Schon öfter mal dasselbe geträumt? Oder wiederkehrende Traumszenen mit neuen Charakteren und Handlungssträngen erlebt? Wie bei einer Seifenoper bastelt sich das Unterbewusstsein gerne Wiederholungen zusammen, gerne auch dramatisch: immer wieder gejagt werden, aus der Höhe fallen oder die Kontrolle über ein Fahrzeug verlieren. Woher kommt es, dass so viele Menschen wiederkehrende Träume haben? Und was bedeuten sie?

Obwohl wiederkehrende Träume seit langem bekannt sind, hat sich die Forschung noch relativ wenig um deren Ursachen, Entstehungsbedingungen, Häufigkeit und Inhalte gekümmert. Und wenn, dann haben Traumforscher*innen auch unterschiedliche Interpretationen von wiederkehrenden Träumen: In der psychotherapeutischen Gestalttherapie zum Beispiel werden wiederkehrende Träume als Ausdruck des aktuellen psychischen Ungleichgewichts eines Individuums angesehen. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud betrachtete wiederkehrende Träume als Ausdruck eines neurotischen Wiederholungszwanges. Carl Gustav Jung wiederum glaubte, dass wiederkehrende Träume nicht nur auf das Vorhandensein eines psychischen Konflikts hinweisen, sondern dass sie auch „von besonderer Bedeutung für die Integration der Psyche“ sind. Die beiden Granden der Psychoanalyse stimmen jedoch zumindest darin überein, dass wiederkehrende Träume mit ungelösten Schwierigkeiten im Leben des Träumenden zu tun haben.

Liegt es am eigenen Wohlbefinden?

Ronald Brown und Don Donderi von der McGill Universität in Kanada untersuchten speziell den Zusammenhang von wiederkehrenden Träumen mit dem Wohlbefinden. Die Ergebnisse zeigen: Die Gruppe von Personen mit wiederkehrenden Träumen berichtete über ein geringeres Maß an Wohlbefindens als die Gruppe ohne solche Träume. Zum Beispiel seien Menschen, die häufig träumen, weniger anpassungsfähig in Bezug auf Angst, Depression, persönliche Anpassung und Stress durch Lebensereignisse. Nicht nur das, die sogenannten ‚rekurrenten‘ Träumer*innen träumten häufiger von Angst, Feindseligkeit, Versagen und Unglücksfällen.

Laut einer Studie der Harvard University aus dem Jahr 2014 treten wiederkehrende Träume bei 60 bis 75 Prozent der Erwachsenen auf und sind bei Frauen häufiger als bei Männern. Zu den häufigen Themen gehören unter anderem: angegriffen oder gejagt werden, fliegen, fallen, gefangen sein, zu spät kommen, einen Test verpassen oder durchfallen, die Kontrolle über ein Auto verlieren, einen Zahn verlieren und nackt sein.

Sich mit Ängsten und Unsicherheiten konfrontieren

Können wiederkehrende Träume eigenständig gelindert oder beseitigt werden? Bis jetzt gibt es keine einheitliche und klare wissenschaftliche Methode, aber Wissenschaftler*innen und Experten*innen haben einige solide Vorschläge. Eine kalifornische Gesundheits- und Therapie-Webseite rät, ein Schlaftagebuch zu führen, um so viele Informationen wie möglich über die eigenen Träume zu sammeln. Dies wird dabei helfen, die tieferen Gründe zu erforschen, warum diese Träume erscheinen. Wie das berühmte Sprichwort sagt: „Sich selbst zu kennen ist der Anfang der Weisheit“. Letztlich sind es wir selbst, die auf Entdeckungsreise gehen.

Im nächsten Schritt geht es darum, den wiederkehrenden Traum zu analysieren und herauszufinden, was uns der Traum sagen will, welche Bedeutung also hinter ihm steckt. Sun Tzu, ein chinesischer Militärstratege, Schriftsteller und Philosoph, sagte einmal: „Wenn man den Feind kennt und sich selbst kennt, braucht man das Ergebnis von hundert Schlachten nicht zu fürchten“. Dies gilt auch für den wiederkehrenden Traum. Wie wir wissen, können wiederkehrende Träume von ungelösten Problemen im Leben ausgelöst werden. Um sie zu verstehen, muss man also die eigenen versteckten Ängste, Unsicherheiten oder negativen Emotionen kennen, die Probleme verursachen können. Und darüber nachdenken, was einen im Moment stresst oder aufregt. Vielleicht muss man sogar tief in der Vergangenheit graben, um herauszufinden, ob es Traumata gibt, mit denen man sich noch nicht auseinandergesetzt hat. Danach ist es an der Zeit, die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen. Es ist sinnvoll Schritte zu ergreifen, um die Probleme in eigenen Leben zu lösen und den Stress zu bewältigen, egal ob es sich um die Arbeit, eine Beziehung, den Verlust eines geliebten Menschen oder etwas anderes handelt.

Wiederkehrende Träume können mit versteckten Ängsten, Unsicherheiten und negativen Emotionen zusammenhängen. © Gwendal Cottin on Unsplash

 

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Kopf mit bunter Wolke Träume

 

Ob im Film, in der Literatur oder in der Musik – traumhafte, romantische Beziehungen sind überall. Aber was ist eigentlich mit denen, die eher Alpträumen gleichen? Über die wird nicht so gern gesprochen. Carmen Maria Machado hat es in ihrem autobiografischen Roman In the Dream House dennoch getan. Willkommen im Traumhaus…

2017 gelang der damals dreißigjährigen Carmen Maria Machado, einer US-Amerikanerin mit kubanischen und österreichischen Wurzeln, der große literarische Durchbruch. Ihr Debüt, eine Kurzgeschichtensammlung, die in Deutschland unter dem Titel Ihr Körper und andere Teilhaber veröffentlicht worden ist, gewann zahlreiche Preise. 2019 erschien ihr ebenfalls vielfach ausgezeichneter, autobiografischer Roman In the Dream House, der im Oktober diesen Jahres in der deutschen Übersetzung unter dem Titel Das Archiv der Träume erscheinen wird. Im Roman berichtet die Autorin mit einer größeren zeitlichen Distanz von ihrer ersten Beziehung mit einer Frau, welche wie ein Traum beginnt. Zusammen ziehen die beiden in das titelgebende „Dream House“, ein kleines, idyllisches Haus in Bloomington, Indiana. Dort wandelt sich die Beziehung allerdings zu einem echten Alptraum, denn die Protagonistin leidet zunehmend unter dem Missbrauch ihrer namenlosen Partnerin, bis sie es schließlich schafft, sich von dieser loszulösen.

Ein (Alp-)Traum, viele Darstellungsformen

Ihren Themen widmet sich die Autorin im Roman in meist nur ein bis zwei Seiten langen Kapiteln. Sie experimentiert dabei mit verschiedenen Genres und betrachtet ihre Beziehung mittels unterschiedlicher Darstellungsmittel, vom Märchen über die Soap Opera bis hin zum Sci-Fi-Thriller. Jedes Kapitel ist nach (s)einem Darstellungsmittel benannt, wobei der Kapiteltitel immer nach dem Schema „Dream House as ____“ gefolgt vom jeweiligen Begriff aufgebaut ist. Auch popkulturelle Einflüsse wie Star Trek und A Nightmare on Elm Street sowie abstrakte Themen, beispielsweise die Apokalypse, werden als Darstellungsmittel eingesetzt.

Den Höhepunkt erreicht der Roman im interaktiven Kapitel Dream House as Choose Your Own Adventure, bei dem sich die Lesenden für verschiedene Szenarien entscheiden und zu einer bestimmten Seite springen können. Hierbei gibt es allerdings keine richtige Antwort, weder für die Lesenden, noch für die Protagonistin im Versuch, einen Streit mit ihrer Partnerin zu schlichten. Durch diese Art der Darstellung sowie die Verwendung der zweiten Person Singular lässt die Autorin die Leserschaft direkt am Alptraum teilhaben.

Das „Dream House“, das Traumhaus, ist keine Metapher, wie die Autorin bereits mit dem ersten Kapitel Dream House as Not a Metaphor feststellt. Das Traumhaus ist ein reales Haus. Es ist ein gemütliches Haus, kann sich aber jederzeit in ein Horrorhaus verwandeln, wenn die Partnerin einen plötzlichen Gewaltausbruch hat. Gleichzeitig ist es auch ein Schutzraum für Machado, die sich dann über Nacht im Badezimmer einsperrt, während ihre Partnerin versucht, die Tür einzutreten. In einem Interview mit der BBC geht Machado auf die Bedeutung von Träumen ein, welche für sie stark mit Idealisierung und Utopien einhergingen. Der „romantische Traum“, der ihr am Anfang ihrer Beziehung vorspielte, dass alles „perfekt“ oder „magisch“ sei und eine „Fantasie“ einer perfekten, idealen Beziehung kreierte, war mit dafür verantwortlich, dass es ihr schwerfiel, später den Missbrauch in der Beziehung als solchen zu benennen.

Nur psychischer Missbrauch?

