Ende Mai 2014 machte eine schockierende Nachricht Schlagzeilen in den USA: Zwei zwölfjährige Mädchen stachen mehrfach auf ihre Mitschülerin mit einem Küchenmesser ein. Das Motiv: Sie wollten dem „Slender Man“, einer populären Gruselgestalt aus dem Internet, imponieren.

Anissa Weier und Morgan Geyser aus Wisconsin, USA, hatten den Mord an ihrer Klassenkameradin schon monatelang vorher geplant. Nachdem sie das Mädchen in einen Wald brachten, stachen sie auf das Opfer ein und ließen es anschließend an Ort und Stelle zurück. Die Verletzte konnte sich noch mit letzter Kraft zur Straße hieven und Hilfe holen. Sie überlebte knapp. Gegenüber der Polizei gaben die zwei Täterinnen an, sie hätten sich von einem Internetphänomen inspirieren lassen. Eine Figur namens Slender Man habe sie dazu gedrängt, einen Mord zu begehen.

Wer oder was ist der Slender Man?

Der Slender Man. (Foto: LuxAmber CC BY-SA 4.0)

Bei der fiktiven Internetfigur des Slender Man (dt.: „Der schlanke Mann“) handelt es sich um eine ausgedachte Gruselgestalt, deren Geschichte in Internetforen weitererzählt wurde und sich schließlich verselbständigte. Über sein Aussehen und seine Taten existieren die unterschiedlichsten Versionen und Theorien, wie es in dem Fan-Forum auf www.slenderman.de heißt. Im Großen und Ganzen wird der Slender Man jedoch meist als unnatürlich dünne geistähnliche Gestalt ohne Gesichtszüge dargestellt. Dazu trägt er einen dunklen Anzug, Hemd und Krawatte. War er in den ersten Versionen noch unsichtbar, ist er in den späteren Interpretationen deutlich körperlich wahrnehmbar. In manchen Geschichten trägt er zudem schwarze Tentakel auf seinem Rücken. Über die genauen Machenschaften und Absichten des Slender Man scheiden sich die Geister und Versionen der Fans. In einer der letzten Theorien erzählt man sich jedoch, dass der hünenhafte Mann für das Verschwinden von Kindern verantwortlich sein soll. Er sei außerdem in der Lage, Menschen in seiner Nähe in den Wahnsinn zu treiben und sie zu beeinflussen.

Angefangen hat alles als kreativer Internetstreich im Juni 2009. Damals nahm der US-Amerikaner Eric Knudsen bei einem Foto-Wettbewerb der Gruselwebsite www.somethingawful.com teil. Für das Motto „Paranormale Bilder“ sollten die Teilnehmer*innen gewöhnliche Fotos digital bearbeiten, in dem sie z.B. Geister einfügten. Dazu dachten sich die User*innen anschließend spannende und gruselige Geschichten aus. Knudsen stellte zwei manipulierte Bilder ein, auf denen jeweils eine Gruppe von Kindern zu sehen war. Im Hintergrund ist eine unnatürlich große, hagere Gestalt abgebildet: der Slender Man.

Verrücktes Eigenleben eines Internetphänomens

Die Geschichte über den Slender Man verbreitete sich verblüffend schnell in den Internetforen: Fans teilten die Schauerstory und produzierten eigene Videos, Bilder oder neue Geschichten über den schlanken Gruselmann auf Webseiten wie z.B. www.creepypasta.com. Aus dem Mythos wurde eine bekannte Legende im Bereich der Horror-Fanfiction, die inzwischen wohl auf eine weltweite Fangemeinde blicken kann.

Das Eigenleben des Mems ging sogar noch weiter: Inzwischen gibt es eine eigene YouTube-Webserie über den Slender Man, einige Horrorvideospiele sowie einen Dokumentarfilm von HBO (2016) über den Mordversuch der beiden Mädchen aus Wisconsin. Sogar Hollywood widmete sich dem fiktiven Horrorwesen und produzierte einen Kinofilm, der dieses Jahr noch in die Kinos kommen soll.

Kontrovers diskutiert: Der Kinofilm zum Slender Man

In dem von Sylvain White inszenierten Horrorfilm „Slender Man“ geht es um vier junge Schülerinnen, die in einer Kleinstadt in Massachusetts leben und die Legende des schlanken Geistermannes genauer untersuchen wollen. Als sie dazu ein Ritual ausführen, verschwindet plötzlich eines der Mädchen. Die drei Verbliebenen müssen sich nun der Tatsache stellen, dass an dem Mythos wohl mehr dran ist, als es zunächst den Anschein machte.

Der Trailer des Gruselstreifens kam bereits im Januar dieses Jahres heraus. Der Kinostart war ursprünglich für den 17. Mai 2018 angesetzt, wurde nun jedoch auf September 2018 verschoben. In den USA löste das Projekt eine Debatte über die moralisch fragwürdigen Absichten der Filmemacher*innen aus. Insbesondere die Produktionsfirma Sony geriet dabei in die Kritik, die Tragödie verharmlosen und daraus auch noch Profit schlagen zu wollen. Bill Weier, der Vater von Anissa Weier, kritisierte das Filmstudio scharf und meinte gegenüber US-amerikanischen Medien:

„It’s absurd they want to make a movie like this. It’s popularizing a tragedy is what it’s doing. I’m not surprised, but in my opinion it’s extremely distasteful. All we’re doing is extending the pain all three of these families have gone through.“ Bill Weier, The Hollywood Reporter

Die Frage nach dem Warum?

Was genau führt dazu, dass sich vor allem Jugendliche von einer fiktiven Horrorfigur beeinflussen lassen? Beim Slender Man verschwinden die Grenzen zwischen realer und ausgedachter Welt. Die bearbeiteten Fotos wurden nicht nur nahezu professionell manipuliert, auch die Hintergrundstorys erscheinen auf den ersten Blick plausibel. Mythen über sogenannte „Kinderschreckfiguren“, die Kindern Angst machen und für das Verschwinden von eben diesen verantwortlich sein sollen, gab es schon in den früheren Jahrhunderten. Aber reicht das aus, um Teenager etwas so Böses wie den Mordversuch an einer Mitschülerin planen zu lassen? Ist der Slender Man tatsächlich so überzeugend?

Warum die beiden Schülerinnen aus Wisconsin letztendlich diese grausame Tat begangen haben, bleibt wohl weiterhin unklar. Allerdings, so die Journalistin Katy Waldman, sei es einfacher, einer Horrorfigur wie dem Slender Man die Schuld an solch einem tragischen Ereignis zu geben, als sich mit der eigentlichen Frage auseinanderzusetzen, warum zwei bis dahin unschuldige Mädchen zu so einem Verbrechen fähig sind.

Tübingen, die schöne Kleinstadt im Herzen Baden-Württembergs, begeistert viele Besucher*innen und Bewohner*innen mit ihrer historischen Altstadt, dem hochgelegenen Schloss und zahlreichen Universitätsgebäuden. Doch auch im idyllisch und friedlich scheinenden Städtchen verbergen sich geisterhafte Geschichten, die dank des Stadtführers Oliver Rödiger nicht in Vergessenheit geraten.

In der Bursagasse, am Alten Waschhaus, treffen meine Kommiliton*innen und ich Oliver Rödiger alias Oli Kahn, den wohl bekanntesten Stadtführer und Stocherkahnfahrer Tübingens. Er ist der Einzige, der neben den normalen Stadtführungen auch Nachtwächter- und Geisterführungen anbietet. Nicht nur deshalb fällt er in Tübingen besonders auf: „Der Oli Kahn, das ist der, der mit dem Hawaiihemd rumläuft, oder der Verrückte, der in der Nacht als Nachtwächter verkleidet rumrennt. So wird man dann natürlich irgendwann zur Marke,“ sagt er stolz.

Der geniale Geist des Hölderlin und der Spuk im „Aquarius Haus“

Mit seinem bunten Hawaiihemd nimmt er uns an einem milden Sommerabend in Empfang. Was eher den Eindruck erweckt, gleich einen Ausflug an einen Strand zu machen und Cocktails zu trinken, ist in Wirklichkeit der Beginn einer Geisterführung. Wir sind gespannt, wo es in Tübingen spukt, und folgen dem riesigen Mann mit seiner lauten Stimme und dem schwäbischen Dialekt zum Denkmal für Lotte Zimmer. Sie soll den weltbekannten Dichter Friedrich Hölderlin in seinen letzten Lebensjahren bis zu seinem Tode im Jahr 1843 gepflegt haben. Das Denkmal sieht aus wie ein längliches Gefäß mit einer Antenne, die gen Himmel gerichtet ist. Sie zapfe die kosmische Energie an und stelle so auch eine Verbindung zu Hölderlin her. Oliver Rödiger, der seit 1988 in Tübingen lebt und von Anfang an die magische Atmosphäre der Stadt spürt, sagt überzeugt: „Wenn ich in der Nähe von diesem Denkmal bin, dann durchläuft mich ein Schauer, weil ich merke, dass dieser geniale Geist des Hölderlin immer noch da ist.“

Geisterführer Oliver Rödiger und im Hintergrund das mit Efeu überwachsene „Aquarius Haus“. Foto: Stephanie Constantin.  

