Man stelle sich vor, man wäre nur ein Gehirn, angeschlossen an einen Computer, der die Wahrnehmungen und Sinneseindrücke steuert. Alles wäre lediglich eine Simulation. Spätestens seit der Erfindung von Virtual Reality ist dieses Szenario zumindest im weitesten Sinne greifbar geworden. Das Gedankenexperiment selbst ist jedoch schon mehrere Jahrhunderte alt. Als erster Denker der abendländischen Philosophie formulierte René Descartes ein Unterscheidungskriterium zwischen Traum und Realität.

„Haben Sie nie in den Komödien diese Worte des Erstaunens gehört: Wache ich, oder träume ich?“ Diese Worte schreibt René Descartes Mitte des 17. Jahrhunderts in seiner für Christina von Schweden angefertigten Schrift Recherche de la vérité (Erforschung der Wahrheit). Die Frage, die Descartes hier aufwirft, war jedoch nicht nur Stoff für Literatur und Theater der frühen Neuzeit, sondern bildete auch einen zentralen Angelpunkt für Descartes’ Metaphysik und Philosophie. Bereits im antiken Griechenland mutmaßte der Philosoph Platon, dass das, was wir Leben nennen, ein Traum sein könnte, während das, was wir Traum nennen, das Leben ist. Ein erster Versuch, diese Jahrhunderte alte Frage zu beantworten, fand 1619 in Form von drei Träumen seinen Anfang.

Descartes am Tisch mit Christina von Schweden. Mitte des 17. Jahrhunderts wechselten der Philosoph und die Königin Briefe, in denen Descartes unter anderem auch die Traumfrage aufwarf. © Wikimedia Commons

Von bösen Geistern, Gewissensbissen und dem Lebensweg

Im Alter von 23 Jahren tritt René Descartes dem Heer Bayerns bei. In der Nacht vom 10. zum 11. November 1619 hat der Mathematiker und Philosoph drei Träume, die sein späteres Schaffen entscheidend mitgestalten sollen. In einem Winterquartier in der Nähe von Ulm träumt er nacheinander von einem bösen Geist, der ihn davon abzuhalten versucht, die nahe Kirche zu erreichen, von Gewissensbissen und einem Donnerschlag, der den Geist der Wahrheit in ihn treiben soll, und schließlich von einem Lexikon. Die ersten beiden Träume erschrecken Descartes so sehr, dass er Traum und Wirklichkeit kurzzeitig nicht mehr voneinander unterscheiden kann. Im dritten Traum kann er jedoch noch im Zuge des Aufwachens feststellen, dass es sich um einen Traum handelt. „Quod vitae sectabor iter?“ (Welchen Lebensweg werde ich wählen?) Diesen Satz erblickt er im Lexikon innerhalb seines dritten und letzten Traums der Nacht. Der junge Philosoph deutet dies als Offenbarun – die Träume motivieren ihn, die Suche nach der Wahrheit zeitlebens zu verfolgen.

Ich träume, also bin ich

Achtzehn Jahre nach seiner schicksalshaften Nacht bezieht er sich in seinem Werk Discours de la Méthode (Abhandlung über die Methode) auf jene drei Träume. So haben diese ihn gelehrt, dass die Philosophie mit dem Zweifel anzufangen habe. Zweifelhaft ist nach Descartes alles, wofür es keinen expliziten Beweis gibt. Weder unsere Sinneseindrücke noch mathematische Beweise sind sicher vor diesem Zweifel. Seine eigenen Erfahrungen mit Träumen lehrten Descartes, dass auch die eigene Körperwahrnehmung eine Illusion sein kann. In seinem Werk Meditationes de prima philosophia (Meditationen über die Erste Philosophie) findet der böse Geist aus seinem ersten Traum der Novembernacht 1619 Einzug in Descartes’ Philosophie. Die gedankliche Figur des Genius Malignus repräsentiert einen Täuschergott, der uns die Realität vorgaukelt. Descartes führt dabei das Beispiel eines Stabs an, der im Wasser steht. Durch die Lichtbrechung im Wasser wirkt es so, als wäre der Stab gebrochen, auch wenn er das in Wahrheit nicht ist. Die Außenwelt könne uns also täuschen. Angesichts dieser Täuschungsmöglichkeiten und Zweifel ist für Descartes nur eines sicher: „Cogito ergo sum“ – Ich denke, also bin ich. Das eigene Bewusstsein bleibt bestehen, die eigene kognitive Existenz ist somit gesichert.

„Zu träumen ist in sich etwas Wirkliches.“ (Matthias Vollet)

Der Philosoph Matthias Vollet ist an der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte als Geschäftsführer und akademischer Leiter tätig. © Matthias Vollet

Matthias Vollet, Philosoph und Geschäftsführer der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte, sieht innerhalb der Meditationes eine kleine Öffnung, durch die der Traum doch mehr ist als reine ‚Nicht-Wirklichkeit‘: „Auch wenn ich träume, so bin doch ich es, der träumt. Das heißt, dieses Argument des Cogito gilt auch für Träume. Zu träumen ist in sich etwas Wirkliches“. Während also sowohl der Inhalt eines Traums als auch derjenige der geglaubten Realität reine Täuschung sein kann, ist die Einbildungskraft in beiden Fällen real. Das Ich existiert – auch im Traum.

Vollkommenheit und Kohärenz als Beweis

Auf der Suche nach einem Beweisgang für die Außenwelt zieht Descartes seinen Gottesbeweis heran. Kurz gefasst könne jegliche reale Idee nur von einer ebenso realen äußeren Ursache herrühren. Da nur Gott vollkommen sei, könne auch nur dieser als Ursache für die Vorstellung ebendieser Vollkommenheit dienen. „Und zu dieser Perfektion gehört, dass dieses perfekte Wesen auch existiert“, erklärt Matthias Vollet. „Das ist eine Form des Gottesbeweises, die aus dem Mittelalter stammt. Descartes hatte ja sehr viele Dinge aus dem Mittelalter noch in sich“. Die Perfektion Gottes gewährleistet wiederum auch, dass er uns nicht täuscht, da dies ein unvollkommener Akt wäre. Das Leben könne demnach kein Traum sein.

Was unterscheidet also den Wach- vom Traumzustand? Das Wachleben, so argumentiert Descartes, ist kohärent, einzelne Gedankengänge hängen zusammen. Matthias Vollet definiert diese Kohärenz anhand von zwei ‚Kohärenzachsen‘: „In den zwei Erlebnisachsen, Raum und Zeit, muss es einen durchgehenden Zusammenhang geben, der nicht mehr assoziativ ist, sondern das eine unmittelbar an das andere andocken lässt“. Der Traum zeichnet sich wiederum durch Brüche im Zusammenhang der Erfahrungen aus. Zum Ende seiner Meditationes kommt Descartes das Traumargument beinahe lächerlich vor: Der Unterschied zwischen Wach- und Traumleben sei offensichtlich, Träume sind nicht real.

Das Gehirn im Tank

Die Frage nach der Wirklichkeit ist für die Philosophie damit längst nicht abschließend geklärt. Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts äußern mehrere Philosophen mit dem Gedankenexperiment Gehirn im Tank Zweifel an der erlebten Wirklichkeit und knüpfen so direkt an Descartes’ Gedanken an. Die Täuschung geht hier jedoch nicht von einem bösen Geist aus, sondern von einem Supercomputer, mit dem unser Gehirn vernetzt ist. Dieser würde unsere Synapsen gezielt stimulieren, so dass der Anschein einer ganzen Welt entsteht – ganz wie es etwa in den Filmen der Matrix-Trilogie umgesetzt wurde.

