, wie schwierig das ist. Kürzlich habe ich einen Beitrag gesehen, in dem der finnische Reisepass vorgestellt wurde. Dort gibt es auch ein Daumenkino mit dem Elch:
    https://youtu.be/smDWXS147NY

  8. Kibrom Zereyohannes
    Kibrom Zereyohannes sagte:

    Sehr schöner Beitrag! „Die Zeit zwischen den Fingern bekommen“ finde ich eine besonderes schöne Beschreibung.

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