In der Gasse namens Klosterberg, nicht weit vom Denkmal entfernt, bekommen wir die nächste Geistergeschichte erzählt. Gleich auf der rechten Seite befindet sich ein mit Efeu bewachsenes Haus, das von der letzten Eigentümerin „Aquarius Haus“ getauft wurde. Hier soll ein Professor gewohnt und einen Geist in seinem Haus vermutet haben, weil seine Lebensmittel immer wieder auf unerklärliche Weise verschwanden. Nach einigen Jahren fand man die Leiche eines ehemaligen Studenten in seinem Schrank. Dieser wurde von dem Professor aus dem Studium geschmissen, da er es nicht ernst genug genommen hatte. Der Student versteckte sich daraufhin in dessen Schrank und kam nur in der Nacht oder wenn der Professor nicht zu Hause war heraus, um sich etwas zu Essen zu holen. Er hatte eine solche Angst vor der Reaktion seiner Familie, dass er lieber den Rest seines Lebens im Schrank des Professors verbrachte.

Ob der Geist des Studenten noch immer dort herumspukt? „In dem Haus gibt es immer noch seltsame Töne. Die ursprüngliche Eigentümerin hat mir das so berichtet“, erzählt Rödiger. Er selbst glaubt an Dinge, die nicht erklärt werden können, und daran, dass es mehr gibt, als viele Menschen tatsächlich wahrnehmen: „Ich habe schon eine Nahtoterfahrung gemacht, als ich klinisch tot war. Meine Seele war außerhalb des Körpers, und dadurch konnte ich mich auf dem OP-Tisch liegen sehen. Ich habe also eine außerkörperliche Erfahrung gemacht und glaube daran, dass es eine Seele gibt“, sagt er mit ernstem Blick. 

Kreuzritter im Nebel und das Schlossgespenst

In der selben Gasse befindet sich das Evangelische Stift. Vor dem verschlossenen Tor versammeln wir uns im Halbkreis und lauschen der nächsten Geschichte. Es wurde 1536 von Herzog Ulrich von Württemberg gegründet. Auch heute noch erhalten Studierende der Theologie Stipendien in Form einer Wohnmöglichkeit. Von hier aus sind früher die Ritter zu den heiligen Kreuzzügen aufgebrochen. Diese sind auch heute noch spürbar, meint unser Stadtführer: „Wenn es richtig düster ist und Nebelschwaden aufziehen, sieht es manchmal so aus, als ob die Kreuzritter auf ihren Pferden entlangreiten, und das ist dann wirklich etwas, das durch die Gassen schleicht.“ Mittlerweile ist es schon fast dunkel und der Himmel wird von dichten Wolken bedeckt. Ich bin froh, dass nicht auch noch Nebel aufkommt…

Vor dem Evangelischen Stift. Foto: Stephanie Constantin

Gemeinsam begeben wir uns zum Johannisbrotbaum, der sich oberhalb des Evangelischen Stifts befindet. Dann ziehen wir durch die schmalste Gasse Tübingens bis zum Schloss Hohentübingen, in dem das Schlossgespenst bereits die Franzosen verjagt haben soll, die versuchten, das Schloss zu besetzen. Auch eine Jugendherberge konnte sich dort nicht lange halten, „weil unser Schlossgespenst da wohnt und die Kinder keinen ruhigen Schlaf gefunden haben“, klärt Rödiger auf.

„Hier kotzte Goethe“

„Hier kotzte Goethe“- Tafel in der Münzgasse. Foto: Stephanie Constantin

Schließlich folgen wir ihm auf den Marktplatz. Hier erfahren wir mehr über das Rathaus, das Brotfenster und den Neptunbrunnen. Unsere letzte Station der etwa zweistündigen Geisterführung befindet sich an einem Studentenwohnheim in der Münzgasse, an dem eine Tafel mit der Aufschrift „Hier kotzte Goethe“ angebracht ist. Dieser hat im September 1797 seinen Verleger Johann Friedrich Cotta für ein paar Tage besucht, und „Goethe hat tatsächlich in das Eck da hinten gekotzt, weil er zu viel von dem Tübinger Wein getrunken hat,“ sagt Rödiger lachend. Was das nun mit Geistern zu tun hat, frage ich mich und bekomme schon bald eine Antwort von unserem Stadtführer: „Die Leute, die da wohnen, haben öfter mal festgestellt, dass sich wieder hat einer übergeben müssen. Das passiert dort ungewöhnlich häufig. Der Geist von Goethe ist halt auch noch irgendwo in Tübingen.“

Kaum ist die Führung zu Ende, fängt es an zu regnen. Oliver Rödiger ist davon überzeugt, dass wir dank seiner besonderen Fähigkeit, das Wetter zu beeinflussen, einem starken Regenschauer entkommen sind. „Ich mache das Wetter hier in Tübingen. Ich habe indianische Vorfahren, weil mein Ururururgroßvater nach Amerika ausgewandert ist und die Tochter eines Medizinmannes geheiratet hat. Aber ich tanze nicht für Regen, sondern singe für Sonne“, sagt er bestimmt. Auch für seine Gäste auf dem Stocherkahn singt Rödiger des Öfteren. Ein vielseitiger Mann also. Es wundert nicht, dass er vor vier Jahren begann, Geisterführungen in Tübingen anzubieten. Diese gestaltet er humorvoll und mit viel Freude. Auf die Idee kam er durch Gespräche mit Einwohner*innen Tübingens. „Da erfährst du Geschichten, auf die du sonst nicht kommst“, meint er. Und auch durch gründliche Recherche in alten Zeitschriften, Büchern und Zeitungen, die unter anderem im Stadtarchiv zu finden sind, kommt er zu seinen Geistergeschichten. Es ist ihm jedoch wichtig, dass die Menschen bei der Geisterführung auch etwas über Tübingen erfahren, und das gelingt ihm durchaus. Sogar ich als eingesessene Tübingerin konnte neben den Geistergeschichten auch etwas „Greifbares“ über die Stadt erfahren.

Was hat der Kinderbuch-Klassiker Otfried Preußlers mit Saudi-Arabien zu tun? Die Amerikanerin Kristie Pladson schreibt über ihre Zeit an einer saudischen Mädchen-Highschool und darüber, wie es kam, dass sie auf das kleine Gespenst neidisch wurde. 

Ich saß auf einem winzigen Sofa, meine Beine untergeschlagen, einen Druckbleistift in der einen Hand, Otfried Preußlers „Das kleine Gespenst“ in der anderen. Die Seiten des englisch-deutschen Wörterbuchs auf dem Wohnzimmertisch vor mir flatterten im Luftzug der Klimaanlage. Der Plan war klar: Lies das Kapitel einmal, unterstreiche alle neuen Wörter, schlag sie im Wörterbuch nach und lies das Kapitel noch einmal.

„In Deutschland hatte ich bereits ein paar Deutschkurse belegt. Mein Verlobter meinte, ich sei bereit, ein richtiges Buch zu lesen.“ Otfried Preußler: „Das kleine Gespenst“ (1966)

Zwei Seiten, 20 neue Wörter und eine halbe Stunde später lachte ich auf bei dem Gedanken an die Leute, die mir vorgeschlagen hatten, ich solle mit Kafkas „Verwandlung“ anfangen.

Aber welchen Unterschied machte es schon, wie lange ich brauchen würde? Ich hatte Zeit. Keine Bars, keine Musik, keine Kinos, kein Grün, kein öffentlicher Nahverkehr. Draußen war es 35 Grad heiß, es gab dort nichts und für mich sowieso keine Möglichkeit, dorthin zu gelangen. In Saudi-Arabien hatte ich alle Zeit der Welt für mein kleines Gespenst.

Kapitel 1

Es war das Jahr 2014. Noch drei Monate zuvor hatte mein Leben dem vieler anderer, frischgebackener amerikanischer College-Absolventen geglichen: Ich saß im Haus meiner Eltern im mittleren Westen der USA und durchsuchte das Internet nach einem Job. Allerdings nicht nach irgendeinem Job. Was ich suchte, war scheinbar unmöglich – ich wollte eine gute Bezahlung und mit dem deutschen Studenten zusammenziehen, in den ich mich in einem Auslandssemester verliebt hatte. Ich merkte schnell, dass der internationale Arbeitsmarkt für Literaturstudentinnen aus Indiana ziemlich überschaubar war. Doch es musste diesen Weg geben, und ich würde ihn finden.