„Wir haben ein materielles Substrat. Wir haben etwas, also ein Gehirn, das auch noch in etwas ist, nämlichen einem Tank.“ (Matthias Vollet)

Für Matthias Vollet ist hier die philosophische Perspektive entscheidend: Aus einer materialistischen Perspektive „handelt es sich ja doch tatsächlich um ein Gehirn im Tank. Das heißt, wir haben ein materielles Substrat. Wir haben etwas, also ein Gehirn, das auch noch in etwas ist, nämlichen einem Tank. Und dann wird davon ausgegangen, dass sich in diesem Gehirn Bewusstseinsprozesse abspielen“. Eine dualistische Perspektive, wie sie Descartes vertritt, würde in diesem Gehirn einen Geist verorten, der die Außenwelt vorgespielt bekommt. „Insofern hätte das schon etwas Kartesisches. Und doppeltkartesisch dadurch, dass es dann tatsächlich für dieses Gehirn einen Genius Malignus gäbe, von dem das Gehirn vielleicht nichts weiß“, sagt Matthias Vollet.

Mit den heutigen Möglichkeiten von Virtual Reality scheint die Vorstellung, dass das Leben nur eine Simulation ist, vielleicht nicht so abwegig, wie die eines bösen Täuschergottes. Das Prinzip bleibt dennoch gleich. Die Möglichkeit, dass wir zwischen Simulation und Realität, zwischen Traum und Wirklichkeit nicht unterscheiden können, kann vermutlich nie völlig ausgeschlossen werden. Eine Gewissheit bleibt jedoch: Unsere Gedanken und Gefühle sind echt, und das auch im Traum.

© Titelbild: Pixabay

 

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Kopf mit bunter Wolke Träume

Im März 1933 kommen Hitler und die Nationalsozialisten an die Macht. Wenig später beginnt Charlotte Beradt, die Träume ihrer Mitmenschen zu sammeln. Die deutsch-jüdische Journalistin spricht mit Verwandten, Nachbarn, mit einem Unternehmer, Schneiderinnen, Ärzten und mit dem Milchmann. Sechs Jahre lang dokumentiert sie, wie das totalitäre System zuerst die Träume und dann das Leben ausfüllt. 1939 muss sie fliehen, 1966 erscheint ihr Buch: Das Dritte Reich des Traums. Was leisten Träume als historische Quellen?  

„Der einzige Mensch, der in Deutschland noch ein Privatleben führt, ist jemand, der schläft.“ So beschreibt NS-Reichsorganisationsleiter Robert Ley schon 1934 die totale Konsolidierung politischer und kultureller Macht durch das nationalsozialistische Regime. Zwischen staatlichem Terror, politischer Gleichschaltung und allgegenwärtiger Propaganda schufen die Nationalsozialisten** schon früh und in vollem Bewusstsein das Fundament für die Verbrechen des kommenden Jahrzehnts. Mit denselben Worten beginnt Charlotte Beradts Buch Das Dritte Reich des Traums – ein ungewöhnliches, fesselndes Werk, das völlig unverdient in Vergessenheit geraten ist. Heute fristet es ein Nischendasein zwischen Antiquariaten, FAZ-Literaturkritiken und fragwürdigen musikalischen Neuinterpretationen. Dabei ist die Entstehungsgeschichte des Werks mindestens so spannend wie die geschilderten Träume selbst.

Geheime Träume im Dritten Reich

Charlotte Beradt, damals 26, lebt in Berlin, als die Nationalsozialisten an die Macht kommen. Sie arbeitet als Journalistin, bis der Staat ihr noch im gleichen Jahr das Berufsverbot ausspricht. Im Zuge der Massenverhaftungen von Kommunist*innen und Sozialist*innen nach dem Reichstagsbrand wird sie gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Journalisten und Schriftsteller Heinz Pol, inhaftiert. Als sie wenig später freikommt, leidet Beradt unter Alpträumen und allgegenwärtigen Ängsten der Verfolgung. Sie beginnt, die Träume der Menschen in ihrem Umfeld zu sammeln: säkulare, jüdische Bürger*innen aus der Mittelklasse.  

Nach dem Reichtagsbrand wurde Charlotte Beradt vom NS-Regime verhaftet. Ihre Träume ließen sie fortan nicht mehr los. © Wikimedia Commons

„Nutznießer des Systems oder begeisterte Jasager waren mir schwer zugänglich und ihre inneren Reaktionen (…) ohnehin nicht aufschlussreich. Ich fragte Schneiderin, Nachbar, Tante, Milchmann, Freund, fast immer ohne Preisgabe des Zweckes, denn ich wollte möglichst ungefärbte Antworten“, schreibt Beradt über ihr Vorhaben. Und so sammelt sie in den folgenden sechs Jahren im Geheimen die Träume von über dreihundert Menschen. Um sich selbst und die Befragten zu schützen, versteckt sie die Texte im Deckel anderer Bücher. Manche sendet sie getarnt als Briefe ins Ausland, in wieder anderen chiffriert sie die Namen von bedeutenden Nazis: Aus Hitler wird Onkel Hans, aus Goebbels Gerhard, und die Partei nennt sie Familie. Fünfzig dieser Träume veröffentlicht sie 1966 aus dem Exil in New York als Buch: Das Dritte Reich des Traums. 

Heute schwer zu finden: Die deutsche Erstauflage, Nympenburger-Verlag, 1966.

Der Traum des Herrn S.

Erster Impuls für ihr Vorhaben ist der Traum eines befreundeten Fabrikbesitzers, des Herrn S. Drei Tage nach der Machtübernahme träumt er, wie Goebbels persönlich in seine Fabrik kommt. Er lässt die Arbeiter*innen in zwei Reihen, rechts und links, antreten. 

„Dazwischen muss ich stehen, und meinen Arm zum Hitlergruß heben. Es kostet mich eine halbe Stunde, den Arm, millimeterweise, hochzubekommen. Goebbels sieht meinen Anstrengungen wie einem Schauspiel zu, ohne Beifalls-, ohne Mißfallensäußerung. Aber als ich den Arm endlich oben habe, sagt er fünf Worte: ‚Ich wünsche Ihren Gruß nicht‘, dreht sich um und geht zur Tür. So stehe ich in meinem eigenen Betrieb, zwischen meinen eigenen Leuten, am Pranger, mit gehobenem Arm. Ich bin körperlich dazu nur imstande, indem ich meine Augen auf seinen Klumpfuß hefte, während er hinaushinkt. Bis ich aufwache, stehe ich so.“ 

Das Bild handlungsunfähiger Träumender, die zum passiven Objekt, zum Opfer der Willkür eines totalitären Staates werden, ist in den gesammelten Träumen omnipräsent. Beradt betont: Was Herrn S. zustieß, sei zwar traurig, aber eben keine Tragödie. Es sei vielmehr das typische und gewollte Geschehen im Zuge des Umwandlungsprozesses, den das System an ihm vornehme. „Er ist nicht einmal zum Nicht-Helden, er ist zur Nicht-Person geworden.“ In späteren Briefen erläutert sie, weshalb diese erste Erzählung sie so bewegte: „Der Traum des Fabrikbesitzers, der direkt aus der Werkstatt des totalen Regimes zu kommen schien, wo der Mechanismus seines Funktionierens erzeugt wird, festigte in mir einen Gedanken, den ich schon flüchtig gehabt hatte: daß Träume wie dieser nicht verlorengehen sollten. (…) Ich fing also an, von der Diktatur diktierte Träume zu sammeln“. 