Das Kapitel Dream House as Epiphany – eine Epiphanie ist eine Offenbarung – enthält nur einen einzigen Satz: „Die meisten Arten von häuslicher Gewalt sind komplett legal.“ Da psychische Gewalt für andere unsichtbar ist, wurde Machado in der Vergangenheit abgesprochen, dass sie wirklich Missbrauch erlebt hat, wie sie dem Magazin Vulture berichtete. In den Kapiteln Dream House as Myth und Dream House as Death Wish greift die Autorin diese Aberkennung psychischer Gewalt auf.

Im ersteren beschreibt sie die Reaktionen anderer, die gezwungen sind, ihren Erzählungen ohne physischen Beweis zu glauben, und ihre Erzählungen herunterspielen: „Wir wissen nicht sicher, ob es so schlimm ist, wie sie sagt. Die Frau aus dem Traumhaus scheint völlig in Ordnung zu sein, sogar nett… Liebe ist kompliziert.“ Im Kapitel Dream House as Death Wish beschreibt sie ihre „abgefuckte Fantasie“, ihren regelrechten Wunsch danach, körperlich geschlagen worden zu sein und Verletzungen davongetragen zu haben – allein um einen Beweis zu haben, für die Polizei, für die anderen, aber auch für sich selbst.

„Klarheit ist eine berauschende Droge, und du hast fast zwei Jahre ohne sie verbracht, hast geglaubt, du würdest den Verstand verlieren, hast geglaubt, du wärst das Monster, und du willst etwas Schwarz-Weißes mehr, als du je etwas auf dieser Welt gewollt hast.“

Queere Bösewichte: The Danger of a Single Story

Der zentrale Punkt des Romans ist, dass der psychische Missbrauch in einer lesbischen Beziehung stattfindet. Wie Machado selbst nach dem Ende ihrer Beziehung merkte, gibt es kaum Literatur über Missbrauch in queeren Beziehungen – dabei ist der Autorin zufolge gerade dies der spannendste Punkt. In einem Interview mit Poets and Writers sagte sie: „Es ist etwas so Interessantes an diesem Element, was es bedeutet, wenn die Person, die dich missbraucht, eine andere Frau ist, und dir wurde beigebracht, dass lesbische Beziehungen egalitär und eine Art Paradies sind.“ In den Fußnoten eines Kapitels merkt Machado an, dass Homophobie in queeren Beziehungen die gleiche „Funktion“ erfüllt wie Sexismus in heterosexuellen Beziehungen, wenn es um die Legitimation von Gewalt durch Täter*innen geht: „Ich tue das, weil ich damit durchkommen kann; ich kann damit durchkommen, weil du an einem kulturellen Rand, einer gesellschaftlichen Peripherie existierst.“

Gleichzeitig ist ihr der Erzählerin bewusst, dass queere Charaktere in Mainstreamliteratur und -filmen oft die Rolle des Bösewichts einnehmen. Machado bezeichnet dies im Roman als „Queer Villainy“ und greift hierbei den Grundgedanken aus Chimamanda Ngozi Adichies TED-Talk The Danger of a Single Story auf, der besagt, dass eine einseitige Darstellung Stereotype schafft und somit schädlich ist. Laut Machado ist diese einseitige Repräsentation queerer Menschen gefährlich, da sie „reale Assoziationen von Bösem“ schaffe. Daher plädiert sie dafür, weiterhin queere Bösewichte zu zeigen, allerdings müssten queere Charaktere dann auch in positiven Rollen zu sehen sein.

Laut der Autorin tragen Künstler*innen eine Verantwortung, wen sie als Bösewicht auswählen – daher hatte sie selbst Angst, dass In the Dream House zu dieser Bösewicht-Darstellung queerer Menschen beitragen und Stereotypien über lesbische Frauen verstärken könnte, wie sie im genannten Interview mit der BBC verriet. Das Dilemma beschreibt die Autorin selbst im Roman wie folgt: „Queere Leute brauchen diese gute PR; um für Rechte zu kämpfen, die wir nicht haben, um die zu behalten, die wir haben. Aber haben wir nicht die ganze Zeit versucht zu sagen, dass wir genau wie ihr sind?“

In the Dream House als ein Archiv der Träume

Carmen Maria Machados Roman ist – passend zum Titel der deutschsprachigen Ausgabe – ein wahres Archiv der Träume. So merkt Anna-Nina Kroll, die kürzlich den Roman ins Deutsche übersetzt hat, zum Traum-Motiv an:

„Träume kommen im Buch in allen Formen und Farben vor. Als Déjà-vus, als Alpträume, als Tagträume, als Zukunftsträume, als Träume von einer lesbischen Utopie und vor allem als (im Original) titelgebende Metapher, die besondere Kraft entwickelt, indem sie ins Gegenteil verkehrt wird.“

Durch seine besondere Form, Sprache und Thematik ist In the Dream House ein absolut einzigartiger Roman und eine nachdrückliche Lektüre, die zwar nicht immer einfach zu lesen ist, dadurch aber auch unvergesslich wird. Eine absolute Leseempfehlung – nicht nur für Träumer*innen.

 

Titelbild: © Graywolf Press 

Die Übersetzungen im Text stammen von Julia Faißt.

 

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Kopf mit bunter Wolke Träume

Tagträume können uns dabei helfen, für einen Moment dem Alltag zu entfliehen, unser Hirn beim Finden von kreativen Lösungen zu schulen, uns mit dem eigenen Inneren auseinanderzusetzen oder Pläne für die Zukunft zu schmieden. Doch was, wenn Tagträumen vom netten Zeitvertreib zu einer ausgeprägten Sucht wird?

Als Superheld*in die Welt retten, dem umschwärmten Charakter der Lieblingsserie näherkommen oder einer Zombie-Apokalypse entrinnen – mit solchen Tagträumereien hat sicher jeder schon einmal dem Eskapismus gefrönt. Ob aus Langeweile, Alltagsflucht oder als spannendes Gedankenspiel, Tagträumen als solches ist eine normale Gehirnaktivität und vollkommen unbedenklich. Problematisch wird es erst, wenn man aus der eigenen Traumwelt keinen Ausweg mehr findet und das Fantasieren zur Sucht wird. Dann gilt das Tagträumen als fehlangepasst – oder maladaptiv.

Gleichzeitiges Konsumieren und Dealen

Viele Betroffene verbringen einen Großteil ihrer Zeit in der eigenen Fantasiewelt. Dabei vernachlässigen sie schulische und berufliche Aufgaben. Sie vergessen Mahlzeiten und Hygiene und isolieren sich von Freund*innen und Familie. Jeder Anreiz kann ein Auslöser für neue Geschichten sein, mit welchen sie sich vom täglichen Leben zurückziehen. Tagträume folgen oft Idealversionen der Träumer*innen und  kompensieren damit Lebensaspekte, die ihnen selbst nicht vergönnt sind. Sie handeln von Freundschaften, Abenteuern, Ruhm und Liebe – häufig aber auch von Gewalt, Mord und Gefangenschaft. Dabei entstehen komplexe, detaillierte und lebendige Geschichten, die starke Emotionen bei den Tagträumer*innen hervorrufen.

Viele führen bei ihren Traumreisen repetitive Bewegungen aus, hören emotionsgeladene Musik oder sprechen und murmeln das Vorgestellte vor sich hin. Ähnlich wie bei anderen Süchten jagt das Beenden der Fantasien den Betroffenen oft Angst ein. Manche empfinden auch eine Art Zwang, die Geschichte bis zu einem befriedigenden Ende durchzuspielen. Und selbst wenn ein Weg aus der Traumwelt gefunden wird, gestaltet sich ein Wiederaufnehmen viel zu einfach: Schließlich ist man Konsument*in und Dealer*in in einer Person und benötigt dafür nicht einmal eine Substanz.

Das Phänomen bekommt einen Namen

2002 tritt der israelische Forscher Eli Somer mit den Ergebnissen einer Studie über dissoziative Verhaltensweisen an die Öffentlichkeit. Sechs der 24 Proband*innen berichten von einer geheimen, inneren Fantasiewelt, die ihren Alltag stark im Griff hat. Maladaptive Daydreaming tauft Somer das Leiden und plädiert für eine Aufnahme in das DSM-5, das dominierende Klassifikationssystem für psychische Erkrankungen in den USA. Die Forschungsgemeinde ist jedoch unbeeindruckt und Somer stellt seine Arbeit ein. Kurz darauf erreicht ihn eine Flut von Nachrichten Betroffener. Diese werden von ihren Ärzt*innen und Psycholog*innen nicht ernst genommen und rufen Somer dazu auf weiterzumachen. Somer und sein Team beschäftigen sich seither an der Universität Haifa mit den Ursachen, Strukturen und Funktionen des maladaptiven Tagträumens. Die neu entwickelte Maladaptive Daydreaming Scale soll die Störung diagnostizierbar machen und von anderen psychischen Erkrankungen abgrenzen.

Kindheitstrauma, Dopaminmangel oder Veranlagung?