Riad – „Mein Verlobter sträubte sich. ‚Das ist der letzte Platz auf der Erde, an dem ich jemals würde leben wollen‘, waren seine exakten Worte.“ Foto: B.C. Biega

Es gab ihn tatsächlich, und er führte weit nach Osten.

„In Saudi-Arabien zu arbeiten ist herausfordernd und lohnend. Wenn Sie einen absolut einzigartigen Lebensstil kennenlernen und Teil eines sich schnell wandelnden Landes sein wollen, dann möchte ich jetzt mit Ihnen sprechen. Dies ist eine ausgezeichnete Chance auf einen schnellen Karriereschritt und ein beträchtliches, STEUERFREIES GEHALT.“

Steuerfrei. Mietfrei. Persönlicher Fahrer. Swimming Pool. Arbeitsvisum. Die Liste ging weiter.

Mein Verlobter sträubte sich. „Das ist der letzte Platz auf der Erde, an dem ich jemals würde leben wollen“, waren seine exakten Worte. Aber er hatte in seinen Augen Herzen so groß wie die Dollarzeichen in meinen. Als sich für ihn ein Job mit der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit in Riad auftat, war die Sache entschieden. „Es wird ein Abenteuer sein“, sagte ich, erst um ihn zu überzeugen, später dann, um mich selbst zu beruhigen.

„Das kleine Gespenst“ war in meinem Handgepäck auf dem Flug über den Atlantik zu meiner neuen Arbeitsstelle als Englischlehrerin. In Deutschland hatte ich bereits ein paar Deutschkurse belegt. Mein Verlobter meinte, ich sei bereit, ein richtiges Buch zu lesen.

„Das war das erste Buch, das ich je gelesen habe,“ meinte er. „Ich war so stolz, als ich es durch hatte. Du wirst es auch sein.“

Ottfried Preußlers Kinderbuch-Klassiker erzählt die Geschichte eines freundlichen Geists, der in der Burg der Stadt Eulenstein spukt. Mehr als irgendetwas sonst wünscht er sich, Eulenstein bei Tageslicht zu sehen, aber er verschläft jeden Tag aufs Neue. Eines Tages erwacht er zur Mittagsstunde, im hellen Sonnenschein. Er verbringt einen glücklichen Nachmittag damit, Unfug in der Stadt zu treiben, bevor er merkt, dass er in dieser Tageszeit gefangen ist.

Über die nächsten zehn Monate sollte sich diese schlichte Erzählung mir enthüllen, Wort für Wort.

Kapitel 2

Das Taxi holte uns am König-Khalid-Flughafen ab und setzte uns eine Stunde später in einer Straße ab, die rechts und links von stockwerkhohen Metallwänden gesäumt war. Große, verschlossene Metalltore waren in regelmäßigen Abständen zu sehen. Man sagte mir, die Mauern seien einem alten Gesetz gemäß gebaut, demzufolge sie so hoch sein müssten, dass ein Kamelreiter nicht darüberschauen kann. Jede Wohngebietsstraße in dieser Sechs-Millionen-Stadt sieht identisch aus.

Der Ort, an dem ich jetzt stand, war vor weniger als 80 Jahren noch eine Oasenstadt aus Lehm und Palmholz gewesen. Dann wurde Öl entdeckt, und eine klimatisierte Metropole aus Wolkenkratzern, Einkaufszentren und Stadtautobahnen entstand scheinbar aus dem Nichts. Mit der neuen Stadt kam eine neue Bevölkerung. Von ihren nomadischen Vorgängern unterschied sie sich dadurch, dass sie nicht mehr nur in der Moschee, sondern auch bei McDonalds und Starbucks einen Lebensmittelpunkt hatte. Das neue Riad baute eine wackelige Brücke in den Westen, auf der es Jahr für Jahr Tausende Englischsprecher wie mich herbeilockte, um seinen Einwohnern die englische Sprache beizubringen. Vorübergehend verzichteten mein Verlobter und ich auf mehrere Menschenrechte – auf Meinungsfreiheit, auf freie Ausübung unseres Glaubens, auf Musik, auf Bewegungsfreiheit. Im Gegenzug erhielten wir ein aufgeblähtes Gehalt und, anders als unsere Schicksalsgefährten aus Sri Lanka und Pakistan, die Sicherheit, dass wir jederzeit wieder würden verschwinden können.

Ich stand auf der Straße in dieser Nacht. In der Hand hielt ich mein Iqama, meinen saudischen Aufenthaltstitel: Ein Jahr lang würden wir hier leben.

Mein Körper gewöhnte sich erst noch an die Wärme, den trockenen Wind und den wehenden schwarzen Umhang, der ihn zum ersten Mal verbarg. Mein Verlobter nestelte am Schloss herum. Eine Neonlampe schien auf das schwarze Tuch herab, das um mein Gesicht gelegt war, während ich die Wand hinaufstarrte, hinter der wir wohnen würden. Die Tür öffnete sich mit einem Quietschen. Wir rollten unser Gepäck hinein und schlossen sie hinter uns.

Die Wohnung, die uns mein Arbeitgeber zur Verfügung stellte, war einfach aber ausreichend: Zwei Zimmer plus Küche und Bad, billige Möbel, Plastikböden. Jeder Zentimeter war mit feinem Staub bedeckt, der von der Wüste, die die Stadt umgibt, hereingetragen wurde. Über die Monate würden wir wischen und fegen und putzen. Stets war der Staub binnen einer Stunde zurück und legte sich wie ein Schleier über die Wohnung, als sei sie verlassen und unbewohnt. Unsere Wohnung ähnelte auf diese Weise dem staubigen, verlassenen Dachstuhl, in dem Preußlers Gespenst den Tag verschläft. Und doch würde sie sich später weit entfernt anfühlen von jenem gemütlichen, stillen Zufluchtsort, um den ich das kleine Gespenst noch beneiden sollte.

Kapitel 3

Der Unterricht begann um 6:45 Uhr. Auf diese Weise konnten die Schülerinnen nach Hause, bevor die Hitze 30 Grad überschritt. Früh an jedem Morgen weckte mich die knarrende Stimme eines Mannes, der den ersten von fünf Gebetsrufen per Lautsprecher über unserer Straße ertönen ließ. Ich schloss meine Augen fester und versuchte, ein paar Minuten mehr Schlaf zu stehlen, bevor um 5:45 Uhr mein Wecker klingeln würde.

Aus dem Bett und in der Dunkelheit zog ich die Leggings, den knöchellangen Rock und das langärmlige Hemd an, die an der Mädchen-High-School, an der ich arbeitete, Pflicht waren. Darüber meine Abaya, der schwarze Umhang, den alle Frauen in Saudi-Arabien in der Öffentlichkeit tragen müssen. Ich legte ein schwarzes Tuch um meinen Hals, wie es von Ausländerinnen erwartet wird. Zehn Minuten war ich mit dem Fahrer auf dem Weg zur Schule. Fünf Minuten danach schritt ich an Wachmännern vorbei, durch das Tor der Al-Tarbiyah Al-Namouthajiyah International School.

An meinem ersten Tag lernte ich meine Schülerinnen kennen, saudische Mädchen im Alter von elf bis 14 Jahren, und meine Kolleginnen, Frauen aus Riad, Ägypten, Jordanien, Indien, einige aus England und den USA. Ich hatte keinen Plan. Stattdessen ließ ich meine Schülerinnen Fragen an mich an die Tafel schreiben. In großen, schnörkeligen Buchstaben krakelten sie: „Wie alt sind Sie?“, „Sind Sie verheiratet?“, „Was ist Ihre Religion?“, „Tragen Sie Bikinis?“, „Hatten Sie einen Freund, als Sie so alt waren wie wir? Haben Sie ihn geküsst?“

Die Flure und Klassenzimmer der Schule dröhnten vor Lachen und Geschrei, an jenem ersten Tag und jedem darauf folgenden. Die Schülerinnen blickten lächelnd zu mir auf, wie uniformierte katholische Schulmädchen, aber mit bodenlangen Röcken. Auf dem Parkplatz vor dem Fenster standen Palmen, die Blätter reglos in der Sonne.

„Ich legte ein schwarzes Tuch um meinen Hals, wie es von Ausländerinnen erwartet wird.“ Foto: Kristie Pladson

Kapitel 4

Ich hatte null pädagogisches Training oder Erfahrung und den Job trotzdem irgendwie bekommen. Ich dachte, weil man mir den Job gegeben hatte, müsse ich wohl auch qualifiziert dafür sein.

Meine Absichten waren gut, aber meine Umsetzung war fürchterlich. Ich entwickelte die schlechte Angewohnheit, Unterrichtspläne erst kurz vor dem Klingeln zusammenzuschustern, nur um es bis zum Ende des Tages zu schaffen. Jeden Tag nahm ich mir vor, „heute Abend wirst Du einen richtigen Unterrichtsplan machen. Heute Abend kommst Du wieder auf Spur.“

Aber dieser Abend kam nie. Meine dürftigen Schulaufgaben kamen bearbeitet zurück und bildeten wachsende Stapel in meinem staubigen Wohnzimmer. Vorwurfsvoll warteten sie darauf, benotet zu werden.