Zwischen Repräsentativität und Authentizität 

Teils kollektives Traumtagebuch, teils literarisches Werk, bewegt Beradts Buch sich in einem Spannungsfeld zwischen Repräsentativität und Authentizität. Einerseits fehlen die objektiven Standards und die methodische Nachvollziehbarkeit, die für jegliche Form der Verallgemeinerbarkeit notwendig wären. Das ist gewiss dem Entstehungskontext geschuldet: Alle Erzählungen beruhen auf schriftlichen und mündlichen Erinnerungen der rund dreihundert Befragten, alle Subjekte eines totalitären Regimes. Ob eine Verzerrung der Traumberichte stattfand, sei es in den ursprünglichen Schilderungen der Träumenden selbst oder durch die Autorin in zweiter Instanz, ist nicht mehr nachzuvollziehen. 

Andererseits sind die Träume in ihrer Klarheit auf beängstigende Weise authentisch, geradezu prophetisch. Selten reflektieren Beradts Subjekte bloß das Erlebte. Oft schildern sie stattdessen in Deutlichkeit das, was bevorsteht. Da ist etwa der jüdische Anwalt, der 1935 im Traum durch Lappland flieht, auf der Suche nach dem „letzten Land der Welt, wo Juden noch gelitten sind“. Der Zollbeamte, ein Deutscher, lässt ihn nicht durch. „Du bist Jude“, schreit er, und wirft seinen Pass zurück aufs Eis. Beradt bemerkt, dass sich „die Träume aus dem Jahr 1933 nicht sehr von denen aus späteren Jahren“ unterschieden: „Meine aufschlussreichsten stammen aber aus den ersten Jahren des noch leise tretenden Regimes in seinem Urzustand.“ Während das öffentliche Leben vielerorts noch unberührt ist, wird das totalitäre System in den Träumen der frühen Dreißiger bereits manifest. Isolation, Kontrolle in allen Bereichen des Lebens, Auslöschung des Individuums.

Im Kapitel „Das wandlose Leben“ berichtet ein Arzt von einem Traum, den er im Winter 1933 hat.

„Während ich mich nach der Sprechstunde, etwa gegen neun Uhr abends, mit einem Buch über Matthias Grünewald friedlich auf dem Sofa ausstrecken will, wird mein Zimmer, meine Wohnung plötzlich wandlos. Ich sehe mich entsetzt um, alle Wohnungen, soweit das Auge reicht, haben keine Wände mehr. Ich höre einen Lautsprecher brüllen: ‚Laut Erlaß zur Abschaffung von Wänden vom 17. des Monats.’“ 

Beeindruckt von seinem Traum, hält er ihn am kommenden Morgen schriftlich fest. In der Folgenacht träumt er, er werde beschuldigt, Träume aufzuschreiben. So kündigt sich ihm der kommende Totalitarismus im Schlaf an. Eine Nacht später träumt er: „Ich lebe auf dem Meeresgrund, um unsichtbar zu bleiben, nachdem die Wohnungen öffentlich geworden sind.“ 

Nähe und Abgrenzung zur Traumdeutung

Charlotte Beradts Portrait in der englischsprachigen Erstveröffentlichung, 1968. ©️ openlibrary.org

Wer in Beradts Werk Bezüge zur Traumdeutung und zur Psychoanalyse nach Jung sieht, liegt nicht falsch. Mehrmals beschreibt Beradt, wenn auch nie explizit, was man als das kollektive Unbewusste verstehen könnte: „Träume scheinen zwar die Wirkung äußeren politischen Geschehens im menschlichen Innern minuziös aufzuzeichnen wie ein Seismograph, doch sie stammen aus einer unwillentlichen psychischen Tätigkeit. Sie scheinen voller Aufschlüsse über die Affekte und Motive von Menschen während ihrer Einschaltung als Rädchen in den totalen Mechanismus“.  

Doch in der entscheidenden Sache trennt sich Beradt dann von der Tradition der großen Traumtheorien. Freud und Jung wollen die Wirklichkeit interpretativ erschließen. Sie wollen verstehen, was Träume für das Individuum bedeuten. Damit sind sie unausweichlich angewiesen auf einen „Versteher“ – einen, der wach ist, während andere träumen. Beradt beansprucht keine solche Sonderstellung für sich. Ihr Verständnisinteresse ist stets politisch motiviert, stets kollektiv und immer im Kontext des nationalsozialistischen Regimes. Den praktischen Nutzen ihrer Traumsammlung definiert sie gleich zu Beginn: „So könnten Traumbilder die Struktur einer Wirklichkeit deuten helfen, die sich gerade anschickte, zum Alptraum zu werden.“ 

Doch Beradt sieht nicht mehr und nicht weniger als ihre Befragten. Gerade weil die Theorie verstummt, haben die Träume hier Raum zum Sprechen. Beradt bewegt sich ohne Urteil, ohne Interpretation zwischen den Traumerzählungen. Sie wird Zeugin von Angst, von Ohnmacht und vom daraus resultierenden Schamgefühl. „Die meisten wollten ihre quälenden Träume vergessen, jedenfalls sprachen sie nicht gern darüber.“  

„Aber wir haben nichts mehr“

Das letzte Kapitel widmet Charlotte Beradt ihren jüdischen Mitbürger*innen und denen, die Widerstand leisten. Wenn auch nur im Traum. Da ist etwa der wiederkehrende Traum einer älteren jüdischen Frau.

„Mein Mann und ich waren in ein weit entferntes Land emigriert. Wir waren ganz allein, niemand half uns. ‚Warum heben wir kein Geld vom Sparbuch ab?‘ fragte ich meinen Mann. ‚Da ist nichts mehr drauf.‘ ‚Dann hol doch Geld bei der Bank.‘ ‚Wir haben nichts mehr.‘ ‚Dann hol was aus dem Safe.‘ ‚Da ist auch nichts mehr drin.‘ ‚Dann nimms aus Deinem Portemonnaie.‘ ‚Aber wir haben nichts mehr.‘ Die Alpträume ihres Mannes gingen noch weiter: Als ihm Hitler – wie im Märchen – die Erfüllung eines Wunschs gewährt, antwortet er ohne zu zögern: ‚Ein Paß für mich und meine Frau.‘ „

Es folgt der einzige Tyrannenmord im Buch.  

„Ich träume oft, ich fliege über Nürnberg, fische mit einem Lasso Hitler mitten aus dem Parteitage heraus und versenke ihn zwischen England und Deutschland im Meer. Manchmal fliege ich weiter nach England und erzähle der Regierung, zuweilen Churchill selbst, wo Hitler geblieben ist und daß ich es getan habe.“ 

Bildgewaltig, aber kein bloßes Beiwerk: Illustration für einen Magazinartikel, den Beradt 1939 aus dem Exil in New York schreibt.

Träume im Vordergrund

Die Träume in Das Dritte Reich des Traums sind kein illustrierendes Beiwerk zum Buch – sie sind das Buch. Und gerade weil Charlotte Beradt sie so prominent in den Vordergrund stellt, sprechen sie lauter als jede Interpretation. Beradt gelingt es, die Perfidität der nationalsozialistischen Diktatur ganz abseits von Zahlen und Ereignissen auf besondere Art bloßzustellen: Der autoritäre Staat, nachdem er bis in die letzten Fasern des sozialen und privaten Lebens vorgedrungen ist, erhebt den ultimativen Anspruch: die Gedanken und Träume seiner Subjekte zu bestimmen. „Der einzige Mensch, der in Deutschland noch ein Privatleben führt, ist jemand, der schläft.“ Und so mag es sein, dass am Ende auch Robert Ley, der 1945 Suizid beging, die eigens gebaute Tyrannei unterschätzte. Charlotte Beradt aber sollte Recht behalten. Und während die Verbrechen der Nationalsozialisten immer weiter von der Welt des Erlebten in die Welt des Erzählten rücken, ist ihr Werk aktueller denn je:

„Es festigte sich in mir der Gedanke, den ich schon flüchtig gehabt hatte: daß Träume wie dieser nicht verlorengehen sollten. Sie könnten zur Evidenz gehören, wenn dem Regime als Zeitphänomen einmal der Prozeß gemacht würde.“

 

** Da die zentralen Machtpositionen im Nationalsozialismus von Männern besetzt waren, wurde in diesem Beitrag an wenigen Stellen bewusst auf gendersensible Sprache verzichtet. Das heißt nicht, dass andere Geschlechter aus der Verantwortung genommen werden, sondern soll lediglich eine Diskussion über die Frage anregen, wie angesichts historischer Stoffe angemessen gegendert werden kann.

