In „Die Sehnsucht des Vorlesers“ zieht uns Jean-Paul Didierlaurent mit großer Poesie und einer liebenswerten Geschichte in das Leben von Guylain Vignolles – einem unscheinbaren Mann, der sich in einem Vorort von Paris seine Wohnung mit einem Goldfisch teilt. Das Werk ist auf den ersten Blick ein Liebesroman, doch letztendlich auch etwas anderes: eine Liebesgeschichte zwischen Mensch und Papier.

Der Autor Jean-Paul Didierlaurent hat mit seinem 2014 erschienenen Roman „Die Sehnsucht des Vorlesers“ international großen Erfolg gehabt –  wahrscheinlich auch aufgrund der ungewöhnlichen Liebesgeschichte, die er seinen Leser*innen präsentiert. Doch ein weiteres, vielleicht noch wichtigeres Motiv des Buches ist eine andere Liebe des Hauptcharakters. In der dritten Person erzählt Didierlaurent uns die Geschichte von Guylain Vignolles, einem Einzelgänger, der in der Kindheit für seinen Namen gehänselt wurde und seitdem lieber unsichtbar bleibt.

Tonnen von Büchern werden zu Brei

Autor Jean-Paul Didierlaurent wurde 1962 im Elsass geboren. Foto: Claude Truong-Ngoc

Zu allem Überfluss hasst er auch noch seinen Job. Denn er arbeitet bei einer Fabrik für Altpapier-Recycling, in der er jeden Tag zusehen muss, wie Tonnen von Büchern zu Brei verarbeitet werden. Nicht nur das, er steuert auch noch die Maschine namens „Zerstör 500“, die er voller Abscheu als „die Bestie“ bezeichnet. Sie ist in seinen Augen ein Monstrum, dessen einziger Zweck Zerstörung und Vernichtung ist. Er gibt ihr die Schuld an diesem „Kulturmord“ und personifiziert sie, beschreibt sie als ein bedrohliches Tier, das auf seine „Beute“ wartet.

Er hat Mitleid mit den Büchern, die nicht friedlich in kleinen Boutiquen am Ufer der Seine weiterleben dürfen. Sein Gewissen beruhigt Guylain, indem er jeden Abend bei der Reinigung der Maschine ein paar Buchseiten diesem „mörderischen Treiben“ entreißt. An ein paar Stellen innerhalb des Trichters kommt der Wasserstrahl nicht heran. Dort findet Guylain immer ein paar intakte Seiten, die er als seine Findelkinder bezeichnet. Über Nacht trocknet er sie behutsam zwischen zwei Bögen Löschpapier.

Für Guylain zählt der Akt des Vorlesens

Immer am Tag danach führt Guylain ein Ritual durch: Er fährt mit dem 6.27-Uhr-Zug zur Arbeit, nimmt die geretteten Seiten aus seiner Sammelmappe und liest sie den Passagier*innen vor. Die Pendler*innen werden automatisch still und Guylain entreißt sie durch sein Vorlesen täglich für 20 Minuten aus dem Alltag. Die Texte, die er den Leuten präsentiert, sind losgelöst aus ihrem ursprünglichen Kontext. Auch wir als Leser*innen werden darüber im Dunkeln gelassen, wie es weiter geht. Doch das ist nicht schlimm, denn für Guylain zählt der Akt des Vorlesens, nicht der Inhalt oder das Genre. Jedem einzelnen Blatt gibt er seine ungeteilte Aufmerksamkeit.

Das spiegelt sich im Buch wider: Optisch hebt sich das Papier, auf dem die jeweilige Binnenerzählung geschrieben ist, von der eigentlichen Geschichte um den Fabrikarbeiter ab. Es hat eine dunklere Farbe, und die Wörter scheinen auf Grund von Wasserrändern und sonstigen Zeichen der Zeit zu verschwimmen. Hier wird also nicht nur die Materialität des Papiers thematisiert, sondern die Leser*innen werden darauf verwiesen, dass auch sie gerade nur eine Geschichte lesen, über die ein Autor die Macht hat.

Optische Abgrenzung des eigentlichen Romans zu den Binnengeschichten des Vorlesers. Foto: Ann-Christine Strupp

Eines Tages bitten ihn zwei alte Damen, die regelmäßig nur diesen Zug nehmen, um ihm zuzuhören, einmal in deren Seniorenheim vorzulesen. Er zögert zunächst, denn wie wir erfahren, tut er all dies nicht für die Leute im Zug, sondern allein für die „Überlebenden“ des Gemetzels der Bestie. Doch schließlich verlegt er den Huldigungsakt in die Residenz mit knapp 30 Senioren, die ihm ein Podest bauen, an seinen Lippen hängen und wild über das Gehörte diskutieren. Er ist „der Vorleser“. Eine der Seniorinnen bittet ihn, selbst auch etwas lesen zu dürfen, da sie das früher gerne für ihre Schüler getan hat. Insofern erinnert uns der Autor Didierlaurent daran, wann im Leben wir vorgelesen bekommen: als Kinder, und dann erst wieder als Senioren. Doch warum?