Die Ursachen und Auslöser des maladaptiven Tagträumens sind noch nicht vollständig geklärt. Bei allen von Somer und seinem Team bisher untersuchten Proband*innen begann das intensive Tagträumen bereits im Kindesalter und war häufig mit unangenehmen Kindheitserfahrungen verbunden. Bis ins Erwachsenalter wiederholen sich oft die gleichen Motive. Ganz nach freudscher Deutung könnte das mit der Verarbeitung von Kindheitstraumata oder unausgesprochenen Wünschen und Bedürfnissen einhergehen. Somer berichtet beispielsweise von Missbrauchsopfern, welche davon träumen, als Superheld*innen die Welt zu retten. Dabei geht es häufig um eine Kompensation der eigenen Hilflosigkeit im Angesicht ihrer Vergangenheit.

Doch nicht immer sind die Tagträume von eigenen Heldentaten bestimmt: Viele Betroffene inszenieren gedanklich ihren eigenen Tod oder würzen ihre Tagträume mit anderen Tragödien. Somer vermutet dahinter eine innere Traurigkeit, welche – insbesondere für Menschen mit Traumata oder Schwierigkeiten in der Emotionsregulation – zu bedrohlich wirkt, um sie im realen Leben im selben Maß zu empfinden. Im Tagtraum wird dann ein sicherer Rahmen geschaffen, in welchem die Intensität des Schmerzes reguliert werden kann.

Doch auch fehlerhafte neurologische Abläufe im Gehirn werden als Ursache für maladaptives Tagträumen vermutet. Somer und sein Team fanden heraus, dass die häufigste parallel auftretende Erkrankung die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zu sein scheint. Die erhöhte Häufigkeit von Tagträumen bei ADHS-Betroffenen ist bereits erforscht: Die neuronalen Aktivitäten Betroffener laufen zwar ständig auf Hochtouren, die Fähigkeit zur Konzentration ermüdet jedoch durch einen Dopaminmangel enorm schnell. Das unaufhörlich weiter ratternde Hirn liefert so immer wieder neuen Input für Tagträume. Zusätzlich schüttet das Tagträumen hohe Mengen an Dopamin aus – ein gefundenes Fressen für das beeinträchtigte Belohnungszentrum des ADHS-Hirns.

Weitere Zusammenhänge wurden insbesondere mit Zwangsstörungen, Depressionen und dissoziativen Störungen festgestellt. Annehmbar ist also, dass einem krankhaften Tagträumen vor allem zunächst andere Probleme zugrunde liegen. Somer und sein Team ziehen jedoch auch eine generelle Veranlagung zu immersiven und lebhaften Tagträumen in Betracht. Einige maladaptive Tagträumer*innen stellen schon früh fest, dass sie ihre Fantasien dem echten Leben gegenüber bevorzugen, und beginnen nach und nach letzteres zu vernachlässigen. Der dadurch entstandene Stress lässt Betroffenen oft keine andere Wahl als eine erneute Flucht in die Traumwelt: ein Teufelskreis.

Die Sensibilisierung für ein Störungsbild

Trotz zahlreicher Bemühungen haben es die Forscher*innen um Eli Somer bis heute nicht geschafft, einen Eintrag des Maladaptiven Tagträumens in das DSM-5 zu erwirken. Das Phänomen sei viel zu schwer von anderen psychischen Erkrankungen abzugrenzen und ginge nicht immer eindeutig mit einem Leidensdruck einher. Doch ihre Arbeit ist keineswegs umsonst: MDler*innen – wie sich Betroffene selbst bezeichnen – organisieren sich in zahlreichen Internetforen, schreiben auf persönlichen Blogs über ihre Erfahrungen oder tauschen sich in Subreddits, also Unterforen auf der Plattform reddit, untereinander aus. Mit „Wild Minds Network“ ist sogar eine eigene Support-Website entstanden. Betroffene finden sich dort weltweit zusammen, sammeln Informationen und unterstützen sich gegenseitig bei der Bewältigung. Eli Somer und sein Team haben es in jedem Fall geschafft, den Startschuss für eine Sensibilisierung zu setzen, und der hat selbst uns in diesem Blog erreicht.

Titelbild: © Annette Linnik

 

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Kopf mit bunter Wolke Träume

Im Traum Geige lernen oder den perfekten Fallrückzieher trainieren? Für geübte Klarträumer*innen durchaus denkbar. Doch ist es wirklich so einfach, wie es klingt? Ein Gespräch mit Sportwissenschaftler und Klartraumforscher Daniel Erlacher und Psychologe Michael Schredl über luzide Träume und ihr Potenzial.

In unseren Träumen können wir alles sein: Vom Basketballprofi bis hin zum erfolgreichen Rockstar. Doch meistens bleibt es fiktives Geschehen, welches wir nicht steuern können und an das wir uns häufig nicht einmal erinnern können. Doch was passiert, wenn während des Traums klar wird, dass man träumt? Dann ist von einem Klartraum oder auch ‚luziden Traum‘ die Rede. Vielen Klarträumer*innen ist es zudem möglich, das Geschehen auch willentlich zu beeinflussen.

apl. Prof. Dr. Michael Schredl

Prof. (apl.) Dr. Michael Schredl ist wissenschaftlicher Leiter des Schlaflabors am Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim © Referat für Kommunikation und Medien, ZI Mannheim

Psychologe und Klartraumforscher Michael Schredl erklärt dazu: „Luzide Träume werden allgemein definiert als Träume, die das Bewusstsein beinhalten, dass man träumt. Dieses Bewusstsein ist das oberste Level, von dem es dann verschiedene Verzweigungen geben kann. Das kann dazu führen, dass man den Traum beeinflussen kann, es kann aber auch sein, dass man weiß, dass man nichts machen kann. Ich bin der Meinung, dass es nicht nur wichtig ist Luzidität zu üben, also ein Bewusstsein zu erlangen, sondern auch zu üben, wie man aktiv werden kann, wenn man luzide ist.“

Aktive Klarträume können demnach dazu genutzt werden, im Traum ohne Flugzeug um die Welt zu fliegen, eigene Welten zu kreieren oder durch massive Wände zu gehen. Im besten Fall können sogar Fähigkeiten aktiv erlernt oder ausgebaut werden.

Klartraumtraining im Sport

Auch Daniel Erlacher vom Institut für Sportwissenschaft der Universität Bern beschäftigt sich schon lange mit luziden Träumen. Das Klartraumtraining von Sportler*innen faszinierte ihn dabei besonders:

Prof. Dr. Daniel Erlacher

Prof. Dr. Daniel Erlacher lehrt seit ca. zehn Jahren an der Universität Bern am Institut für Sportwissenschaft © Daniel Erlacher

„Es gibt Effekte, die wir in unseren Studien nachgewiesen haben. Man kann tatsächlich im Traum trainieren, aber es ist nicht so, dass man im Traum zum 100-Meter-Sprintstar wird. Das muss man schon am Tag machen.“

Während des Klartraumtrainings im Sport gilt es zwischen den konditionellen Fähigkeiten und den Technikelementen einer Sportart zu unterscheiden: „Die konditionellen Fähigkeiten sind das, was wir uns jeden Tag mühsam antrainieren wie Kraft oder Ausdauer. Aber wenn man aufhört zu trainieren, verschwinden diese Fähigkeiten auch wieder. Der Muskel muss dafür trainieren und das passiert ja gerade nicht im Klartraum. Deshalb verbessert das Marathontraining im Schlaf nicht meine Ausdauer.“

Unter den technischen Aspekten versteht man wiederum trainierbare Fertigkeiten wie zum Beispiel eine Lauftechnik, einen Purzelbaum oder auch eine Basketballwurftechnik. Daniel Erlacher erläutert: „Das sind die Techniken, die man sich beibringt und die man auch ein Leben lang nicht mehr verlernt.“ Diese können in Klarträumen bewusst ausgeführt und somit verinnerlicht werden. Völlig losgelöst voneinander sind die beiden Elemente laut Erlacher jedoch auch nicht zu betrachten: „Durch die Verbesserung der Lauftechnik werden auch die konditionellen Ressourcen geschont, denn ein ökonomischer Laufstil braucht nicht so viel Energie. Deshalb kann das auch immer Quereffekte auf die andere Seite haben.“

Klarträumen ist Übungssache

Wer kann denn nun zum Klarträumenden werden? Zunächst eine gute Nachricht: Etwa 50 Prozent der Bevölkerung durchlaufen in ihrem Leben einen Klartraum. Dabei ist es nicht entscheidend, welche Persönlichkeitsmerkmale man mitbringt, sondern wie häufig trainiert wird. Michael Schredl illustriert:

„Ich vergleiche das gern mit Meditieren. Das heißt, dieses Bewusstsein sich zu beobachten ist nicht der normale Denkzustand, sondern braucht konstante Übung – nicht so etwas wie Fahrradfahren, das man einmal gelernt hat.“

Klarträume zu haben ist also Übungssache. Und trotzdem ist das luzide Träumen nicht allen gleichermaßen zugänglich: Manche Menschen brauchen Jahre, um ihren ersten Klartraum zu erleben, andere können es ohne intensive Übung. Lediglich 20 Prozent der Bevölkerung träumen während ihres Lebens häufiger luzide, sogar nur ein bis zwei Prozent auf regelmäßiger Basis. Eine Offenheit für Erfahrungen oder bereits vorhandene Meditationskenntnisse können das luzide Träumen laut Michael Schredl jedoch begünstigen: „Also ich glaube es gibt niemanden, der jahrelang übt und keinen Erfolg hat. Das widerspricht sich. Aber es gibt tatsächlich begabte luzide Träumer. Die sind natürlich besonders begehrt für die Laborforschung. Ich kannte eine Frau, die praktisch ohne jegliches Training mindestens drei Mal die Woche luzide Träume von richtig ausgedehnter Länge hatte.“

Welche Bereiche im Gehirn während eines Klartraums aktiv sind, darüber ist sich die Wissenschaft noch uneinig. Fest steht jedoch, dass Klarträume ausschließlich während der REM-Schlafphase stattfinden, in der sich meist auch die gewöhnlichen Träume ereignen.