 

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Kopf mit bunter Wolke Träume

Traumfänger sind im alltäglichen Leben längst der breiten Masse bekannt. Doch woher kommen die aufwendig verzierten und gefiederten Kunsthandwerke? Auf dem fernen westlichen Kontinent verbinden die indigenen Völker sie mit spirituellem Glauben und Legenden. Welche Bedeutung hat der Traumfänger als Kulturgut, und was für Gedanken wurden darin eingewebt?

Rebecca Netzel ist promovierte Linguistin und Lektorin an der Universität Heidelberg. © Rebecca Netzel

Mit der Geschichte des Traumfängers kennt sich Rebecca Netzel von der Universität Heidelberg bestens aus. Sie arbeitet am Institut für Übersetzen und Dolmetschen als Dozentin, engagiert sich jedoch außerdem ehrenamtlich für die indigenen Völker. Als Sprachforscherin und Expertin zur Sprache und Kultur der Lakota hat sie mehrere Bücher verfasst und wurde zudem von einer Familie des Lakota-Stammes adoptiert.

Ihren Ursprung finden die Traumfänger bei den Native Americans. Träume haben für die indigenen Völker dort eine wichtige Bedeutung: Sie glauben, dass diese die Seelen der Träumenden aktiv beeinflussen. So könne ein Traum beispielsweise spirituelle Stärke vermitteln, aber auch negative Gedanken oder Geister einlassen. Um vor diesen bösen Träumen zu schützen, wird ein Traumfänger über das Bett gehängt, wo er die ersten Strahlen der Morgensonne einfangen kann. Die Native Americans glauben, dass das Sonnenlicht die nachts gefangenen, schlechten Gedanken neutralisiert. Laut Rebecca Netzel streiten die einzelnen Tribes scherzhaft darum, bei welchem Tribe die Traumfänger genau ihren Ursprung nehmen. Allerdings sei der genaue Ursprung mittlerweile wohl nicht mehr zu ermitteln, da die Kulturgedanken des Traumfänger immer wieder untereinander ausgetauscht und einzeln weiterentwickelt wurden. Es handelt sich also um ein intertribales Kulturgut der Native Americans.

„Traumfänger“ heißt wörtlich „Spinnennetz“

Für die Zierfedern am Traumfänger werden flaumige Konturfedern bevorzugt. © Couleur auf Pixabay

Die Materialien für einen originalen Traumfänger stammen dabei alle aus der Natur: Zweige, Sehnen und Federn. Beispielsweise ein runder Zweig der Red Willow (Glattblättrigen Weide) wird in Kreisform gezogen, getrocknet und mit Fasern einer großen Brennnessel oder Lederstreifen umwickelt. Sehnen werden so in die Mitte eingeflochten, dass es einem Spinnennetz gleicht. Verziert wird der Traumfänger mit flaumigen Naturfedern, welche die Verbindung zur Luft symbolisieren. In die Mitte des Netzes kommt nun noch eine Perle oder ein Halbedelstein. Eventuelle zusätzliche Materialien sind optionales Beiwerk und dienen der Dekoration. Rebecca Netzel zufolge lautet das Wort für „Traumfänger“ in der Sprache der Lakota übrigens „Iktómi tawókashke“, was wörtlich übersetzt „Spinnennetz“ bedeutet.

„Gerade von der ganzheitlich-ökologischen Denkweise der Native Americans können wir in Zeiten des Klimawandels und Artensterbens viel lernen.“ – Rebecca Netzel

Zwei verschiedene Ursprungs-Legenden

Um den Traumfänger ranken sich verschiedene Legenden, und viele der indigenen Völker haben ihre eigene Fassung. Eines haben sie jedoch gemeinsam: Es ist immer eine Spinne, die das Netz des ersten Traumfängers gewoben hat. Zwei Geschichten, die der Ojibwe und des Lakota Tribes, sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden.

Die Gestaltung des originalen Traumfängers basiert auf einem Spinnennetz. © Albrecht Fietz auf Pixabay

Die Sage der Ojibwe handelt von einer Göttin der Erde, die als „Spinnenfrau (oder „Asibikaashi“) bezeichnet wird. Die Spinnenfrau kümmert sich um alle Menschen und insbesondere um die Kinder. Als die Völker sich in alle Ecken des Landes ausbreiteten, wurde es jedoch für sie schwieriger, auf alle Kinder achtzugeben. Daher lehrte sie die Mütter und Großmütter, Spinnennetze aus Weidenreifen und Sehnen zu weben, um die Kinder an ihrer Stelle nachts zu beschützen.

Die Sage der Lakota erzählt hingegen von einem Treffen zwischen dem alten geistlichen Führer der Lakota und „Iktomi“, einem Trickster und Weisheitslehrer, der die Gestalt einer Spinne angenommen hat. Der Lakota-Führer begab sich auf einen hohen Berg und erhielt dort eine Vision von Iktomi. Die Spinne erzählte von dem Wandel des Kindes bis zum Greis, der sich wieder um neue Kinder kümmert – und dass sich dadurch ein Kreislauf bildet. Doch diese Harmonie der Natur und des Großen Geistes könne von guten und bösen Kräften beeinflusst werden. Wenn man auf die bösen Kräfte höre, so würde man in eine falsche Richtung gelenkt und könne Schaden nehmen. Während Iktomi sprach, nahm er sich den Weidenring des alten Lakota, welcher mit Perlen, Federn und vielem mehr geschmückt war, und spann in dessen Mitte ein Netz. Als er fertig damit war, gab er dem alten Mann den Ring zurück und erklärte ihm, dass er das Netz nutzen könne, um seinem Tribe zu helfen. Wenn er an den Großen Geist glaube, werde es die guten Kräfte auffangen und die schlechten durch das Loch in der Mitte des Netzes entweichen lassen.

Laut Rebecca Netzel herrscht übrigens innerhalb der indigenen Völker Uneinigkeit darüber, ob die Traumfänger nun die guten Gedanken einfangen und die schlechten passieren lassen oder ob sie die schlechten Träume einfangen und die guten Träume weiterziehen. Letztlich bleibt jedoch der gemeinsame Zweck der Traumfänger derselbe.

„Egal, wie man es betrachtet: Der Traumfänger filtert die guten Träume heraus und sorgt so für einen gesunden, entspannten Schlaf!“ – Rebecca Netzel

Zweckentfremdung wird belächelt

Heute sind Traumfänger in allen möglichen Varianten und Gestaltungen erhältlich. © Lela Cargill auf Pixabay

Auch wenn die Traumfänger den Geschichten nach hauptsächlich für Kinder gemacht sind, so werden sie im Grunde auch an Erwachsene verschenkt – gute Träume helfen schließlich in jedem Alter. Dem Glauben der Native Americans nach sollte man die Traumfänger immer im Schlafzimmer über der Schlafstelle aufhängen, wo das Morgenlicht auf sie trifft. Andere Platzierungen (wie zum Beispiel im Auto) seien weniger effektiv. Dass die Kunsthandwerke mittlerweile auf der ganzen Welt verbreitet sind und von anderen Kulturen sehr verschieden genutzt werden, stört die indigenen Völker aber laut Netzel wenig. Wenn die Traumfänger zweckentfremdet werden, so wird das nur belächelt – ein religiöses Tabu wird damit aber nicht gebrochen. In manchen indianischen Reservaten werden Traumfänger in unterschiedlichen Größen und Ausführungen sogar selbst zum Kauf angeboten. Beispiele wären der Onlineshop des Akta Lakota Museum & Cultural Center oder NativeAmericanVault.