Erst schob ich es auf den Jetlag. Dann auf den Kulturschock. Dann auf die Organisation der Schule.

Diese Beanstandungen waren gerechtfertigt, meine Reaktion auf sie eher nicht.

Der Stundenplan änderte sich wöchentlich, manchmal von heute auf morgen oder sogar im laufenden Schultag. Lehrerinnen platzten unvermittelt in mein Klassenzimmer und schrien die Mädchen auf Arabisch an. Alle verließen den Raum. „Wir haben jetzt Koranunterricht, Miss.“

Mütter tauchten unangekündigt auf, um über die Noten ihrer Töchter zu diskutieren. 20 Zwölfjährige blieben im Englischunterricht sich selbst überlassen, während ich abgezogen wurde, um Nespresso zu trinken und ein sich im Kreis drehendes Gespräch zu führen, das immer damit endete, dass die Schulleiterin die Note nach oben korrigierte.

Jeden Morgen schallte der Gebetsruf durch das Fenster meines Klassenzimmers. Der Unterricht stoppte. Die Schülerinnen drängelten raus, um ihre Hände zu waschen und zu beten. Zehn Minuten später ging der Unterricht weiter. Aber die „unartigen Schülerinnen“, wie die saudischen Lehrerinnen sie nannten, versteckten sich jedes Mal auf der Toilette. Ich spürte sie dort auf; sie bettelten und flehten, noch beten gehen zu dürfen. Bis sie zurück kamen, war der Unterricht vorbei.

Einen Morgen erzählte eine Schülerin von einem Zauberer, der bei ihnen zuhause angerufen habe; am nächsten Tag beklagte sich eine andere über die Hexe, die ihre Cousine mit dem bösen Blick krank gemacht habe. Kollegen erzählten Geschichten von Dienstmädchen, denen unter Folter Geständnisse der Hexerei abgerungen und dann der Kopf abgeschlagen worden sei. Ich dachte an das kleine Gespenst und wie seine Schwierigkeiten im Vergleich dazu verblassten.

Jeden Nachmittag kam ich euphorisch nach Hause, einen weiteren Tag überstanden zu haben. An guten Tagen belohnte ich mich selbst mit einem Nachmittag auf dem Sofa, wo ich mich von der Klimaanlage anpusten ließ und „Verbotene Liebe“ und andere Vorabendserien der ARD anschaute – seltsamerweise einer der fünf Sender, die wir empfangen konnten. An schlechten Tagen zog ich die Polyestervorhänge zu und kroch ins Bett. Manchmal blieb ich dort zwei oder drei Tage liegen und grübelte über mein Versagen.

Kapitel 5

Ich arbeitete mich weiter mühsam durch „Das kleine Gespenst“, das ich bei meiner Ankunft angefangen hatte. Eine Seite hier, zwei Seiten da. Eine Passage auf der allerersten Seite blieb mir im Gedächtnis haften: „Tagsüber schlief es in einer schweren, eisenbeschlagenen Truhe aus Eichenholz, die stand auf dem Dachboden, wohl versteckt hinter einem der dicken Schornsteine, und kein Mensch hatte eine Ahnung davon, dass sie eigentlich einem Gespenst gehörte.“

Ich musste sowohl „Truhe“ als auch „Eichenholz“ in meinem englisch-deutschen Wörterbuch nachschlagen, bevor ich mir ein Bild machen konnte von dem stillen, gemütlichen, sicheren Platz, den das kleine Gespenst gefunden hatte, um dort den Tag zu verschlafen. Während sich meine Zeit in Saudi-Arabien in die Länge zog und mein Kontrollgefühl mir in den Fingern zerrann, tauchte dieses friedliche Bild in Anwandlungen plötzlichen, heftigen Neids immer wieder vor meinem geistige Auge auf.

„Tagsüber schlief es in einer schweren, eisenbeschlagenen Truhe aus Eichenholz…“ Bild: Thienemann-Esslinger Verlag GmbH

„Ich wünschte, auch ich könnte in eine Truhe klettern und den ganzen Tag lang versteckt bleiben“, sagte ich zu meinem Verlobten. Vielleicht war das an einem jener Tage, die mit einer auf dem Tisch tanzenden Schülerin und einer im Takt klatschenden Klasse endeten. Ihr fröhliches Gejohle übertönte meine hilflosen Ordnungsrufe.

Hätte ich noch Gedanken auf etwas anderes als mein Selbstmitleid verwenden können (und etwas schneller gelesen), wäre mir aufgefallen, dass das kleine Gespenst und ich noch durch viel mehr als meinen Neid auf seine Truhe verbunden waren.

Gefangen im Eulensteiner Tageslicht merkt das kleine Gespenst, dass der Schein der Sonne es von weiß zu schwarz verwandelt hat. Von da an will es nichts anderes mehr, als wieder das weiße Nachtgespenst zu werden, das es früher war, und in seine Eichentruhe auf dem Dachboden zurückzukehren.

Jeden Morgen legte ich wie betäubt meinen fließenden, schwarzen Umhang und mein schwarzes Kopftuch um und bewegte mich ziellos durch eine Stadt aus Mauern, die ich nie überwinden würde. Erst später wurde mir klar, dass auch ich ein Gespenst geworden war..

Kapitel 6

Ich las das Buch fertig. Mein Verlobter hatte Recht, ich war stolz auf mich. Aber wegen der Sprachbarriere hatte ich viele Details verpasst, und was ich verstanden hatte, ließ bei mir viele Fragen zurück. Wie zum Beispiel:

Wenn Kugeln und Schwertklingen durch den Körper des kleinen Gespensts fliegen können, ohne es zu verletzen, warum braucht es dann Schlüssel und Türen, um von Raum zu Raum zu schweben?

Ist das kleine Gespenst der Geist einer verstorbenen Person? Falls nicht, wo kommt es her?

Warum sucht es den Uhu Schuhu für seinen Rat und seine Weisheit auf, wenn es selbst doch eigentlich viel, viel älter ist als er?

Warum hatte die schwedische Armee solche Angst vor dem kleinen Gespenst, aber die Schulkinder, die ihn herumjagen, überhaupt keine?

Ist es nicht etwas rassistisch, dass die Bürger Eulenbergs ihn den „schwarzen Unbekannten“ nennen und versuchen, ihn aus der Stadt zu jagen?

Mein Verlobter lachte und meinte, ich solle die Geschichte einfach so akzeptieren, wie sie ist, wie er es als Kind auch getan habe.

Kapitel 7

Das Ende des Schuljahrs nahte. Ich gab alle Hoffnung auf ein professionelles Comeback auf, und meine Selbstmitleidstour gleich mit. Der bevorstehende Aufbruch nach Deutschland nahm mich jetzt ganz ein.

In den USA basteln Grundschulklassen, wenn sie zählen lernen, Ketten aus Papier, die für die Tage bis zu den Sommerferien oder Weihnachten stehen. Jedes Glied symbolisiert einen Tag. Mit jedem Tag, der vergeht, entfernen die Kinder ein Kettenglied. Ich riss alte Schülerarbeiten in Streifen, um eine Papierkette mit 14 Gliedern zu basteln, genug, um meine verbleibenden beiden Wochen zu messen. Jeden Tag riss ich ein Kettenglied ab und zählte alle verbliebenen Glieder zweimal laut.

Es waren vier Kettenglieder übrig, als ich mein Iqama verlor.

Ohne meine saudische Aufenthaltserlaubnis würde ich das Land nicht verlassen können. Ich benachrichtigte die Schule, von wo aus ich sofort zu einer Polizeistation gefahren wurde, mit der Anweisung zu lügen – mein Iqama sei gestohlen worden. Es zu ersetzen, würde andernfalls zu lange dauern, und ich würde meinen Flug verpassen. Die nächsten vier Stunden verbrachte ich damit, auf einer saudischen Polizeiwache Polizisten anzulügen.

Es funktionierte. Das neue Iqama kam rechtzeitig an. Weniger als 24 Stunden später gab ich es am König-Khalid-Flughafen ab und verließ Saudi-Arabien für immer.

Es ist jetzt vier Jahre her, dass ich in Deutschland gelandet bin. Alles Geld, das ich damals verdient hatte, ist weg. Ich habe meine Ausgabe des kleinen Gespensts verloren, habe aber neulich das Audiobuch angehört. Es dauerte 90 Minuten. Ich weiß jetzt, dass mein Neid auf das Gespenst nicht gerechtfertigt war. Genau wie ich verbrachte es die meiste Zeit des Buches damit, zu versuchen, zu seiner Truhe zurückzukommen. Ich war einfach ein langsamer Leser.