Geduld und Motivation – „dann klappt es schon irgendwann“

Um Klarträume erleben zu können, braucht man vor allem eins: Geduld. Mit Hilfe verschiedenster Induktionstechniken kann die Wahrscheinlichkeit eines luziden Traums zudem beeinflusst werden. Besonders kognitiven Techniken werden dabei eine hohe Wirksamkeit nachgesagt. Tägliche Realitätschecks im Alltag können beispielsweise die Häufigkeit von Klarträumen erhöhen. Wer im Alltag mehrfach kontrolliert, ob es sich um einen Traum oder die Wirklichkeit handelt, wird diese Überprüfung auch während einer Traumsequenz durchführen und dabei eventuell zu einem Klartraum gelangen. Eine weitere kognitive Technik ist die Autosuggestion, bei der sich im Wachzustand bewusst vor Augen geführt wird, dass man im Traumzustand einen Klartraum erleben möchte.

Trotz der Anwendung erfolgsversprechender Induktionstechniken kann es am Anfang schwierig sein, so Schredl: „Ich habe auch das Klassische erlebt am Anfang. Ich habe mich beim ersten luziden Traum so darüber gefreut, dass ich luzide geworden bin, dass ich aufgewacht bin. Das ist typisch. Wenn man es erkennt, wacht man oft auf.“

Anhaltende Klarträume herbeizuführen, ist für viele also eine Herausforderung. Daniel Erlacher verrät, wie es trotzdem gelingen kann:

„Anfangen würde man mit einem Traumtagebuch, um die Traumerinnerungsrate zu steigern. Man kann die schönsten Klarträume haben – wenn man sich nicht an sie erinnert, dann wird es auch nichts mit dem Klarträumen. Und dann einfach mit den kognitiven Techniken anfangen und da geduldig bleiben und Motivation mitbringen, dann klappt es schon irgendwann.“

Titelbild: © pixabay

 

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Wem im Traum die Zähne ausfallen, muss sich nach dem Onlineportal Lexikon der Traumdeutung auf ein großes Unglück, etwa einen Trauerfall in der Familie oder eine schwere Krankheit gefasst machen. Passionierte Traumdeuter*innen und das Internet wissen immer schnell Bescheid. Doch was hat es mit diesen Deutungen eigentlich auf sich? Im Interview berichtet uns der Traumexperte Klausbernd Vollmar von der Symbolik unserer Träume. 
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Grüne Käfer, rote Schuhe oder gelbe Blumen. Farben in Träumen faszinieren uns und regen nicht selten zur Traumdeutung an. Aber was ist, wenn wir in Schwarzweiß träumen? Wie das mit unseren Medienerfahrungen zusammenhängen könnte, klärt ein Blick in die ‚Traumfarbforschung‘ der letzten hundert Jahre.  

Ein Kind sitzt auf einem Dreirad. Die Räder quietschen, das Lenkrad wackelt und der Blick nach vorne offenbart eine menschenverlassene Stadt. Unzählige Wolkenkratzer machen ihrem Namen alle Ehre und verschwinden im Grau des Himmels. Die Gassen dazwischen engen auf den ersten Blick ein. Sobald das Dreirad um die Ecke quietscht, breitet sich die Entfernung zwischen den Betonfassaden jedoch ins Unendliche aus. Eine Unendlichkeit von Schwarz-, Weiß- und Grautönen. Kein Fensterrahmen, kein Straßenschild, keine Dreiradpedale in dieser Stadt sind in Farbe getaucht. Alles ist schwarzweiß. An diesen Traum kann ich mich erinnern, seit ich Dreirad fahren kann. Zumindest glaube ich mich daran erinnern zu können. Ein Traum ganz ohne Farbe – kann das überhaupt sein?  

Traum oder Film?

Die Traumforschung ist sich darin einig, dass Sorgen, Tätigkeiten und Erfahrungen aus dem Alltag den Inhalt eines Traums beeinflussen. Meine Dreiradfahrt durch den schwarzweißen Großstadtdschungel erinnert jedoch eher an eine Szene aus einem Film Noir. In der nächsten Sequenz könnte sich ein graugekleideter Ermittler, an eine Betonwand gelehnt, seine Zigarette anzünden. Eine in Schatten getauchte Frau würde derweil in eines der Hochhäuser stöckeln, den Blick des Ermittlers auf ihrem Rücken…

Bereits 1926 sprach der Regisseur René Clair von einer besonderen Nähe zwischen Zuschauer*innen eines Kinofilms und Träumenden, die in den Bann ihres Traums gezogen werden. Der klinische Psychologe Robert Van de Castle beschreibt in seinem Buch Our Dreaming Mind tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Mediennutzung und Trauminhalten. Vor allem emotionale Szenen sollen demnach beeinflussen, welche Geschichten sich nachts in unserem Unterbewusstsein abspielen. Aber auch die formalen Aspekte von Medien scheinen sich in Träumen wiederzufinden. 1961 behauptete der Psychoanalytiker Ángel Garma sogar, Träume seien wie Stummfilme, ohne Ton oder Farbe.

Technicolor-Träume

Können Medien also auch beeinflussen, ob wir in Farbe träumen oder nicht? Die Psychologin Eva Murzyn wollte in einer 2008 veröffentlichten Studie genau diese Frage beantworten. Hintergrund dafür lieferten Unstimmigkeiten, die der Philosoph Eric Schwitzgebel feststellen konnte, als er frühe Traumstudien mit später durchgeführten Erhebungen verglich. Im frühen 20. Jahrhundert waren nicht nur Filme schwarzweiß, sondern auch Träume sollen im Regelfall keine Farben enthalten haben. In einer 1915 durchgeführten Studie träumten nur 20 Prozent der Proband*innen in Farbe. Ebenfalls im Jahr 1915 gründete der US-amerikanische Geschäftsmann Herbert Kalmus das Filmunternehmen Technicolor, welches circa vier Jahrzehnte später den Farbfilm revolutionieren sollte. Nicht ohne Grund nannten Traumforscher*innen Farbträume damals ‚Technicolor-Träume‘.

Während sich heute ganze Webseiten und Bücher der Frage widmen, was bestimmte Farben im Traum zu bedeuten haben, waren all diese Traumfarben in den Fünfzigern nur eins: Symptome einer psychischen Krankheit. Forscher*innen des St. Louis Krankenhauses in Missouri fanden diese bei psychisch erkrankten Patient*innen etwa drei Prozent häufiger als bei anderen Patient*innen des Krankenhauses. Auffällig ist nun, dass sich diese Auffassung in den Sechzigern änderte. In einer Studie von 1962 gaben rund 83 Prozent der Befragten an, in Farbe zu träumen. Parallel zu diesem neuen Farbanstrich der Traumwelt machte aber auch eine ganze Industrie Fortschritte in Richtung Farbe: die Filmindustrie.

Medien als Traumvorbilder

Die Dreistreifenkamera von Technicolor revolutionierte Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts die Filmindustrie. © Marcin Wichary

Die internationalen Kinoleinwände erstrahlten ab den Vierzigern in immer mehr Farben, Ende der Sechziger produzierte die Traumfabrik fast alle Filme in Color. Zudem besaß die Mehrheit aller US-amerikanischen Haushalte 1972 einen Farbfernseher. Farbmedien ersetzten Stück für Stück ihre schwarzweißen Vorgänger. Eva Murzyn stellt in ihrer Studie zwei Ansätze vor, die erklären, wie diese Entwicklung für den Umbruch in der Traumforschung verantwortlich sein könnte: Entweder beeinflussen Medien direkt die Traumform und somit auch die Farbgebung, oder sie beeinflussen lediglich die Annahmen darüber, wie Träume auszusehen haben. Da Träume nur selten im Langzeitgedächtnis gespeichert werden, vergisst man schnell Details zu Form und Inhalt des Geträumten.