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Kopf mit bunter Wolke Träume

 

Über ihn und seine Deutung wurden ganze Lexika geschrieben, er galt als medizinisches Diagnose- und Heilmittel und beeinflusste das Leben der Mächtigen wie der kleinen Leute: der Traum in der Antike. In unserem Beitrag liefern aber nicht die großen Philosophen Aristoteles und Cicero die interessantesten Beiträge, sondern der griechische Traumdeuter Artemidor, dem Sigmund Freud große Anerkennung entgegenbrachte…

Für die Menschen in der Antike hatten Träume eine große Bedeutung, denn sie wurden als Botschaften der Götter betrachtet. Sie hatten zudem, wie der Historiker Gregor Weber in einem Artikel für das Handbuch Traum und Schlaf schreibt, einen „prognostischen Wert“, sagten also die Zukunft voraus. Träume bzw. ihre Deutungen waren daher im Bereich der Wahrsagekunst sehr wichtig. Forscher*innen nehmen an, dass es aus diesem Grund sehr viele Bücher über Träume und die Traumdeutung gegeben haben muss. Vollständig überliefert wurde aber einzig das Traumdeutungsbuch, die Oneirokritika, des griechischen Traumdeuters Artemidor aus dem zweiten Jahrhundert n. Chr.

Artemidors Traumdeutungsbuch – antiker Vorreiter der heutigen Traumdeutung

Artemidors Oneirokritika ist als theoretische Grundlegung der Traumdeutung so wesentlich, dass sogar Sigmund Freud sein Interesse daran bekundet hat. Insgesamt führt das antike Traumlexikon etwa 1.400 Traummotive und 3.000 Deutungen auf. Die waren zum einen für Menschen gedacht, die nach einem Traum erst mal selbst zu einem Lexikon greifen wollten, bevor sie Traumdeuter*innen aufsuchten. Zum anderen verfasste Artemidor das Traumbuch aber auch für seinen Sohn, der dadurch die Traumdeutung erlernen und in die Fußstapfen seines Vaters treten sollte.

Eine antike Traumdeutung lief folgendermaßen ab: Zunächst entschieden die Traumdeutenden, ob es sich um einen bedeutungsvollen oder unbedeutenden Traum handelte. Dann wurde die Form des Traumes untersucht. Man unterschied dabei zwischen offenen und allegorischen Träumen. Dabei waren nur die allegorischen, die auch entschlüsselt werden mussten, von Interesse für Artemidor: Bei der anschließenden Auslegung des Traumes berücksichtigte der antike Traumdeuter nicht ausschließlich den Traum, sondern auch Faktoren wie die individuelle Situation der Träumenden, ihre Lebensumstände, ihre Gemütslage und auch lokale Sitten und Bräuche. Träume waren damit für Artemidor „kulturell determiniert“, wie die Altphilologin Marion Giebel in ihrem Buch Träume in der Antike erklärt.

Die ersten vier Bücher der Oneirokritika umfassen Klassifizierungen von Träumen, das fünfte Buch enthält Fallbeispiele für Träume, die in Erfüllung gegangen sind. Dort erzählt Artemidor unter anderem: „Es träumte einer, er werde von einer Frau, die er seit langem kannte, verfolgt. Sie wollte ihm eine Paenula, wie dieses Übergewand auf lateinisch heißt, umlegen, deren Naht vorne aufgetrennt war. Schließlich sei er gegen seinen Willen dazu gezwungen worden. Die Frau, die in ihn verliebt war, heiratete ihn, obwohl er nicht wollte, aber nach wenigen Jahren trennte sie sich von ihm; die Paenula war ja aufgetrennt.“

Das Verzehren von süßen Äpfeln bedeutet reichen Liebesgenuss

Artemidor geht in seinem Werk systematisch vor, indem er verschiedene Kategorien aufführt: Angefangen bei der Geburt, dem Körper und einzelnen Körperteilen über Kleidung, Freizeit, Tiere und Lebensmittel bis hin zu Göttern, erklärt die Philologin und Historikerin Laura Hermes in ihrem Buch Traum und Traumdeutung in der Antike. Durch die klare Struktur ermöglichte Artemidor seinen Leser*innen, schnell fündig zu werden, wenn sie ihren Traum deuten wollten. Seine anschaulichen Beschreibungen verschiedener Traummotive lesen sich auch heute noch gut, wie diese Beispiele verdeutlichen:

Nach Artemidor bedeuten süße Äpfel Glück in der Liebe, saure Äpfel sagen Konflikte voraus. © Wikimedia Commons

Äpfel: „Der Anblick und das Verzehren von süßen, reifen Sommeräpfeln ist gut; es bedeutet reichen Liebesgenuß, besonders denen, die um eine Frau oder Geliebte werben, denn der Apfel ist der Aphrodite geweiht. Saure Äpfel dagegen bezeichnen Aufruhr und Streitigkeiten; denn sie sind der Eris zugehörig. Die Winteräpfel, die man auch Quitten nennt, bringen wegen ihrer zusammenziehenden Wirkung Kummer.“

Artemidor warnt in seinem Traumdeutungsbuch vor Hunden.

Artemidor warnt in seinem Traumdeutungsbuch vor Hunden. © Wikimedia Commons

Hunde: „Fremde Hunde, die einen anwedeln, bedeuten Anschläge und Hinterhältigkeiten von nichtswürdigen Kerlen oder Weibern und, wenn sie beißen oder bellen, Gewalt- und Übeltaten; des näheren prophezeien die weißen Hunde offene, die schwarzen heimliche, die rötlichen nicht ganz offene, die gefleckten ziemlich schlimme Gewaltakte. Sie ähneln nämlich ganz und gar nicht adeligen oder freien, sondern gewalttätigen und unverschämten Menschen.“

Träumen Menschen von Zeus, haben sie Glück, Segen und Reichtum.

Träumen Menschen von Zeus, haben sie Glück, Segen und Reichtum. © Wikimedia Commons

Götter: „Zeus selbst zu schauen, so wie wir ihn uns vorzustellen pflegen, oder sein Standbild mit der ihm eigentümlichen Kleidung ist für einen Herrscher und für einen Reichen glückverheißend; denn es festigt des ersteren Stellung, des letzteren Reichtum. Einem Kranken verheißt er Genesung, und auch den übrigen Menschen bringt er Segen. Immer ist es besser, den Gott ruhig stehen oder auf seinem Throne sitzen und ohne Bewegung zu sehen; bewegt er sich jedoch, so bringt er Glück, wenn er sich nach Sonnenaufgang wendet; Unglück aber, wenn nach Sonnenuntergang, ebenso wenn er nicht die ihm eigentümliche Kleidung trägt.“

Götter, so glaubte man jedoch, erschienen viel eher den Mächtigen und Herrschenden im Traum als der Allgemeinheit, weshalb Herrschende nicht selten eigene Traumdeuter*innen auf ihrem Anwesen beschäftigten. Die Träume der Mächtigen hatten große Auswirkungen auf das Leben aller Menschen. So denke man beispielsweise an den römischen Kaiser Konstantin, der von der christlichen Kreuzsymbolik träumte, daraufhin die Schlacht bei der Milvischen Brücke gegen seinen Rivalen Maxentius gewann und das Christentum zur Staatsreligion erhob.