Wenn sich die Gelegenheit ergibt, sagt meine Schwiegermutter gerne, dass wir in Saudi-Arabien ein Jahr unseres Lebens verschwendet hätten. Das macht mich jedes Mal wütend. Liegt das aber daran, dass sie falsch liegt, oder richtig?

Das kleine Gespenst schafft es zurück in sein altes Leben dank der Freundschaft der Kinder von Eulenstein. Ich bin nie in mein altes Leben zurückgekehrt, aber die Menschen in Riad halfen mir in mein neues.

 

Beitragsbild: Stephan Geyer via Flickr

UNESCO-Welterbe, Touristenmagnet und Wahrzeichen – der Ayers Rock ist vermutlich der berühmteste Berg Australiens. Auch für die Aborigines hat er eine besondere Bedeutung. Gerade das führt zu Konflikten mit Besucher*innen.

Der rötliche Sand erstreckt sich bis zum Horizont. Lediglich widerstandsfähige Gräser und karge Büsche lockern das Landschaftsbild im Herzen des Kontinents auf. Hier, mitten im australischen Nirgendwo des Bundesstaats Northern Territory, erhebt sich der Ayers Rock.

Der 340 Meter hohe Inselberg ist ein Touristenmagnet und gehört zu den bekanntesten Wahrzeichen Australiens. Rund 400.000 Besucher*innen nehmen jährlich die umständliche Reise auf sich ‒ meist über das 470 Kilometer entfernte Alice Springs. Die Stadt gilt als Tor zum australischen Hinterland. Von dort kommt man nur über den Stuart Highway oder mit dem Flugzeug weiter. Die Passagiermaschinen landen direkt in Yulara, einem kleinen Ort mit Hotelanlage und Campingplatz in Reichweite des UNESCO-Welterbes. Was viele Tourist*innen aber nicht wissen: Das beliebte Ausflugsziel beherbergt einen Geist. Denn der Ayers Rock ist ein fester Bestandteil in der ‚Traumzeit‘ der Aborigines, der Ureinwohner*innen Australiens.

Ayers Rock – Heimat der Regenbogenschlange

Der Stuart Highway, bedeckt von rotem Sand.

Der rote Sand des australischen Hinterlandes bedeckt sogar den Stuart Highway, eine der wichtigsten Fernstraßen Australiens (Foto: Stephanie Constantin).

Der Begriff ‚Traumzeit‘ steht für die Mythologie und Religion der Aborigines. Sie gehört zu einer der ältesten Kulturen der Welt, die noch heute gepflegt wird. Ein Bestandteil der ‚Traumzeit‘ ist die Phase der Schöpfung. In dieser mythischen Vorzeit, von der die Geschichten der Aborigines handeln, kreierten sogenannte Schöpferwesen die Welt. Die Regenbogenschlange gilt als eines der wichtigsten Schöpferwesen – sie ist für die Entstehung von Bergen, Flüssen und Tälern verantwortlich. Dem Glauben der Aborigines nach leben die Geister der ‚Traumzeit‘ -Wesen in ihren Schöpfungen bis heute weiter. Am Ayers Rock, den die Aborigines ‚Uluru‘ nennen, lebt demzufolge der Geist der Regenbogenschlange. Corinna Erckenbrecht, Leiterin der Abteilung ‚Weltkulturen und ihre Umwelt‘ des Mannheimer Museumsverbundes ‚Reiss-Engelhorn-Museen‘, sagt: „Der Fels als Ganzes ist weniger wichtig. Es sind vielmehr einzelne Stellen, auch am Rand, die eine besondere Bedeutung haben.“ Daher seien spezielle Felshöhlen und Wasserquellen für die ansässigen Aborigines, die ‚Anangu‘, heilig.

Was für die ‚Anangu‘ heilig ist, muss jedoch für andere Stämme nicht ebenfalls wichtig sein. In Australien lebten vor der Ankunft der Briten auf dem Kontinent hunderte Stämme. Sie hatten verschiedene Sprachen und gaben der ‚Traumzeit‘ unterschiedliche Namen. Allerdings hatten auch die Mitglieder desselben Stammes nicht unbedingt den selben Wissensstand über die ‚Traumzeit‘. So waren die Stämme der Aborigines laut Erckenbrecht lockere Verbünde von Menschen, die sich untereinander durch eine gemeinsame Sprache und Kultur zugehörig fühlten. Innerhalb eines solchen Stammes lebten kundige Aborigines, die das Wissen mündlich durch Lieder, Tänze und Geschichten weitergaben. Allgemein galt das tiefere Wissen über die ‚Traumzeit‘ als geheim. Daher mussten es sich die jungen Aborigines durch bestimmte Rituale und Mutproben ‚verdienen‘.

Wohl behütetes Wissen

Felsmalereien am Ayers Rock

Die Wandmalereien in einer Höhle am Ayers Rock zeigen Geschichten aus der ‚Traumzeit‘ (Foto: Stephanie Constantin).

Spezielles ‚Traumzeit‘ -Wissen war außerdem jeweils Frauen oder Männern vorbehalten. Dies traf unter anderem auf den Initiationsritus zu, durch den die Jugendlichen in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen wurden. „Bei der Initiation der Jungen hatten die Männer das Sagen, und bei den Mädchen die Frauen“, sagt Erckenbrecht. Es habe getrennte Bereiche gegeben, über die eigenes Wissen überliefert wurde. Manche Orte, an denen die Geister der Schöpferwesen leben, seien demnach ausschließlich Frauen zugänglich, andere nur Männern, so Erckenbrecht. Dies trifft auch auf bestimmte Höhlen am Ayers Rock zu, in denen Aborigines Initiationsrieten durchführten.

Die spirituelle Landkarte Australiens

In Australien gibt es noch unzählige weitere Orte, die für die traditionell lebenden Aborigines mit der ‚Traumzeit‘ in Verbindung stehen. Dort leben dem Glauben der Ureinwohner*innen nach ebenfalls die Geister der Schöpferwesen. Diese Orte ergeben für Kundige eine Art spirituelle Karte, die auch einen praktischen Nutzen hat. „Für sie sind das bestimmte Orientierungsmerkmale in der Landschaft. Es ist wichtig zu wissen: wo gibt es Trinkwasser, welchen Pfaden kann ich folgen, welche muss ich eher meiden“, sagt Erckenbrecht.

Vielen Nicht-Aborigines fehlt darüber das nötige Wissen. Sie betreten die Ruhestätten der Schöpferwesen, obwohl die Orte nach den Regeln der Aborigines nicht betreten werden dürfen. So wollte beispielsweise ein amerikanischer Ölkonzern exakt an einer der Kultstädten nach flüssigem Gold bohren. Für die ansässigen Ureinwohner*innen ein Sakrileg. Die Probleme, die jedoch am Ayers Rock auftreten, sind verglichen damit eher vielschichtiger Natur.

Wohin mit den verlorenen Seelen?

Eine Felsniesche am Fuß des Ayers Rock.

Die Zeichnungen der Aborigines sind bei Tourist*innen besonders beliebt (Foto: Stephanie Constantin).

Beginnt man den Aufstieg auf den Berg, sieht man Plaketten, die verunglückten Tourist*innen gewidmet sind. „Die Leute überschätzen ihre Fähigkeiten beim Klettern in der Hitze. Es ist einfach wahnsinnig steil“, erklärt Erckenbrecht. Seit den 1950er Jahren kamen beim Klettern am ‚Uluru‘ rund 40 Menschen ums Leben. Die Seelen der Verunglückten müssten nach dem Glauben der Aborigines in ein Totenreich geleitet werden. Um diesen Übergang ins Jenseits zu erleichtern, gibt es spezielle Bestattungsriten. Jedoch geschieht eben das mit den Seelen der verunglückten Tourist*innen nicht, sagt Erckenbrecht. Daher würden die Seelen der Verstorbenen noch lange am Ayers Rock ziellos herumgeistern. „Das ist für die Aborigines sehr unangenehm“, so Erckenbrecht weiter.

Ab dem 26. Oktober 2019 sollen zumindest keine weiteren Seelen am Ayers Rock dazukommen. Dann wird auch wegen der Unfälle das Klettern verboten. Die Ureinwohner*innen würden sowieso nicht auf die Idee kommen, auf den Berg zu klettern. Erckenbrecht sagt: „Für die Aborigines ist das völlig sinnentleert. Da oben ist nichts.“ Der Blick vom Ayers Rock streift nur über karge Vegetation und rötlichen Sand, der sich bis zum Horizont erstreckt.

Ob es Geister gibt oder nicht, ist eine Sache. Wie man mit ihnen umgeht, falls man von ihrer Existenz überzeugt ist, eine andere. Sogenannte „Geisterjäger-Schulen“ bilden die Brücke zwischen Vorstellungskraft und Praxis. Im Folgenden stellen wir ein Selbstexperiment zur Geisterjagd in den USA sowie Geisterjägergruppen aus der Schweiz und Österreich vor.