Allein die Annahme, dass Träume typischerweise schwarzweiß sind, kann die Wahrnehmung verzerren und eigene Träume im Nachhinein farblos erscheinen lassen. Frühe Dokumentationen zu Träumen legen laut Murzyn nahe, dass Menschen vor dem 20. Jahrhundert mehrheitlich in Farbe träumten. Damals, so argumentiert die Psychologin in ihrer Dissertation, gab es auch noch keine Filme, die als Vorlage zur eigenen Realitäts- und Traumwahrnehmung dienten. Menschen, die hauptsächlich Schwarzweißfilme konsumieren, passen ihr Traumerlebnis also an das mediale Vorbild an. Die Träume erscheinen somit in Retroperspektive farblos.

Die Farben der Kindheit

Und wie kommt es, dass Menschen heute noch behaupten, schwarzweiße Träume zu haben? Eva Murzyn untersuchte in ihrer Studie die Träume von 60 Personen darauf, ob sie diese als grau oder bunt wahrnehmen. Dabei teilte sie die Proband*innen in zwei Gruppen auf: die unter 25-Jährigen und die über 55-Jährigen. Den Traumtagebüchern und Befragungen konnte Murzyn schließlich entnehmen, dass in der jungen Gruppe durchschnittlich nur etwa 4 Prozent der Träume schwarzweiß ausfallen. Die älteren Proband*innen hingegen konnte sie nochmals in zwei Gruppen spalten. Diejenigen, die bereits im Grundschulalter Farbfernsehen konsumierten, träumten zu über 90 Prozent in Farbe. Von den Studienteilnehmenden, die mit Schwarzweißmedien aufwuchsen, behauptete jede*r Vierte noch immer, in Grautönen zu träumen. „Es könnte also eine kritische Periode in der Kindheit geben, in der Filme eine wichtige Rolle dabei spielen, wie unsere Träume aussehen“, mutmaßt Murzyn. 

Der schwarzweiße Großstadttraum aus meiner Kindheit kann also noch immer nicht vollständig erklärt werden. Ich gehöre zweifellos zur Generation Farbfernsehen und träume auch sonst nicht in Grautönen. Aber wer weiß, vielleicht hat das dreiradfahrende Mädchen vor dem Schlafengehen ein paar Blicke auf einen schwarzweißen Krimi erhaschen können. Oder vielleicht verzerrte ein späterer Stummfilmmarathon die Erinnerung an die Fahrt durch den Wald aus Wolkenkratzern. Denn Medien haben eine Wirkung auf die Farbwelt unserer Träume – egal, ob sie sich bereits im Schlaf in Grautönen abspielen oder unser Gedächtnis das Geträumte erst im Nachhinein schwarzweiß einfärbt. 

© Titelbild: Unsplash

 

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Kopf mit bunter Wolke Träume

Ein Engel, ein Kreuz und vier Worte: „In hoc signo vinces“. Seltsame Träume hat jede*r. Manche verschlägt es zurück in das Klassenzimmer der 10e, andere gehen auf Traumsafari mit Joe Exotic. Aber was, wenn nicht nur die Träume selbst, sondern auch ihre Träumer*innen außergewöhnlich sind? Wir blicken auf eine Traumgeschichte der Antike. Auf Konstantin den Großen – einen römischen Kaiser, der Schlachten schlägt, Grenzen zieht und ganz nebenbei eine Weltreligion begründet. Alles wegen eines nächtlichen Traums.

Kein anderer Traum prägte die Geschichte Europas so nachhaltig wie derjenige Konstantins des Großen. Am Abend des 27. Oktober 312 bereitet Konstantin sich auf die entscheidende Schlacht gegen seinen Kaiserrivalen Maxentius vor. Das Römische Reich  befindet sich in einem Jahrzehnt des politischen Tumults. Eine Reihe von Kaisern und solchen, die es werden wollen, ringen im Westreich um die Macht. Darunter Maxentius, der Rom hält, und sein Schwager Konstantin. Im Herbst 312 marschiert Letzterer mit seiner Armee auf Rom, um die Frage nach dem kaiserlichen Purpur zu klären. Die antike Stadt ist das Herz des Kaiserreichs. Beide wissen: Wer Rom hält, hält auch die Krone. Maxentius begegnet Konstantin mit seinem Heer nördlich der Stadtmauern, an der Milvischen Brücke. Diese führt über den Tiber und verbindet die nördlichen Außenbezirke mit dem Zentrum der antiken Metropole. Damals wichtiger Knotenpunkt für den Handel, ist sie heute historisch umrahmt vom Lieferservice Ponto Milvio im Süden (hier lagerte wohl Maxentius) und einer McDonald‘s-Filiale im Norden (hier lagerte Konstantin). Beide Gastbetriebe, davon ist auszugehen, waren 312 A.D. nicht geöffnet.

„In hoc signo vinces“

Das Heer in der Unterzahl und von der Reise erschöpft, schlägt Konstantin sein Lager auf und legt sich am Vorabend der Schlacht zur Ruhe. Im bald-kaiserlichen Zelt, so berichtet sein Berater Lactantius, wird er in der Nacht von einem Engel in weißem Gewand heimgesucht. Der hält ein glühendes, goldenes Kruzifix, darunter erscheinen die Worte „In hoc signo vinces“, „In diesem Zeichen wirst du siegen“. Der friedlich schlummernde Konstantin und sein mäßig interessierter Diener, wie sie auf zahlreichen Renaissancegemälden zu sehen sind, entspringen dabei allerdings den Ideen fantasiereicher Maler ein Jahrtausend später. Dennoch weisen sie auf eine wichtige Annahme hin. In den frühen Überlieferungen steht fest: Konstantin allein sah den Engel.

Der schlafende Konstantin in Piero della Francescas Darstellung (ca. 1455). © Wikimedia Commons/Public Domain

Göttliche Träume, die Airpods der Antike

Dem angehenden Kaiser dürfte diese Darstellung aber nicht gefallen haben. Göttliche Trauminterventionen waren die Airpods der römischen Kaiserelite: Durchaus ein Statussymbol, aber bei zweiter Betrachtung viel üblicher als erhofft. Von Augustus über Nero bis Diokletian – jeder römische Kaiser, der etwas auf sich hielt, hatte auch eine Geschichte göttlicher Intervention vorzuweisen. Mal, um mit Mars einen besonders teuren Feldzug zu rechtfertigen, und mal, um zu zeigen: Meine Herrschaft ist von Jupiter gewollt. Für ein Alleinstellungsmerkmal braucht Konstantin mehr. Der christliche Historiker Eusebius, langjähriger Begleiter und selbsternannter Biograph Konstantins, legt deshalb in späteren Schriften an Pathos zu. Er will von Konstantin selbst gehört haben, wie das goldene Kreuz nicht nur in dessen Schlaf, sondern bei hellem Tageslicht vor den Augen der gesamten Armee am Himmel erschien. So schreibt Eusebius:

„Mit eigenen Augen sah er ein Kreuz aus Licht am Himmel, über der Sonne. Es trug die Inschrift In diesem Zeichen wirst du siegen. Im Anblick dessen war er selbst von Ehrfurcht ergriffen, wie auch seine Armee, die ihm folgte, und das Wunder ebenfalls bezeugte.“

Eigentlich, so urteilen historische Fachzeitschriften, schreibt Eusebius im griechischen Originaltext aber: „ἐν τούτῳ νίκα“, also „Durch dieses (Zeichen) siege“. Die lateinische Futurform „vinces“, „wirst du siegen“, wie sie später auf Münzen und Gemälden zu finden ist, sei streng genommen falsch übersetzt, sie habe sich aber dennoch durchgesetzt. Überliefert sind die von Eusebius versprochenen Zeugenberichte der Soldaten jedenfalls nicht. Und auch sonst ist die Quellenlage zur Schlacht selbst dürftig. Vision hin oder her, kann man aber doch vermuten, dass es im besten Interesse der anwesenden Soldaten war, Eusebius‘ Version der Geschichte zu bestätigen. Sieht der eigene Kaiser ein göttliches Zeichen samt Schriftzug am Himmel, dann ist am Himmel ein göttliches Zeichen zu sehen.

Fest steht, egal welcher Version der Geschichte man Glauben schenkt: Am Morgen der Schlacht lässt Konstantin in aller Eile das Christusmonogramm auf den Schilden seiner Soldaten anbringen, zieht in die Schlacht – und siegt eindeutig. Maxentius wird mit seiner ehemals-kaiserlichen Garde zurück an den Tiber gedrängt, stürzt vom Pferd und ertrinkt.