Zweifel an Götterbotschaften

Marion Giebel erklärt, dass es in der Antike Mediziner*innen gegeben hat, die Träume weniger auf eine göttliche Einflussnahme, sondern beispielsweise auf einen vollen Magen zurückführten. Auch der Philosoph Aristoteles glaubte nicht an göttliche Einwirkungen und begründete das damit, dass nicht nur Menschen, sondern auch Tiere träumen. Und auch Cicero hinterfragte die Annahme, dass Träume Botschaften der Götter seien: Götter würden doch viel eher einem wachen, aufnahmefähigen Menschen eine Botschaft überbringen und sich klar und unmissverständlich ausdrücken. Für Cicero war es zudem kein Wunder, dass manche Träume auch einmal wahr werden, wenn man bedenkt, dass Menschen jede einzelne Nacht schlafen und träumen.

Träume waren Bestandteil der Medizin

Die antike Medizin ging bereits davon aus, dass in Träumen die „Reste der Dinge“, also das, was am Tag passiert ist, verarbeitet werden, so Marion Giebel. Auch Sigmund Freud spricht in seiner Traumdeutung von „Tagesresten“. Aus antiker medizinischer Sicht waren solche Träume sehr wichtig für die Gesundheit, da so die Probleme, die am Tag aufgetaucht waren, verarbeitet werden konnten. Daneben gab es aber noch die Träume, die Ungewohntes zeigten. Solche Träume wurden als negativ gewertet und die Mediziner betrachteten sie als Zeichen bzw. Diagnosemittel für Krankheiten.

Der Heilgott Asklepios erschien Kranken im Traum in Epidauros, Pergamon und auf Kos

Der Heilgott Asklepios erschien Kranken im Traum. © Wikimedia Commons

Die Menschen fanden im Traum aber auch die Heilung ihrer Krankheit: In der Antike war die Praxis der Trauminkubation, auch Tempelschlaf genannt, weit verbreitet und Bestandteil der Medizin. Dabei gingen kranke Menschen zu bestimmten Kultstätten und hofften darauf, dass ihnen im Traum der Heilgott Asklepios erschien und die Heilung ihrer Krankheit aufzeigte oder sie gar selbst heilte.

Zum ganzen Prozedere gehörten auch bestimmte Riten wie Opfergaben, Waschungen und Gebete. Die Menschen legten sich dann in der Halle nieder und warteten darauf, dass ihnen der Gott entweder im Traum oder aber auch im Wachzustand, als eine Art Vision, erschien. Viele der Heilungen wurden in Inschriften festgehalten. Im bedeutendsten Asklepios-Heiligtum in Epidauros fanden Forscher*innen mehrere Stelen mit solchen Heilungserzählungen. Sie stammen etwa aus den Jahren 350 bis 300 v. Chr. In einer Inschrift, wie Marion Giebel erklärt, heißt es beispielsweise: „Andromache aus Epirus wegen Kinderwunsch. Diese schlief im Heiligtum und sah einen Traum. Sie träumte, ein schöner Knabe deckte sie auf, und dann berührte sie der Gott mit der Hand. Darauf bekam Andromache einen Sohn von Arybbas.“

Die Ruinen des antiken Abaton in Epidauros, in dem sich einst Kranke eine göttliche Heilung erträumten

Die Ruinen des antiken Abaton in Epidauros, in dem sich einst Kranke eine göttliche Heilung erträumten. © Wikimedia Commons

Träume spielten also bereits in der Antike eine besondere Rolle für die Menschen. Damals wurden sie als Botschaften aus der Götterwelt verstanden, die gedeutet werden mussten. Neben Lexika waren dafür auch ausgebildete Traumdeutende sehr gefragt, denn Träume konnten die Zukunft vorhersagen und damit auch Anzeichen für Krankheiten sein. Als medizinische Praxis anerkannt, legten sich die Erkrankten in heiligen Tempeln nieder und hofften auf eine traumhafte Heilung durch den Gott Asklepios.

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Kopf mit bunter Wolke Träume

 

Brennende Giraffen, weiche Uhren und Elefanten auf Stelzenbeinen – in Salvador Dalís träumerischen Sphären ist alles möglich. Der Mann mit dem kunstvoll gezwirbelten Schnurrbart schafft es, unterdrückte Fantasien, Alpträume und Kindheitserinnerungen sichtbar werden zu lassen. Ein Beitrag darüber, wie Dalí Traum und Unterbewusstsein als Inspirationsquelle nutzt, um surreale Bildwelten zu erschaffen.

Schemenhafte Figuren, die über einem Meer zu schweben scheinen, umhüllt von gelblich-grünen Nebelschwaden. Gelenkt wird der Blick unmittelbar auf den Mittelpunkt, welchen die schwebenden Personen umrahmen: Vier diagonal nach außen gerichtete Lichtstrahlen entspringen hinter der Gestalt eines schnauzbärtigen Mannes, der mit ausgestreckten Armen in der Luft hängt. Es ist Salvador Dalí. Gleich zweimal lässt sich das Abbild des Künstlers hier, im Mittelpunkt seiner eigenen Traumvision, wiederfinden. Schwebt Dalí oder fällt er unaufhaltsam in die Tiefen seines Traumes?

Im Kölner Museum Ludwig ist es möglich, unmittelbar in diese Vision einzutauchen. Durch das grelle Gelb erscheinen die hervorstechenden Lichtstrahlen hier so real, dass man für einen kurzen Moment inne hält und daran zweifelt, ob diese wirklich nur gemalt sind. Das imposante Ölgemälde mit dem Namen La Gare de Perpignan (1965) (Der Bahnhof von Perpignan) lädt zwar dazu ein, in den Tiefen der Traumwelt zu versinken, aus urheberrechtlichen Gründen muss in diesem Beitrag jedoch leider auf eine Abbildung verzichtet werden. Die dargestellte Vision lebt von autobiographischen Themen und Elementen. Menschen und Ereignisse, die Dalí im Laufe seines Lebens stark geprägt haben, finden sich hier wieder – an einen Bahnhof erinnert jedoch nur ein einzelner Eisenbahnwagon.

Das Zentrum des Universums

Jean-François Millets L’Angélus (Das Angelus-Läuten), zwischen 1857 und 1859 – Dalí sieht in dem Bauernpaar seine Eltern, die um ihren erstgeborenen Sohn Salvador trauern. © Wikimedia Commons

Die beiden bäuerlich gekleideten Personen, die schemenhaft in verschiedenen Positionen mit einem Sack zu sehen sind, hat Dalí dem Gemälde L’Angélus (Das Angelus-Läuten) von Jean-François Millet entnommen. In seiner Autobiographie Das geheime Leben des Salvador Dalí berichtet der Künstler über das Ölgemälde, welches er als Schüler regelmäßig von seinem Platz im Klassenzimmer aus betrachtete: „Dieses Gemälde rief in mir eine obskure, eine so bittere Qual hervor, dass die Erinnerung an jene beiden regungslosen Silhouetten mich mehrere Jahre lang mit einem durch ihre ununterbrochene und zweideutige Präsenz verursachten anhaltenden Unbehagen verfolgte.“

Dalí sieht in dem betenden Bauernpaar seine Eltern, die um den Verlust seines älteren Bruders trauern. Der Erstgeborene, der ebenfalls den Namen Salvador trug, wurde keine zwei Jahre alt. Der Künstler Salvador Dalí fühlte sich bereits als Kind wie eine zweite Version des Bruders. Er sah diesem nicht nur sehr ähnlich und trug denselben Namen, seine Eltern erinnerten ihn auch immer wieder an dessen Schicksal. Die Ehefrau und Muse des Künstlers ist auf dem Gemälde ebenfalls vertreten. Vom unteren Bildrand aus schaut sie dem Träumenden zu. Gala wird zu einem der beliebtesten Motive Dalís – oftmals in Verbindung mit sexuellen Fantasien.