Geisterschulen gibt es nicht nur in den USA. Das Geisterjagen hat sich dort jedoch zu einer professionellen Nebenbeschäftigung etabliert, unter anderem mit der „New Jersey Ghost-Hunters-Society“ (NJGHS). Auch in Deutschlands Nachbarländern scheint das Geschäft Fuß zu fassen. Der Verein „GhostHunters Schweiz“ führt Geisterbereinigungen auf Anfrage hin durch. Zusätzlich wird dort mit anderen Praktiker*innen, wie Heiler*innen oder Medien zusammengearbeitet. Die „Vienna Ghosthunters“ bezeichnen sich als ältester und größter Verein, welcher sich in Europa mit paranormalen Aktivitäten auseinandersetzt. Auch sie helfen Betroffenen in Wien, beschäftigen sich aber auch wissenschaftlich mit paranormalen Phänomenen oder betreiben Ahnenforschung.

Die Ausbildung: Zeit und Kosten

Die Folge „Geisterjäger-Selbstexperiment“ der Wissenssendung „Galileo“ auf ProSieben stellt eine amerikanische Ghost-Hunter-Ausbildung vor. Reporter Martin Dunkelmann trifft Laura aus Pennsylvania, Chefin der „New Jersey Ghost-Hunters-Society“, eine der größten Geisterjägergruppen der USA. Innerhalb von drei Tagen bildet sie Geisterjäger*innen aus und verlangt umgerechnet 120 Euro pro Person.

Die Ausbildung bei den „GhostHunters Schweiz“ besteht wie bei der NJGHS aus Theorie und Praxis. Anders als das zweiköpfige Team in Pennsylvania, bestehen Ausbildungsgruppen der „GhostHunters Schweiz“ teilweise aus zwölf Personen. Auch bei der Tagesanzahl herrschen Unterschiede. Bei den Schweizern steht eine zweitägige Intensivausbildung auf dem Programm. Die Schüler*innen erlernen Verhaltensregeln und erhalten Einblicke in Radiästhesie oder rechtliche Grundlagen. Mit Kosten von 377 Schweizer Franken für Nichtmitglieder ist die Geisterjägerausbildung für zwei Tage teurer als bei der NJGHS. Jedoch scheint es sich hier um einen anspruchsvollen Crashkurs zu handeln. So heißt es auf der Webseite der Schweizer Geisterjäger*innen:

„Die Ausbildung ist sehr intensiv, und von den Teilnehmern wird viel verlangt. Die Nächte zwischen den Ausbildungstagen sind sehr kurz, da nachts eine Untersuchung durchgeführt wird.“ („GhostHunters Schweiz“)

Bei den „Vienna Ghosthunters“ ist die Ausbildung ausschließlich theoretisch. Auch die Tagesanzahl unterscheidet sich von den anderen beiden. Eine Intensivausbildung für Vereinsfremde dauert vier bis sieben Tage. Innerhalb des viertägigen Kurses lernen die Teilnehmer*innen Details zum Thema Klientenbetreuung oder -psychologie. Bei der siebentägigen Intensivausbildung wird zusätzlich im Bereich „Paranormale Investigationen außerhalb der Klientenbetreuung“ geschult. Preise für Nicht-Vereinsmitglieder sind der Homepage nicht zu entnehmen.

Vorbereitung: Geräte für die Geisterjagd

Die Ausbildung bei Galileo-Reporter Martin beginnt mit einem Theorieteil in Geisterkunde. Hier erfährt er, dass sowohl gute, als auch böse Geister existieren und er lernt das essentielle Equipment zum Geisteraufspüren kennen.

  • Thermometer: Man stellt fest, ob ein Geist anwesend ist oder nicht, wenn sich die Temperatur drastisch verändert.
  • Aufnahmegerät: Es bietet dem Geist die Chance, sich selbst zu äußern. Bei späterem Abhören, werden Geisterlaute erkennbar.
  • Kamera und Fotoapparat: Geister können durchaus auch auf Bildern sichtbar sein.

Die „GhostHunters Schweiz“ setzen ähnliche und noch weitere Geräte für die Geistererkennung ein:

Ghost Meter Pro zum Aufspüren von Geistern (Foto: Instagram, Account: mad_phelix)

  • Ghost Meter Pro: Ein Gerät, welches „junge“ von „alten“ Geistern unterscheidet. Es besitzt einen Kommunikationsmodus, um mit dem Geist zu sprechen.
  • Ghostlaser: Dieser Laserpointer erzeugt ein Streufeld. Während man eine Wand damit ausleuchtet, zeichnet eine zusätzliche Kamera Bewegungen innerhalb des Feldes auf.

Weitere technische Geräte zum Aufspüren von Geistern bei den „Vienna Ghosthunters“ sind zum Beispiel:

  • Boroskop Kamera: Kabelschächte oder enge Spalten können hiermit gefilmt werden.
  • Night Vision Multibrillen: Ermöglichen verstärkte Sicht bei Nacht und können Geister fotografieren und filmen.

Orte der Ausbildung

Friedhof für die Geisterjagd bei Nebel

Friedhof bei Nebel (Foto: kalhh, Pixabay.com)

Bei dem „Galileo Selbstexperiment“ findet ein Teil der praktischen Ausbildung in einer abgelegenen leerstehenden Villa statt, der „White Hills Mansion“. Ausgestattet mit technischen Geräten, macht sich die Gruppe auf die Suche nach Geistern und dokumentiert mögliche Hinweise. Auch die „GhostHunters Schweiz“ besuchen im Praxisteil der Ausbildung Gruselorte, an denen paranormale Erscheinungen häufig auftreten. Hierzu zählen unter anderem auch, wie bei der NJGHS, Friedhöfe. Burgen und Gruften sind ebenfalls beliebt. Hier findet das sogenannte „aktive Geisterjagen“ statt – eine Kombination aus Einsetzen der eigenen Sinne und technischen Geräten. Die Orte, an denen Schüler*innen der „Vienna Ghosthunters“ erlerntes Wissen in die Praxis umsetzen, bleiben ihnen selbst überlassen, da sie bei der Geisterjägerausbildung ausschließlich die Theorie erlernen.

Zertifizierte Geisterjagd

Am letzten Tag der Ghost-Hunter-Ausbildung geht es für Reporter Martin an die Arbeit bei Kunden. Er besucht eine Familie mit spukendem Dachboden. Das Fazit von Ausbilderin Laura fällt jedoch nüchtern aus: Es handle sich um einen freundlichen Geist – mehr erfahren wir nicht. Am Ende besteht Martin die Ausbildung und darf auf eigene Faust von nun an professionell Geister jagen.

Bei den „GhostHunters Schweiz“ erlangen alle Schüler*innen für erfolgreich durchgeführte Ausbildung ein Zertifikat und zusätzlich eine Bestätigung für die Aktivmitgliedschaft. Auch die Erlaubnis für Hausbesuche haben sie am Ende in der Tasche. Alle ausgebildeten Geisterjäger*innen erhalten im Netz ein Control Panel und dürfen Telefonabfragen durchführen. Von nun an können im Namen der „GhostHunter Schweiz“ Geisteruntersuchungen vorgenommen werden.

Die Schüler*innen der „Vienna Ghosthunters“ können nach Abschließen ihrer theoretischen Geisterjägerausbildung selbst zur Praxis übergehen. Jede*r erhält einen Homepagebutton, ein Zertifikat sowie einen Nutzungsvertrag und kann selbst dem neuen Nebenjob nachgehen.

Ob für ein paar Tage Geisterbeschwören dreistellige Beträge gerechtfertigt sind, bleibt fraglich. Vorstellungskraft und Interesse am Thema Geister müssen wohl immer mit vorhanden sein; dann steht dem Gruselerlebnis nichts mehr im Weg.

 

Charlie Charlie bist du hier?

Die Kommunikation mit dem Jenseits fasziniert die Menschheit seit jeher. Geisterbeschwörung ist auch heute noch ein beliebtes Thema – ob auf YouTube oder Pyjama-Partys. Doch welche Arten von Geisterbeschwörung gibt es eigentlich und wie funktionieren sie richtig? Eine Do-it-yourself Anleitung zu drei der beliebtesten Varianten mit Gruselgarantie.

Gläserrücken leicht gemacht

Das Gläserrücken gehört zu den bekanntesten Methoden, einen Geist zu rufen. Oft verwenden Laien diese Technik, da sie relativ einfach auszuführen ist. Für diese Art der Geisterbeschwörung benötigt man nur ein DIN-A3-Blatt und ein umgedrehtes Glas. Das Blatt ist mit den Buchstaben A-Z und den Zahlen 0-9 beschriftet. Außerdem gibt es die Antwortfelder „Ja“ und „Nein“.  Ein Glas befindet sich umgedreht in der Mitte des Blattes.