Auf der Suche nach den verlorenen Beinen

Nicht nur für Guylain hat Papier eine ganz besondere Bedeutung. Guylains bester Freund und ehemaliger Arbeitskollege hatte in der Fabrik einen tragischen Unfall: Die Bestie hat sich beim abendlichen Reinigen selbstständig gemacht und seine Beine zerschreddert. Die Überreste der Beine wurden mit dem Papier zu einem Brei vermischt, welcher dann zu einer Büchersammlung aus 1.300 Exemplaren weiterarbeitet wurde. So hat es sich Guylains Freund seitdem zur Aufgabe gemacht, all diese Exemplare zu finden, um sich Stück für Stück seine Beine wiederzuholen. Jedes Mal, wenn Guiseppe ein neues Buch aus seinem Fleisch und Blut findet, wendet er es in alle Richtungen. Er riecht daran, streicht über die Seiten und drückt es an sein Herz – alles Dinge, die man mit einem digitalen Text schlecht tun kann.

„Wer das Papier hat, hat die Macht.“

Doch nun zur sichtbaren Liebesgeschichte des Buches. Guylain findet eines Morgens im Zug einen USB-Stick, auf dem sich eine Art Tagebuch befindet. Der Stick gehört zu Julie, einer Putzkraft im Toilettenbereich eines großen Einkaufszentrums. Guylain ist sofort fasziniert und druckt alle Seiten  aus, um sie noch in derselben Nacht zu verschlingen und am nächsten Tag im 6.27-Uhr-Zug vorzulesen. Er hofft, dass sie eines Tages im Zug sitzen und ihre eigenen Geschichten hören wird. Wir erfahren, dass Julie ihre Gedanken zunächst immer in ein Notizbuch schreibt, um sie am nächsten Morgen abzutippen. Sie besitzt ein ganzes Heft mit Sprüchen und Weisheiten ihrer Tante, von der sie unter anderem folgendes gelernt hat: „Wer das Papier hat, hat die Macht.“ Obwohl der Satz in diesem Zusammenhang auf Klopapier bezogen ist, lässt sich zwischen den Zeilen lesen, was Didierlaurent wirklich meint.

Denn die Macht hat auch Giuseppe: Er hilft Guylain bei der Suche nach der geheimnisvollen Frau, indem er ihre Notizen herauf und herunter liest, Stapel von Papieren sammelt, Karten und Pläne zusammenstellt und sie mit Post-its, Kommentaren und Kringeln versieht. Seinen Laptop stellt er hingegen auf den Boden – ein Akt voller Symbolik, denn die Papierinvasion scheint besser geeignet sein, um sich einen richtigen Überblick zu schaffen.

Lest wieder mehr Bücher, behandelt sie mit Respekt

Insgesamt scheint es, als würden die Charaktere in Die Sehnsucht des Vorlesers jeweils über ihre Beziehung zu Büchern und Papier definiert werden. Sein Freund und Arbeitskollege Yvon Grimbert hat in seinem Wachhäuschen einen Zettelkasten und eine Plastikkiste voller Bücher, aus denen er fortwährend zitiert, wenn er nicht gerade selbst dichtet. Er ist Guylain zufolge angenehm still, da er oft in seine Bücher vertieft ist.

Im Gegensatz dazu stehen sein cholerischer Chef Kowalski, für den am Ende des Tages bloß der Profit zählt, und Guylains arroganter Arbeitskollege Brunner. Dieser erfreut sich auf fast schon sadistische Weise am tagtäglichen Zerstören der Bücherladungen und wird – ebenso wie die Bestie – als gefährliches Tier beschrieben. Vielleicht stehen also die ruhigen, zurückgezogenen Bücherfreunde als Opposition zu den lauten, anstrengenden Bücherhassern, die die Reizüberflutung im Fernsehen und im echten Leben repräsentieren.

Der gesamte Roman erscheint Kapitel für Kapitel wie eine große Lobrede an das Papier. Es schreit uns förmlich an: Lest wieder mehr Bücher! Behandelt sie mit Respekt. Und Finger weg von digitalen Varianten, denn ein USB-Stick geht viel zu leicht verloren. Kaum haben wir Didierlaurents Geschichte fertig gelesen, möchten auch wir all unsere Bücher in die Hand nehmen, an ihnen riechen, über die Seiten streichen und sie ans Herz drücken. In der deutschen Übersetzung des Romans gehen zwar einige Aspekte des besonderen, poetischen Stils mit zahlreichen Wortspielen verloren, doch dank kreativen Einfällen und gewitzten Formulierungen ist der Roman allemal schön zu lesen. Wie Guylain seine Julie am Ende findet, sei an dieser Stelle offen gelassen. Doch so viel sei verraten: Es hat etwas mit Papier zu tun.

Im untenstehenden Video könnt ihr bei einem Interview mit Didierlaurent erfahren, wo sich der Autor die Inspiration für seine Romane holt:

3 Kommentare
  1. Frank
    Frank sagte:

    Gut geschriebener Artikel. Inhalt trifft den Punkt. Schön zu lesen. Ich hole mir heute mein ältestes Buch hervor.

  2. Friederike Schmidt
    Friederike Schmidt sagte:

    Als Analog-Fan hat mir dieser Artikel besonders gut gefallen 🙂 Schön, dass es hier auch mal eine Buchbesprechung gibt! Bücher und vor allem analoge Bücher sind ein so wichtiges Medium & werden leider immer mehr vernachlässigt! Daher Daumen hoch hierfür und Danke für den guten Buchtipp :)!

  3. Elisabeth Harvey
    Elisabeth Harvey sagte:

    Thank you for the book review, and the tribute to the importance of books and reading in general! I think that even though a lot of books are accessible electronically today, reading „real“ (i.e. print) books and browsing the library or used book stores are experiences that still evoke nostalgia for a lot of people.

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