Mystisch erscheint das Bild nicht zuletzt durch die schemenhafte Christus-Darstellung im Hintergrund, über welcher der zweite Dalí zu schweben scheint. In seinem Buch Salvador Dalí verbindet der Kunsthistoriker Eric Shanes diese Komponente des Bildes mit einer Äußerung Dalís: Am Bahnhof von Perpignan soll der Künstler eine besonders intensive Vision erlebt haben. Die südfranzösische Stadt erscheint ihm offenbart als das Zentrum des Universums. Im übertragenen Sinne ist sie das wohl auch, denn Perpignan stellte für Dalí auch das Tor nach Paris dar – dem Mittelpunkt der surrealistischen Bewegung.

Der Traum als Inspirationsquelle

Ende der 1920er Jahre schließt sich der junge Künstler der Bewegung um den Schriftsteller André Breton an. Dalí ist zu dieser Zeit fasziniert von Sigmund Freuds Traumdeutung und der Macht des Unterbewusstseins:

„Dieses Buch erschien mir als eine der Hauptentdeckungen meines Lebens, und mich befiel eine wahre Sucht nach Selbstanalyse; ich interpretierte nicht nur meine Träume, sondern alles, was mir passierte, wie zufällig es auf den ersten Blick auch aussehen mochte.“

In seiner Autobiografie berichtet er auch davon, seine Träume dokumentiert zu haben. Besonders fruchtbar seien dabei die Träume gewesen, die er tagsüber während eines kurzen Nickerchens erlebte und die zu einer erwünschten „Verwechslung mit der Realität“ führten.

Ein Paradebeispiel für die malerische Umsetzung von Traumfantasien und psychoanalytischen Deutungsmustern ist Les premiers jours du printemps (1929) (Die ersten Tage des Frühlings). Die hier dargestellte rätselhafte Traumwelt besteht aus zwei am Horizont zusammenlaufenden Kanälen. In einer eintönig-grauen Ebene präsentiert Dalí den Betrachtenden eine farbenfrohe und detailreiche Collage von Kindheitserinnerungen, Träumen und unterbewussten Fantasien. Zu sehen ist unter anderem eine Postkarte, die das Deck eines Luxusliners zeigt, auf dem sich glückliche Urlauber*innen tummeln.

Die vermeintlich harmonische Szene bildet nur den Hintergrund für ein Paar, das als sexuelle Tabu-Fantasie interpretiert werden kann – und als Provokation einer Gesellschaft, die das Unterbewusste unterdrückt: Ein geknebelter Mann kniet neben einem Frauenkörper, der anstelle eines Kopfes eine rötliche und von Haaren umgebene Öffnung besitzt, die von Fliegen befallen wird. Die rote Krawatte der Frau erscheint wie eine Spalte, die zwischen ihren Brüsten aufklafft. Die Hände des Mannes verlaufen flammenförmig in einen Eimer, aus dem ein senkrecht nach oben stehender Finger herausragt, unter dem zwei Kugeln liegen. Die phallische Symbolik ist unverkennbar. Laut Eric Shanes sind die zunächst willkürlich erscheinenden Objekte und Personen in erster Linie als ein Appell an die Betrachter*innen zu verstehen, sich näher mit den eigenen Fantasien und Ängsten auseinanderzusetzen.

Auch auf seine eigenen Ängste und Wünsche nimmt Dalí Bezug. Diese sieht er nach psychoanalytischen Ansätzen vor allem in Kindheitserinnerungen begründet. So platziert der Künstler im Zentrum des Gemäldes eine Fotografie, welche ihn als kleinen Jungen zeigt. Weiter rechts findet sich der Kopf einer verträumten Gestalt, die dem Profil des Malers gleicht. Umschlungen wird das Gesicht ohne Mund von einer Heuschrecke. Seit Kindertagen fürchtete sich Dalí vor Heuschrecken und wurde von diesen offenbar selbst im Unterbewusstsein verfolgt. Auch in seiner Autobiographie bringt er diese Abneigung zum Ausdruck: „Heuschrecke – verhasstes Insekt! Schrecken, Alptraum, Marter und halluzinierender Wahnsinn in Salvador Dalís Leben.“

Camembert und das ‚Superweiche‘

Das verträumte Profil ist auch in weiteren Werken Dalís zu finden. La persistance de la mémoire (1931) (Die Beständigkeit der Erinnerung), das bekannteste Gemälde des Künstlers, zeigt es am Boden einer kargen Traumlandschaft liegend. Umgeben wird die Gestalt mit den geschlossenen Augen und überdimensionalen Wimpern von den berühmten weichen Uhren, an denen Ameisen nagen. In der Autobiografie Dalís erfährt man, was den Maler dazu inspiriert hat: Camembert. Von Kopfschmerzen geplagt gibt sich Dalí zu Hause seiner Fantasie hin und denkt während eines alleinigen Abendessens „über die philosophischen Probleme des ‚Superweichen‘ nach“. Noch am selben Abend beginnt er, das berühmte Gemälde zu malen. Als seine Frau nach wenigen Stunden von einem Kinobesuch zurückkehrt, ist dieses bereits vollendet.

Die Künstlerbiografin Meryle Secrest beschreibt in ihrer Abhandlung über den Maler die sogenannte ‚paranoisch-kritische Methode‘:

„Dalí merkte sich die erste Vision, die er in Träumen oder Wachträumen sah, und füllte die Leinwand dann mit Dingen, die sie heraufbeschworen.“

Dalí entfernt sich durch diese Methode vom surrealistischen Werkzeug einfacher Traumberichte und setzt sein Unterbewusstsein gezielt ein. „Diese Methode war wahrscheinlich der größte Einzelbeitrag, den Dalí zum surrealistischen Denken leistete. Die Surrealisten hatten immer mit dem Problem gerungen, wie sie die Tiefen, die sie ausloten und erkunden wollten, überhaupt erreichen sollten“, schreibt Secrest. Die Weichheit des Camemberts assoziiert der Künstler hier also mit einem metallischen Gegenstand, der in unserer Vorstellungskraft niemals weich sein, geschweige denn von Ameisen gefressen werden könnte. Eine Lossagung von Realität und zeitlicher Ordnung?

Salvador Dalí sah sich selbst als Revolutionär des Surrealismus an – eine Auffassung, die von einer gewissen Egozentrik zeugt. Seine teils verstörend und schrill wirkenden Traumwelten faszinieren jedoch noch heute und können wohl als zeitlos bezeichnet werden – nicht zuletzt durch weiche Uhren.

© Titelbild: Pixabay

 

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Ein Engel, ein Kreuz und vier Worte: „In hoc signo vinces“. Seltsame Träume hat jede*r. Manche verschlägt es zurück in das Klassenzimmer der 10e, andere gehen auf Traumsafari mit Joe Exotic. Aber was, wenn nicht nur die Träume selbst, sondern auch ihre Träumer*innen außergewöhnlich sind? Wir blicken auf eine Traumgeschichte der Antike. Auf Konstantin den Großen – einen römischen Kaiser, der Schlachten schlägt, Grenzen zieht und ganz nebenbei eine Weltreligion begründet. Alles wegen eines nächtlichen Traums.