Alle Teilnehmer*innen der Geisterbeschwörung entscheiden sich für einen Spruch, mit dessen Hilfe sie den Geist rufen wollen, und legen die Fingerkuppe ihres rechten Zeigefingers auf das Glas. Im Chor wird der Spruch aufgesagt.

Der Geist sollte sich idealerweise zurückmelden. Die Beschwörer*innen fragen anschließend nach, ob es sich um einen guten Geist handelt. Rückt das Glas auf das Antwortfeld „Nein“, bittet man ihn höflich, wieder zu gehen. Wenn der Geist die Aussage bejaht, beginnt man mit der Fragerunde. Ganz wichtig dabei ist, den Geist immer höflich zu behandeln. Ihn zu verspotten oder zu ärgern, könnte böse Folgen für die Teilnehmer*innen der Beschwörung haben.

„Bloody Mary“ beschwören

Eine weitere recht bekannte Technik, um einen Geist zu beschwören, nennt sich „Bloody Mary“. Diese Art der Beschwörung geht auf die Legende von Mary Worth zurück, die angeblich während des 17. Jahrhunderts in Massachusetts in den USA gelebt haben soll. Ihr Gesicht sei entstellt gewesen. Aus diesem Grund hänselten sie die Kinder aus der Nachbarschaft. Es gibt aber auch noch zahlreiche andere Legenden um den Geist. Eine besagt, sie wäre Maria I. Tudor, die im 16. Jahrhundert Königin von England und Irland war. Sie ließ zahlreiche Protestant*innen hinrichten und hatte daher den Spitznamen „Bloody Mary“. Bereits seit dem 19. Jahrhundert und noch bis heute gilt es als Mutprobe, diesen Geist heraufzubeschwören.

Geisterbeschwörung der Bloody Mary

Für die Beschwörung der „Bloody Mary“ benötigt man lediglich einen Spiegel und Kerzenlicht. (Foto: whitedaemon, Pixabay.com)

Um die „Bloody Mary“ zu rufen, gibt es ein ganz einfaches Ritual. Dabei muss der/die Beschwörer*in sich vor einen Spiegel stellen. Der Raum, in welchem sich der Spiegel befindet, muss vollkommen abgedunkelt sein. Nur einige Kerzen sollten für Licht sorgen. Es gibt sehr unterschiedliche Vorgehensweisen. Die bekannteste besagt, dass man in den Spiegel schauen und dreimal den Namen „Bloody Mary“ wiederholen muss. Es gibt aber auch andere Anleitungen. Zum Beispiel, dass man in einem Art Singsang dreizehn Mal den Namen „Bloody Mary“ wiederholen soll. Hier ist es den Beschwörer*innen freigestellt, welche Variante er/sie wählt. Er/sie kann auch mehrere Varianten ausprobieren, um den gewünschten Effekt zu erzielen.

Was passiert nach der Beschwörung der „Bloody Mary“? Hier gehen die Meinungen stark auseinander. Es heißt, statt seinem eigenen Gesicht sehe man das einer jungen Frau, der Blut über das Gesicht läuft. Das ist noch die harmloseste Variante. Andere berichten von einer Hand, die aus dem Spiegel kommt und den/die Beschwörer*in würgt. Es gibt auch Schilderungen von Kratzern am ganzen Körper. Diese Variante der Geisterbeschwörung ist etwas für Mutige. Da der/die Beschwörer*in sich alleine in einem abgedunkelten Raum aufhält, ist der Gruselfaktor garantiert.

„Charlie, Charlie, bist du hier?“

Die dritte Methode zur Geisterbeschwörung hat einen Netztrend ausgelöst. Dabei riefen Social-Media-Nutzer*innen den Geist Charlie, um ihm Fragen zu stellen und filmten sich dabei. Anschließend veröffentlichten sie die Videos auf ihren Social-Media-Kanälen. Dies nennt sich dann die „Charlie Charlie-Challenge“. Ursprünglich kommt das Spiel aus dem Spanischen und heißt „Juego de la Lapicera“ (Bleistiftspiel). In diesem Spiel geht es zunächst nicht um Geisterbeschwörung. Mädchen im Teenageralter nutzen es, um herauszufinden welche Jungen in sie verliebt sind. Erst seit dem Film „The Gallows“ wird das Spiel auch als Geisterbeschwörungstechnik verwendet. In diesem geht es um einen Geist namens Charlie, der eine Gruppe Schüler*innen terrorisiert. Eine Marketing-Aktion für diesen Film ging viral, und so entstand die Anleitung für die „Charlie Charlie-Challenge“.

Charlie kommt nicht

Beim Selbstversuch hat Charlie sich nicht blicken lassen. (Foto: Anne-Sophie Fauser)

Genau wie bei „Bloody Mary“ kann der/die Beschwörer*in nur einen bestimmten Geist rufen, nämlich Charlie. Er kam angeblich vor 20 Jahren bei einem tragischen Autounfall ums Leben. Im Gegensatz zur „Bloody Mary“ soll es sich um einen guten Geist handeln. Um diesen zu beschwören, ist nicht viel Aufwand gefordert. Es braucht lediglich ein Blatt Papier und zwei Bleistifte. Das Blatt wird doppelt mit „Ja“ und „Nein“ beschriftet. Man legt dann zwei Bleistifte überkreuzt auf das Blatt. Daraufhin stellt der/die Beschwörer*in die Frage: „Charlie, Charlie, bist du hier?“. Der Bleistift sollte sich dann von selbst bewegen und auf das Antwortfeld „Ja“ deuten. Jetzt ist der Geist von Charlie anwesend und kann Fragen beantworten. Meist führen Gruppen diese Technik der Geisterbeschwörung durch und sie ist eher ein lustiger Zeitvertreib. Gruselstimmung kann zwar aufkommen, jedoch vermutlich weit weniger als bei der Beschwörung der bösen „Bloody Mary“.

Im nachfolgenden YouTube-Video hat der Betreiber des Kanals „GeisterGlauber“ die „Charlie Charlie-Challenge“ ausprobiert. Er stellt Charlie Fragen und bekommt tatsächlich Antworten durch den Bleistift, der auf „Ja“ oder „Nein“ deutet. Auf YouTube gibt es sehr viele solcher Selbstversuch-Videos, die sich alle auf die „Charlie Charlie-Challenge“ beziehen.

Ob diese Praktiken tatsächlich einen Geist rufen können oder auf wissenschaftlich erklärbaren Phänomenen beruhen, ist fraglich. Es muss jeder für sich entscheiden, wieviel er dem Glauben schenken möchte. Für ein wenig Gruselstimmung und einen Adrenalinkick ist aber auf jeden Fall gesorgt.

Bis 2050 wollen Wissenschaftler*innen das menschliche Gehirn digitalisiert haben. Kann ich dann, physisch längst tot, meine Ururenkel*in am Computer begrüßen? Und bin ich dann ein Gespenst?

Schon lange geistert die Idee der künstlichen Intelligenz durch die menschliche Kultur und inzwischen auch durch den Alltag. Die Vorstellung, den menschlichen Verstand selbst zu digitalisieren, ist hingegen ein gewagterer Gedanke. Er stößt an die Grenzen der Vorstellungskraft und fordert tiefe religiöse und moralische Überzeugungen heraus. Ist der Verstand zu klonen? Bin ich dann zwei Personen oder überträgt sich mein „Ich“? Kann ich meine Neuronen und Synapsen Stück für Stück digitalisieren und so mein Bewusstsein übertragen? Gibt es eine Seele? Ist der Mensch etwas anderes als eine biologische Maschine? Kann ich mir endlich morgens ein externes Hirn anschließen, aufstehen und im „Standby“ weiter schlummern? Aber allem voran, erreichen wir Unsterblichkeit?

Ein digitales „Du“, ok. Aber ein digitales „Ich“?

Anfangs war das noch eine bizarre Idee in Science-Fiction-Romanen wie Stanislav Lems „Sternentagebüchern“. Dort konnten Menschen im Todesfall auf eine digitale Backup-Kopie des eigenen „Ichs“ zurückgreifen und sich in einem Ersatzkörper wiederbeleben. Spätestens mit dem Manga „Ghost in a Shell“ oder, noch populärer, dem Film „The Matrix“ kam der Gedanke, das menschliche Bewusstsein zu digitalisieren, in der Popkultur an. Aber inzwischen forschen Wissenschaftler*innen bereits in der Realität daran.

wissenschaftler mit gehirn

BRAAAIIIIINS!

Auch das von der Europäischen Kommission finanzierte Human Brain Project versucht, das menschliche Gehirn nachzubauen und funktionsfähig zu machen. Dies bedeutet, alle Vorgänge im Gehirn werden digital imitiert. Mehr als 80 Milliarden Neuronen-Interaktionszuweisungen müssen in einen Computer übertragen werden. Am Ende soll dann ein digitales Bewusstsein entstehen.