Auf Raffaels Darstellung sind Engel, Kreuz und griechische Inschrift gut zu erkennen. © Wikimedia Commons/Public Domain

Das unpopuläre Christentum als Traumautorität

Kein anderer Traum wird von Historiker*innen damals wie heute so umstritten diskutiert wie Konstantins Bekehrung zum Christentum: Ein wahres Ereignis, geplanter PR-Stunt oder vielleicht nur das Konstrukt fantasiereicher römischer Autoren? Paul Freedman, Historiker in Yale, gibt in einem Vortrag Folgendes zu bedenken: Dass Konstantin sich die öffentliche Meinung des römischen Volks oft berechnend und bewusst zunutze machte, sei kein Geheimnis. Gerade deshalb, meint Freedman, sei Konstantins Traum aber so spannend. Für die Authentizität der Erzählung sei nicht entscheidend, dass Konstantin einen göttlichen Traum gehabt habe, sondern, von wem er träumte. Denn im Gegensatz zu Nero, der sich auf etablierte römische Götter berief, habe Konstantin durch seine Vision nichts zu gewinnen gehabt. Im Gegenteil. Das frühchristliche Dogma, geprägt durch Jahrhunderte römischer Verfolgung, ist im Rom des dritten Jahrhunderts weder populär noch verbreitet. Es ist äußerst pazifistisch und wird von zahlreichen Quellen der römischen Geschichtsschreibung gar als subversiv und gefährlich wahrgenommen. Der Konsens: Das frühe Christentum steht in direktem Widerspruch zur militaristisch und disziplinär geprägten römischen Gesellschaft.

Dennoch bekennt sich Konstantin, ehemals Anhänger des Sonnengottes Sol Invictus, in dieser entscheidenden Schlacht zum unwahrscheinlichsten aller Götter, dem christlichen. Und während die Aufrichtigkeit seines Wandels heute Thema hitziger akademischer Debatten ist, kann man das Ausmaß der Folgen nicht abstreiten. In den ersten Jahren seiner Herrschaft legalisiert er das Christentum, erhebt eine Reihe von Kirchenbeamten in politische Ämter und gesteht der Kirche großzügige Steuererlässe zu. Später baut er sogar Kirchen und zieht gegen seine paganen Mitkaiser im Osten in den Krieg. Während die Christen noch unter Konstantins Vorkaiser Diokletian zu einer verfolgten Minderheit gehörten, entwickelten sie sich nun zur bestimmenden Kraft im römischen Reich. In Zahlen: Historiker*innen schätzen, dass zum Tod Konstantins im Jahr 337 etwa die Hälfte aller römischer Staatsbürger Christen waren. Fünfzig Jahre später steigt die Zahl auf neunzig Prozent. Ob Konstantin selbst an den Gott der Christen glaubte, lässt sich allerdings nicht mit Gewissheit sagen. Genauso wenig, ob er sich der Tragkraft seiner Entscheidung bewusst war. Sicher konnte er nicht ahnen, geschweige denn wissen, dass er Patron einer aufstrebenden Weltreligion war, die den europäischen Kontinent für die nächsten zwei Jahrtausende mit ihren Taten und Untaten prägen würde. Aber vielleicht hat er zumindest davon geträumt.

Titelbild: © Wikimedia Commons/Public Domain

 

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Kopf mit bunter Wolke Träume

 

Ob Traumberuf, Traumgewicht oder der Traum vom eigenen Haus – Träume sind genauso vielfältig wie die Möglichkeiten, sie in die Tat umzusetzen. Warum es wichtig ist, einen Wunschtraum zum Ziel zu machen und welche Rolle dabei Wille und Motivation spielen, erklärt Motivationspsychologin Marlies Pinnow.

‚Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum‘ – dieser Postkartenspruch ist wahrscheinlich jedem schon einmal ins Auge gefallen. Doch leider geben uns solche mehr oder weniger inspirierenden Weisheiten in der Regel keine Anleitungen, wie wir einen Wunschtraum in die Tat umsetzen. Wenn wir von unseren Träumen reden, sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass ein Traum aus psychologischer Sicht als Wunsch zu begreifen ist.

Motivationsforscherin Marlies Pinnow erklärt den Unterschied zwischen Träumen und Zielen: „Ziele sind mit einem konkreten Handlungsplan verbunden und liegen in nicht allzu weiter Ferne. So ein Traum oder Wunschtraum kann ein ganzes Leben strukturieren. Denken wir mal an extreme Träume, wie zum Beispiel, weltbeste Pianistin zu werden. Da weiß ich zunächst gar nicht so konkret, was ich tun soll. Ich kann keine To-Do-Liste dafür erstellen, sondern ich richte einfach mein Leben auf etwas aus.“ Zwar könnten auch Ziele unterschiedlich weit in der Zukunft liegen, diese sollten jedoch möglichst mit einer Zeitmarke und einem Handlungsplan verknüpft werden, um sie in die Tat umzusetzen.

Die promovierte Psychologin Pinnow weiß, dass sich viele Menschen in Wunschträumen verlieren, die fernab der Realität liegen. Das Setzen von unrealistischen Zielen führe dann wiederum dazu, in Demotivation zu verfallen. Viele würden sich beispielsweise beim Abnehmen in realitätsfernen Wunschvorstellungen verlieren – obwohl bereits vermeintlich kleine Gewichtserfolge schon förderlich für die Gesundheit sein könnten: „Das Problem dabei ist, wenn diese Menschen ihr Wunschziel nicht erreichen, dann kippen sie häufig komplett in ihr Ernährungsverhalten vor Therapiebeginn zurück. Dieser Wunsch an sich hat schon eine energetisierende Wirkung, aber sobald der wegfällt, sieht das Leben auf einmal ganz anders aus.“

Marlies Pinnow forscht an der Ruhr-Universität Bochum zu den Themen Selbstregulation und -kontrolle.
© Marlies Pinnow

Machen oder Grübeln

Nicht allen Menschen fällt die Verwirklichung von Zielen gleichermaßen leicht. Während die einen als handlungsorientierte ‚Macher*innen‘ gelten, die ihr Ziel konsequent im Auge behalten, fokussieren sich die lageorientierten ‚Grübler*innen‘ hauptsächlich auf die Gegenwart und mögliche Misserfolge. „Diese Leute haben zwar auch Ziele, aber sie schaffen es nicht direkt, in die Handlungsphase zu kommen. Die bleiben in der Planung stecken, weil sie auf einmal anfangen, zielhinderliche Informationen aufzunehmen, statt sich auf die Zielumsetzung zu fokussieren“, so Pinnow. Dazu gehören beispielsweise Studierende, die dazu neigen, Prüfungen aufzuschieben. Hierbei sei es wichtig, sich der eigenen Motivation bewusst zu werden: „Was hält mich davon ab, mein Studium abzuschließen? Wird die Zielsetzung wirklich von meiner eigenen Motivation gestützt oder habe ich eigentlich ganz andere Wünsche und möchte lieber Tischler werden?“ Doch Macher*innen sollten nicht per se als der bessere Typ Mensch aufgefasst werden. Die Eigenschaften lageorientierter Menschen seien ebenso notwendig, etwa um mögliche Problematiken zu erkennen: „Macher sind zwar sehr viel schneller in ihrer Entscheidung, was zu tun ist, aber Grübler sind letztendlich mit ihren Entscheidungen häufig zufriedener.“

Den Rubikon überschreiten

Unsere Motivation hat einen Einfluss darauf, ob wir unser Ziel erreichen. Im Gespräch mit Marlies Pinnow wird jedoch schnell deutlich, dass hinter diesem Konzept mehr steckt als nur ein positives Mindset: „Jeder hat einen Begriff von Motivation, aber der hat meistens wenig mit dem zu tun, was wir in der Forschung darunter verstehen.“ Zwar gilt die Motivation als eine entscheidende Komponente, um seine Wünsche in die Tat umzusetzen, für den Weg bis zur Zielerreichung braucht es jedoch mehr.

Mit dem Rubikonmodell werden in der Motivationsforschung vier Phasen erfasst, die jede Person mit einem Ziel vor Augen durchlaufen sollte: Abwägen, Planen, Handeln und Bewerten. In der ersten, motivationalen Phase müssen wir unsere Wünsche gegeneinander abwägen. Hier gilt es, sich zu überlegen: Welche Visionen kann ich am ehesten in die Tat umsetzen? Was ist ein erstrebenswertes Ziel für mich? „In der motivationalen Phase sollte ich ganz offen sein, damit ich auch wirklich das für mich richtige Ziel finde“, betont Pinnow. Am Ende dieser Phase überschreiten wir also den Rubikon – indem wir uns ein verbindliches und realistisches Ziel setzen: „Die motivationale Bewusstseinslage wird quasi in dem Moment gestoppt, wo ich mich an ein Ziel binde und sage, dass ich das jetzt wirklich will.“

In kleinen Schritten zum Ziel

Allein damit ist es jedoch noch nicht geschafft. Um unserem Ziel ein Stück näherzukommen, muss der Übergang in die sogenannte ‚volitionale‘, also den Willen betreffende Phase stattfinden, in der die Handlungsplanung und -umsetzung im Vordergrund steht. Zweifeln am eigentlichen Ziel sollte hier kein Raum gegeben werden, sagt Marlies Pinnow: „Da sollten ganz andere Merkmale in den Vordergrund treten. Konkurrierende Informationen, die einen hindern, das jetzt umzusetzen, müssen in der volitionalen Bewusstseinslage einfach unterdrückt werden.“ Die Volition jedoch sei besonders kräftezehrend, weshalb die eigentliche Motivation nicht aus dem Blickfeld verschwinden sollte: „Motivation kann auch Kraft geben. Sich immer wieder zu fragen, warum man das Ziel eigentlich erreichen will, ist ungeheuer wichtig. Eine Patientin, die abnehmen wollte, hatte sich ihr Hochzeitskleid auf den Kühlschrank geklebt – und sie hat ihr Ziel auch erreicht.“