Kein anderer Traum prägte die Geschichte Europas so nachhaltig wie derjenige Konstantins des Großen. Am Abend des 27. Oktober 312 bereitet Konstantin sich auf die entscheidende Schlacht gegen seinen Kaiserrivalen Maxentius vor. Das Römische Reich  befindet sich in einem Jahrzehnt des politischen Tumults. Eine Reihe von Kaisern und solchen, die es werden wollen, ringen im Westreich um die Macht. Darunter Maxentius, der Rom hält, und sein Schwager Konstantin. Im Herbst 312 marschiert Letzterer mit seiner Armee auf Rom, um die Frage nach dem kaiserlichen Purpur zu klären. Die antike Stadt ist das Herz des Kaiserreichs. Beide wissen: Wer Rom hält, hält auch die Krone. Maxentius begegnet Konstantin mit seinem Heer nördlich der Stadtmauern, an der Milvischen Brücke. Diese führt über den Tiber und verbindet die nördlichen Außenbezirke mit dem Zentrum der antiken Metropole. Damals wichtiger Knotenpunkt für den Handel, ist sie heute historisch umrahmt vom Lieferservice Ponto Milvio im Süden (hier lagerte wohl Maxentius) und einer McDonald‘s-Filiale im Norden (hier lagerte Konstantin). Beide Gastbetriebe, davon ist auszugehen, waren 312 A.D. nicht geöffnet.

„In hoc signo vinces“

Das Heer in der Unterzahl und von der Reise erschöpft, schlägt Konstantin sein Lager auf und legt sich am Vorabend der Schlacht zur Ruhe. Im bald-kaiserlichen Zelt, so berichtet sein Berater Lactantius, wird er in der Nacht von einem Engel in weißem Gewand heimgesucht. Der hält ein glühendes, goldenes Kruzifix, darunter erscheinen die Worte „In hoc signo vinces“, „In diesem Zeichen wirst du siegen“. Der friedlich schlummernde Konstantin und sein mäßig interessierter Diener, wie sie auf zahlreichen Renaissancegemälden zu sehen sind, entspringen dabei allerdings den Ideen fantasiereicher Maler ein Jahrtausend später. Dennoch weisen sie auf eine wichtige Annahme hin. In den frühen Überlieferungen steht fest: Konstantin allein sah den Engel.

Der schlafende Konstantin in Piero della Francescas Darstellung (ca. 1455). © Wikimedia Commons/Public Domain

Göttliche Träume, die Airpods der Antike

Dem angehenden Kaiser dürfte diese Darstellung aber nicht gefallen haben. Göttliche Trauminterventionen waren die Airpods der römischen Kaiserelite: Durchaus ein Statussymbol, aber bei zweiter Betrachtung viel üblicher als erhofft. Von Augustus über Nero bis Diokletian – jeder römische Kaiser, der etwas auf sich hielt, hatte auch eine Geschichte göttlicher Intervention vorzuweisen. Mal, um mit Mars einen besonders teuren Feldzug zu rechtfertigen, und mal, um zu zeigen: Meine Herrschaft ist von Jupiter gewollt. Für ein Alleinstellungsmerkmal braucht Konstantin mehr. Der christliche Historiker Eusebius, langjähriger Begleiter und selbsternannter Biograph Konstantins, legt deshalb in späteren Schriften an Pathos zu. Er will von Konstantin selbst gehört haben, wie das goldene Kreuz nicht nur in dessen Schlaf, sondern bei hellem Tageslicht vor den Augen der gesamten Armee am Himmel erschien. So schreibt Eusebius:

„Mit eigenen Augen sah er ein Kreuz aus Licht am Himmel, über der Sonne. Es trug die Inschrift In diesem Zeichen wirst du siegen. Im Anblick dessen war er selbst von Ehrfurcht ergriffen, wie auch seine Armee, die ihm folgte, und das Wunder ebenfalls bezeugte.“

Eigentlich, so urteilen historische Fachzeitschriften, schreibt Eusebius im griechischen Originaltext aber: „ἐν τούτῳ νίκα“, also „Durch dieses (Zeichen) siege“. Die lateinische Futurform „vinces“, „wirst du siegen“, wie sie später auf Münzen und Gemälden zu finden ist, sei streng genommen falsch übersetzt, sie habe sich aber dennoch durchgesetzt. Überliefert sind die von Eusebius versprochenen Zeugenberichte der Soldaten jedenfalls nicht. Und auch sonst ist die Quellenlage zur Schlacht selbst dürftig. Vision hin oder her, kann man aber doch vermuten, dass es im besten Interesse der anwesenden Soldaten war, Eusebius‘ Version der Geschichte zu bestätigen. Sieht der eigene Kaiser ein göttliches Zeichen samt Schriftzug am Himmel, dann ist am Himmel ein göttliches Zeichen zu sehen.

Fest steht, egal welcher Version der Geschichte man Glauben schenkt: Am Morgen der Schlacht lässt Konstantin in aller Eile das Christusmonogramm auf den Schilden seiner Soldaten anbringen, zieht in die Schlacht – und siegt eindeutig. Maxentius wird mit seiner ehemals-kaiserlichen Garde zurück an den Tiber gedrängt, stürzt vom Pferd und ertrinkt.

Auf Raffaels Darstellung sind Engel, Kreuz und griechische Inschrift gut zu erkennen. © Wikimedia Commons/Public Domain

Das unpopuläre Christentum als Traumautorität

Kein anderer Traum wird von Historiker*innen damals wie heute so umstritten diskutiert wie Konstantins Bekehrung zum Christentum: Ein wahres Ereignis, geplanter PR-Stunt oder vielleicht nur das Konstrukt fantasiereicher römischer Autoren? Paul Freedman, Historiker in Yale, gibt in einem Vortrag Folgendes zu bedenken: Dass Konstantin sich die öffentliche Meinung des römischen Volks oft berechnend und bewusst zunutze machte, sei kein Geheimnis. Gerade deshalb, meint Freedman, sei Konstantins Traum aber so spannend. Für die Authentizität der Erzählung sei nicht entscheidend, dass Konstantin einen göttlichen Traum gehabt habe, sondern, von wem er träumte. Denn im Gegensatz zu Nero, der sich auf etablierte römische Götter berief, habe Konstantin durch seine Vision nichts zu gewinnen gehabt. Im Gegenteil. Das frühchristliche Dogma, geprägt durch Jahrhunderte römischer Verfolgung, ist im Rom des dritten Jahrhunderts weder populär noch verbreitet. Es ist äußerst pazifistisch und wird von zahlreichen Quellen der römischen Geschichtsschreibung gar als subversiv und gefährlich wahrgenommen. Der Konsens: Das frühe Christentum steht in direktem Widerspruch zur militaristisch und disziplinär geprägten römischen Gesellschaft.

Dennoch bekennt sich Konstantin, ehemals Anhänger des Sonnengottes Sol Invictus, in dieser entscheidenden Schlacht zum unwahrscheinlichsten aller Götter, dem christlichen. Und während die Aufrichtigkeit seines Wandels heute Thema hitziger akademischer Debatten ist, kann man das Ausmaß der Folgen nicht abstreiten. In den ersten Jahren seiner Herrschaft legalisiert er das Christentum, erhebt eine Reihe von Kirchenbeamten in politische Ämter und gesteht der Kirche großzügige Steuererlässe zu. Später baut er sogar Kirchen und zieht gegen seine paganen Mitkaiser im Osten in den Krieg. Während die Christen noch unter Konstantins Vorkaiser Diokletian zu einer verfolgten Minderheit gehörten, entwickelten sie sich nun zur bestimmenden Kraft im römischen Reich. In Zahlen: Historiker*innen schätzen, dass zum Tod Konstantins im Jahr 337 etwa die Hälfte aller römischer Staatsbürger Christen waren. Fünfzig Jahre später steigt die Zahl auf neunzig Prozent. Ob Konstantin selbst an den Gott der Christen glaubte, lässt sich allerdings nicht mit Gewissheit sagen. Genauso wenig, ob er sich der Tragkraft seiner Entscheidung bewusst war. Sicher konnte er nicht ahnen, geschweige denn wissen, dass er Patron einer aufstrebenden Weltreligion war, die den europäischen Kontinent für die nächsten zwei Jahrtausende mit ihren Taten und Untaten prägen würde. Aber vielleicht hat er zumindest davon geträumt.

Titelbild: © Wikimedia Commons/Public Domain

 

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