Um große und kleine Wunschträume zu verwirklichen, sollten wir diese immer wieder mit konkreten Unterzielen verknüpfen – ansonsten bleibt der Fortschritt unbemerkt. Als Beispiel nennt Marlies Pinnow den Extrem-Bergsteiger Reinhold Messner, der zu Fuß die Antarktis durchquerte: „Dazu gehört, dass man sich ganz kleine Ziele setzt und jeden Tag eine bestimmte Kilometeranzahl in der Kälte zurücklegt. Beim Besteigen des K2 hatte er sein Ziel vor Augen – den Gipfel. Diese Strategien auch wechseln zu können, also lang- und kurzfristige Ziele zu setzen, ist sehr sinnvoll.“ Die Psychologin verweist zudem darauf, bei der Zielplanung auch konkrete Hindernisse zu berücksichtigen – ein Vorgehen, das vor allem auf die Motivationspsychologin Gabriele Oettingen zurückzuführen ist. Marlies Pinnow jedoch ist davon überzeugt, dass wir Träume ebenso brauchen wie Ziele: „Träume geben unserem Leben Sinn. Wir brauchen Wünsche, aber eben auch ein Regulativ, dass man wirklich nicht absolut in die Leere läuft.“

© Titelbild: Unsplash

 

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Was haben Platon und Billie Eilish gemeinsam? Abgesehen von einer großen Fanbase ist es die Beschäftigung mit dem Phänomen des Traums. In ihrem Debütalbum griff die junge Sängerin ein jahrtausendealtes Rätsel auf: Wo gehen wir eigentlich hin, wenn wir einschlafen? Auf diese Frage wissen weder Philosoph*innen noch Popstars eine definitive Antwort. Letztere können das Thema aber immerhin musikalisch verarbeiten. Eilishs Album wirkt wie eine surreale Reise durch die verschiedenen Dimensionen des Traums.

Ein kleines Schlafzimmer, irgendwo in Los Angeles, Mitte der 2010er-Jahre: Hier wird nicht nur geträumt, sondern auch Musik gemacht. Gemeinsam mit Finneas O’Connell – ihrem Bruder und Produzenten – nimmt Billie Eilish ihr erstes Album größtenteils zu Hause auf. Was auf wenigen Quadratmetern beginnt, endet in ausverkauften Konzerthallen: Das Album bringt der jungen Sängerin weltweite Anerkennung, fünf Grammys und Millionen von Fans.

Für Billie Eilish ist es ein wahrgewordener Traum – in mehr als nur einem Sinne. Wie die Titelfrage When we all fall asleep, where do we go? andeutet, dreht sich das 2019 erschienene Album um das Rätsel des Träumens. Billie Eilish sieht ihr Werk als eine musikalische Interpretation des Traumhaften. Obwohl es nicht in jedem der 14 Songs explizit um Träume geht, zieht sich eine typisch traumartige Surrealität durch das gesamte Album. 

Die (alp)traumhafte Welt der Billie Eilish

Eilish kennt sich mit außergewöhnlichen Traumerfahrungen aus. In Interviews behauptete sie wiederholt, sie träume stets luzid und könne ihren Traum wie ein Computerspiel steuern. Neben Klarträumen habe sie auch Wahrträume, in denen sie von Dingen träumt, die sich in der Zukunft ereignenAuch Alpträume plagen die Künstlerin, manchmal kehrt derselbe furchtbare Traum jede Nacht über Monate hinweg wieder. Zudem erlebte sie mehrmals eine Schlafparalyse.

Bei der Schlafparalyse oder Schlafstarre kehrt das Bewusstsein eines Schlafenden zurück, während er sich in der Muskellähmung befindet, die in der REM-Phase des Schlafs auftritt. Für die Paralysierten ist es meist ein zutiefst erschütterndes Erlebnis. Als wäre die Lähmung nicht schlimm genug, sind Schlafparalysen oft mit erschreckenden Halluzinationen verbunden. Viele Menschen sehen schwarze Schattengestalten oder spüren die Präsenz böswilliger Dämonen. Auch für Billie Eilish waren diese Erfahrungen sehr beängstigend und unangenehm – aber dennoch nützlich. 

Auch Schatten brauchen Liebe

Billie Eilish Albumcover

Billie Eilish schlüpft auf dem Cover ihres ersten Albums in die Rolle eines Nacht-Dämons. © Universal Music

Ohne Nachtschrecken wäre ihr Debütalbum gar nicht entstanden. Der erste Funken, der den kreativen Prozess zu diesem Projekt entfachte, war Bury a Friend – eine musikalische Darstellung der Schlafparalyse, in der Billie Eilish selbst in die Rolle des Dämons schlüpft. Diese Idee spiegelt sich auch auf dem Album-Cover wider: Mit teuflischem Grinsen sitzt die Künstlerin auf einem Bett, ihre ausgefüllten Augenhöhlen leuchten in der Dunkelheit. Billie Eilishs Identifikation mit dem Dämonischen knüpft an psychologische Erklärungen an, die Schreckenshalluzinationen auf unbewusste und verdrängte Aspekte der Psyche zurückführen.

Nach Carl Gustav Jung hat jeder Mensch einen „Schatten“ – eine destruktive und böswillige Seite, die  unter der Fassade der Ich-Persönlichkeit verborgen liegt. Der Schatten kann nicht bekämpft werden. Stattdessen sollte ein Individuum diesem Aspekt des Selbst bewusst begegnen und ihn produktiv in die Persönlichkeit eingliedern. Bury a Friend echot eine solche Konfrontation mit dem Bösen. „Why don’t you run from me, Why aren’t you scared of me“ und „Why do you care for me?“ fragt der Dämon in den ersten Zeilen des Songtexts. Er ist ganz verwundert über die Aufmerksamkeit und Zuneigung, die ihm nur selten zuteil wird. Trotzdem macht er es dem Träumer nicht leicht und bleibt ganz im Sinne des Jung’schen Schattens eine mysteriöse Gestalt: „Keep you in the dark – what had you expected?“

Ein Zahnbohrer als Instrument

Musikalisch wird die Horror-Atmosphäre durch minimalistische Instrumentalbegleitung, ein schauriges G-Moll und einen relativ schnellen Beat (120 Schläge pro Minute) untermalt. Letzteres könnte für den rasenden Herzschlag des Alpträumenden stehen. Doch das Sahnehäubchen auf dieser Alptraumtorte ist ein eher unkonventionelles ‚Instrument‘: In Bury a friend kommt der Klang eines Zahnbohrers zum Einsatz. Außergewöhnliche Töne tauchen im gesamten Album auf. Im Refrain von Bad Guy kommt zum Beispiel das Ticken einer australischen Fußgängerampel vor. Ganz zu Beginn des Albums hört man außerdem, wie Billie Eilish ihre Zahnspange herausnimmt (was wiederum zur Traumthematik passt – sie nimmt die Spange heraus, um sich bettfertig zu machen). Im Schlaf verarbeiten wir Alltagserlebnisse zu Träumen, in Billie Eilishs traumhaftem Album verwandelt sie Alltagsgeräusche in Musik.

Teufel, Drogen und Zuckerwatte

Die Tracklist des Albums ist sehr vielfältig, auch wenn die düstere Stimmung des tongebenden Bury a friend vorherrscht. Auch in anderen Songs beschäftigt sich Billie Eilish mit dem Bösen: Vom Dämon in Bury a friend entwickelt sie sich in All the good girls go to hell zu Satan höchstpersönlich weiter. Wie im Traum schlüpft Billie Eilish in verschiedene Rollen, verarbeitet Ängste und lebt geheime Wünsche aus: You should see me in a crown ist eine größenwahnsinnige Machtfantasie, Ilomilo ein stiller Sehnsuchtstraum und Xanny handelt von der Angst, gute Freunde an Drogen zu verlieren. Auch der typische Traum vom Fall kommt vor in einem sehr drastischen Kontext: In Listen before I go beabsichtigt das lyrische Ich vom Hochhaus zu springen. Doch das Album ist kein reiner Alptraum: Auch fröhliche und unbeschwerte Tracks sind dabei, etwa 8. Die kindliche Gesangsstimme und Ukulele-Begleitung lassen wie einen Zuckerwattentraum aus der Fantasie einer Achtjährigen klingen.

Wenn Träume Träume erfüllen

Billie Eilish betonte in Interviews immer wieder, wie persönlich ihr Debütalbum für sie ist. Nach einer genaueren Betrachtung wird klar, warum: Das Album ist ein Querschnitt ihrer Psyche – so wie die Träume, die sie dazu inspiriert haben. Im Endeffekt haben diese Billie Eilish zu ihrem sensationellen Erfolg als Musikerin verholfen: Ihre Träume erfüllten ihren Traum. Für ihre Grammys kann sie dem Schlafparalyse-Dämon danken. 

 

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Kopf mit bunter Wolke Träume

Träume: Nur absurd-konfuse Bilder vor unseren Augen oder steckt mehr dahinter? Oft fragt man sich, ob diese Nachtgespenster etwas mitteilen wollen. Laut Sigmund Freud tun sie das tatsächlich – zwar nicht als Weissagung über die Zukunft, sondern als Auskunft über uns selbst.

Mit seinem Werk Die Traumdeutung bringt Freud 1899 eine neue Sichtweise in die bestehenden Traumtheorien. Sein Ansatz liegt in der Psychoanalyse: Wenn Menschen schlafen, verarbeitet ihr Unterbewusstsein alle möglichen Reize und Anregungen des Tages, welche dann in Form des Traums an das schlummernde Bewusstsein weitergereicht werden. Als tragendes Motiv der Traumentstehung benennt Freud dabei die ‚Wunscherfüllung‘. Jeder Traum ist laut ihm eine Erfüllung eines Wunsches oder mehrerer Wünsche, was bei manchen Träumen offensichtlich ist und bei anderen nur durch tiefgehende Analyse herausgearbeitet werden kann. Denn unser Geist macht es uns nicht immer leicht, die eigentlichen Gedanken der Traumbilder zu erkennen – sonst wäre die Selbstreflektion wohl zu einfach. Doch was ist der Grund für diese Bilderrätsel im Kopf?

Der innere Kampf gegen sich selbst

Sigmund Freud

Deutete Träume als Tor in unsere Psyche: Sigmund Freud. © Wikimedia-Commons / Max Halberstadt

Freud zufolge sträuben wir uns ganz natürlich gegen gewisse Wünsche und unterdrücken sie, sowohl bewusst als auch unbewusst. Beispiele wären: Sich wünschen, an einer unschönen Situation nicht die Schuld tragen zu müssen. Oder jemandem etwas ‚Schlechtes‘ wünschen. Wenn wir dann schlafen, kommen manche dieser Gedanken wieder ans innere Tageslicht. Das kann man sich so vorstellen, dass in uns eine psychische Instanz das letzte Tagesgeschehen prüft und Anregungen findet, welche im Unterbewusstsein verdrängte Wünsche aufwirbeln. Die Instanz stellt dann den sogenannten ‚latenten Traumgedanken‘ her, der einen Wunsch aufgreift, welcher uns beschäftigt. Doch es gibt laut Freud auch eine zweite psychische Macht, die eine Art Kontrollfunktion ausübt. Wenn der Inhalt des Traumgedankens dieser zweiten Instanz nicht gefällt, wird der Wunsch entsprechend ‚zensiert‘. Der Inhalt des Traums wird dann vertauscht und verkleidet, um verstörende Elemente, die nicht ans Bewusstsein gelangen sollen, herauszufiltern. Diesen Streitprozess der zwei Instanzen nennt Freud die ‚Traumarbeit. Die Traumarbeit überträgt letztlich den latenten Traumgedanken auf einen ‚manifesten Trauminhalt‘, also jene durcheinander gewürfelten, audiovisuellen Bilder, an welche wir uns nach dem Aufwachen erinnern. Dabei bedient sich die erste Instanz einer Menge Tricks, um der Zensur der zweiten Instanz zu entgehen.

Verschiebung: Das Irrelevante im Scheinwerferlicht

Traumarbeit

Freuds Methoden bei der ‚Traumarbeit‘. © Franziska Frank

Um den Traumgedanken nun in entstellter Form so zu verpacken, dass er nicht der Zensur unterliegt, werden insbesondere zwei Methoden bei der Traumarbeit genutzt: Die ‚Verschiebung‘ und die ‚Verdichtung. Verschiebung bedeutet, dass der Fokus des Trauminhalts nicht auf den eigentlichen Kern des Traumgedanken, sondern auf etwas Anderes gesetzt wird. Nebensächliches wird in den Vordergrund gerückt und stattdessen mit dem eigentlichen Traumgedanken assoziiert. Dafür werden laut Freud häufig die Erinnerungen des letzten Tages als Anregung verwendet, da diese noch nicht mit anderen Gedankengängen übermäßig assoziiert wurden und somit ‚frisches‘ Material darstellen. Als Beispiel schildert Freud einen Traum, in welchem er in einer selbstgeschriebenen botanischen Monografie blättert. Hinterher erinnert er sich, tags zuvor ein ähnliches Buch im Schaufenster gesehen und nicht weiter beachtet zu haben. Doch sein Unterbewusstsein habe eine Assoziation hergestellt: Freud hatte vor Jahren einen Aufsatz zur Cocapflanze verfasst, welcher die Aufmerksamkeit eines Doktors erregte und diesen auf die Idee von medizinischer Verwendung von Kokain brachte. Freud erzählt, dass er letztens daran erinnert wurde, als er eine Festschrift der Erfolge des Herrn erhielt. Er fühlt, beim Erfolg des Doktors unberücksichtigt geblieben zu sein. Diese Erinnerung sei der eigentliche Auslöser der Wunscherfüllung – „Ich habe den Erfolg auch verdient“ – aber die Verschiebung habe den neidischen Gedanken entstellt und mit dem gesehenen Buch im Schaufenster verknüpft. Woher kommt die Verbindung? Der Verfasser der Festschrift, welcher Freud begegnete, hieß Gärtner, dessen Frau wurde von Freud als blühend wahrgenommen.

Verdichtung: Eins bedeutet vieles

Die zweite Methode nennt Freud ‚Verdichtung. Das heißt, dass der Traumgedanke mehrmals im Trauminhalt eingewebt wird. Das kann sich in Form von starker Kompression mehrere Assoziationen zeigen. Ein Objekt im Traum kann also vieles auf einmal bedeuten. Zugleich werden einander ähnliche Assoziationen als Einheit zusammengefasst, sodass sich zum Beispiel ‚Mischpersonen‘ bilden. So entstehen komprimierte Trauminhalte, hinter denen eigentlich eine Menge mehr steckt. Freud beschreibt beispielhaft einen Traum, in welchem er eine Mischung der Gesichter seines Onkels und eines Freundes vor sich sieht. In seiner Analyse bewertet er beide Personen als „Schwachköpfe“, was der Wunscherfüllung seines Traumes diente. Die Verdichtung soll also bewirken, dass so viel wie möglich vom mit der Wunschvorstellung verknüpften Inhalt zusammengepresst wird.

Typische Träume und ihre Bedeutung nach Freud
Nacktheit im Traum Hinweis auf unerlaubten Wunsch mit kindlichem Ursprung
Tod von Personen Wunsch nach Abwesenheit mit kindlichem Ursprung
Prüfung im Traum Träumer spürt Verantwortungsdruck, Traum erinnert an bereits gemeisterte Situation
Man kommt nicht von der Stelle Willenskonflikt zu einem Wunsch zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein

Traumdeutung als Königsdisziplin der Psychoanalyse

Freuds Werk „Die Traumdeutung“ mit Plüschtieren auf einem Kopfkissen

Freud ist überzeugt, dass die meisten verdrängten Wünsche in unserer Kindheit begründet werden. © Franziska Frank

Freud zufolge stellen Träume als Wunsch-Erfüller ein Tor in unsere Psyche und eine Möglichkeit dar, uns selbst besser zu verstehen. Das liegt unter anderem an seiner Überzeugung, dass die meisten verdrängten Wünsche in unserer Kindheit begründet werden und uns noch bis ins Erwachsenenalter begleiten. Auch Wünsche, die uns peinlich sind oder heutzutage erschrecken würden. Freud zufolge wäre das zum Beispiel der unerlaubte Wunsch nach sexuellem Verkehr mit einem Elternteil. Er argumentiert, dass solche Wunscherfüllungen dann zu den sogenannten Alpträumen führen, weil ein Interessenskonflikt zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein aufgedeckt wird. Das Bewusstsein erschrickt dann über den Ausdruck des Wunsches.

Freuds Traumtheorie wird bis heute angewendet, diskutiert und kritisiert. Alfred Adler und Carl Gustav Jung, beide jeweils Begründer anderer Gebiete der Psychologie, bemängeln an der Traumdeutung den Fokus auf Sexualität, die laut Freud bei der (oft kindlichen) Wunschentwicklung eine tragende Rolle spielt. Freud spricht auch jedem einzelnen Traum einen Sinn zu, und wenn man die Wunscherfüllung nicht erkennen kann, so liegt es seiner Ansicht nach an einer mangelhaften Deutung. Überprüfbar sind Traumdeutungen letztendlich nicht, da wir keinen Blick in das Unterbewusstsein werfen können.

Aber wer möchte, kann in den nächsten Nächten ja ganz bewusst über seine Träume nachdenken – und sich fragen, ob geheimnisvolle Wünsche dahinter lauern.

Titelbild: © Franziska Frank

 

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