Die Nachbildung des Gehirns soll den Forscher*innen neue therapeutische Möglichkeiten für die Behandlung von Gehirnkrankheiten bieten. So will man durch den Nachbau eines betroffenen Gehirns Krankheiten wie Alzheimer oder Schizophrenie besser verstehen und schlussendlich heilen können. Auch würde die Technik viele Tierversuche obsolet machen. Ein am Human Brain Project beteiligter Wissenschaftler ist sich sicher: „Das Human Brain Project [wird] als Wendepunkt in die Geschichte eingehen.“

Na und?

Abgesehen von ungefähr unendlich vielen psychologischen und philosophischen Fragen stellt sich heutzutage natürlich die Frage: Digitales „Ich“, Unsterblichkeit, kollektive Vernetzung schön und gut, aber wie kann man damit Geld verdienen?

Sony bietet direkt eine Antwort auf die Frage. Sie haben bereits das Patent für ein Gerät angemeldet, welches, durch gezielte Hirnstimulation, einen Film und die Vorstellungen des Regisseurs einem direkt ins Hirn projizieren soll. Inklusive Gerüchen, Temperatur und in bestimmt nicht allzu langer Zeit ‒ Emotionen. Man stelle sich nur Jurassic Park 17 Redux direkt zwischen Neocortex und den Erinnerungen an die tote Oma vor. Um die Qualität müssen wir uns nicht sorgen, was wir fühlen, wird ja direkt mitgeliefert.

Vielleicht ja doch gar nicht so schlecht?

Aber nicht nur die mentale Manipulation wird durch die Erforschung des Gehirns möglich. Auch verstehen wir mehr und mehr über dessen physischen Aufbau. So will der russische Medienunternehmer Dmitri Itzkow mit seinem Konzern New Media Stars bis 2025 die ersten künstlichen Avatare herstellen, in welche wir unser Gehirn manuell verpflanzen können. Künstliche Körper sollen dann in die Massenproduktion gehen und beliebter sein als Autos. Für Itzkow handelt es sich aber nicht nur um eine Art der Fortbewegung oder die Etablierung einer neuen Technik. Für ihn ist es „eine neue Strategie des Menschseins.“ Auch für führende Neuroforscher*innen ist diese Technologie nicht aus der Luft gegriffen. „Nichts ist unmöglich“, kommentiert Mohamed Oubbati von der Forschungsgruppe NeuroBotik an der Universität Ulm. 2025 erscheint ihm aber zu optimistisch. Aktuell würden wir nicht genug über das menschliche Gehirn wissen, um es vollständig imitieren und am Leben halten zu können.

Ich spuke, also bin ich

Wenn der Mensch es schaffen würde, das „Ich“ zu digitalisieren, sollte das uns als Gespensterjäger aber besonders interessieren. Denn wenn das „Ich“ nur aus Synapsenfeuer besteht, wie konnte dann jemals jemand ohne lebendiges Gehirn als Gespenst wiederkommen sein? Es gibt die Theorie, dass lediglich eine begrenzte Menge Energie im Universum existiert und wir als Teil dieser Energie weiterleben ‒ nur in gänzlich anderer Form. Das könnte zum Beispiel erklären, warum sich der Geist in Horror-Filmen oft zunächst mit plötzlichem Gegenstände-Rücken zu erkennen gibt. Vielleicht kann ich also nicht in meiner persönlichen Form als Gespenst spuken, sondern beispielsweise als … Stuhl.

hat nix mit gehirn zu tun

Vielleicht ist es auch der Teddy. (Foto: Alexas_Fotos, Pixabay.com)

Digitale Untote

Auch stellt sich noch die Frage, ob wir in Zeiten digitaler Menschen und digitaler, nun ja, Untoter, den Begriff „Gespenst“ nicht neu definieren müssen. Schaut man bei Google nach der Definition von Gespenst, liest man:

Aha! Und ein Geist?

 

Bevor wir uns jetzt in die Untiefen der Definitionen von „spuken“ begeben und uns fragen, ob „furchterregend sein“ nur temporär erfüllt sein muss, um als Gespenst zu gelten, oder ob es für diesen Zustand eine Mindestanzahl an Erschreckten braucht, ziehen wir doch lieber den altbewährten Duden heran:

Definition Gespenst: „Furchterregendes spukendes Wesen.“

Etwas überrascht müssen wir also feststellen: Die Welt ist voller Gespenster. Aber, wie wir hier in unserem Blog schon des Öfteren gezeigt haben, ist „Gespenst“ ohnehin ein sehr dehnbarer Begriff. Wir wissen zwar noch nicht, ob sich ein Bewusstsein, vergleichbar mit dem Unseren, digital reproduzieren lässt oder ob man sein „Selbst“ in der Zukunft digitalisieren kann. Aber sollte dies der Fall sein, dann spuken wir in der Zukunft ja vielleicht als „Gespenster“ durch die Sozialen Netzwerke so wie das heute „Trolle“ machen.

Die Menschheit wird sich den „Gespenster“-Begriff bestimmt passend zurechtbiegen. Auch werden Gespenster in Zukunft vermutlich ihren metaphorischen Charakter behalten und weiterhin der Schuld, der Verantwortung und dem Gewissen ein heimsuchendes Gesicht verleihen. Notfalls kann man sich die Frage nach Gespenstern einfach religiös zusammenkonstruieren, und vielleicht wird ja alles, was wir denken, sagen und fühlen, auf irgendeiner transzendentalen Cloud gespeichert. In dem Fall bleibt einem selbst dann nur zu hoffen, durch die himmlische Firewall zu kommen.

gehirngeist gen himmel

Ab ins Quarantäne-Feuer

Gespenstersagen und Gruselgeschichten lauern überall, auch das „Ländle“ hält einiges für Geisterfans bereit. Im ersten Teil dieser Serie waren wir in Großerlach. Von dort aus sind es gerade mal 35 km bis Waiblingen. Auch hier gibt es gleich mehrere schaurige Geschichten.

Die Sage der Totenmesse im Nonnenkirchlein

Waiblingen, 17. Jahrhundert – seit langem ist es Brauch, im Nonnenkirchlein am letzten Tag des Jahres den verstorbenen Bürgern Waiblingens zu gedenken. So will auch eine namentlich unbekannte Witwe auf diese Weise ihren toten Mann ehren. Sie nimmt sich vor, am nächsten Morgen den Gottesdienst zu besuchen. Um ausgeschlafen zu sein, geht sie früh zu Bett. Doch mitten in der Nacht wird sie aus ihrem Schlaf gerissen. Aus dem Nonnenkirchlein dringen Stimmen und Orgelmusik. Als die Witwe aus dem Fenster sieht, entdeckt sie am Fenster der Kirche den flackernden Schein einer Kerze. Aufgewühlt wirft sie sich rasch ihre Sonntagskleider über. Sie rechnet damit, dass die Totenmesse bereits begonnen hat. Die Witwe eilt zur Kirche: Sie liegt richtig.

Allerdings erkennt die Frau weder den Pfarrer wieder noch eine*n der Anwesenden. Zwar wundert sie sich, lauscht aber trotzdem gespannt der Messe. Als am Ende des Gottesdienstes die Opfergaben eingesammelt werden, erschrickt die Witwe. Sie hat ihren Geldbeutel vergessen. So streift sie sich einen Ring als Pfand vom Finger, um diesen später gegen Geld wieder einzutauschen. Sie geht nach Hause und will nach der langen Nacht noch ein paar Stunden schlafen. Gegen Mittag des nächsten Tages wird die Witwe auf der Straße angesprochen, wo sie denn beim morgendlichen Gottesdienst für die verstorbenen Seelen gewesen sei.

Wo ist der Ring?

Verwundert über die Reaktionen der Mitbürger*innen sucht sie den örtlichen Pfarrer auf. Und siehe da: Ihr Ring befindet sich nicht im Beutel mit den Opfergaben. Gemeinsam begeben sie sich im Nonnenkirchlein auf die Suche nach dem Ring. Dieser ist jedoch nicht aufzufinden. Umso mehr erschrecken die Bewohner*innen Waiblingens, als sie den Ring finden: eingemeißelt in einen alten Grabstein. Mit viel Mühe und Not brechen alle gemeinsam das Schmuckstück aus dem Stein heraus. Erleichtert geht die Witwe nach Hause. Ein ähnliches Ereignis ist seither nicht überliefert.

Von Teufeln, Trollen und Totenköpfen

Die Geschichte der Totenmesse im Waiblinger Nonnenkirchlein kann man heute noch in einem Buch über Waiblinger Stadtgeschichten nachlesen. Der Vorsitzender des Heimatvereins, Wolfgang Wiedenhöfer, hat in „Teufel, Trolle und Totenköpfe“ 24 geheimnisvolle Geschichten zusammengefasst, die sich in Waiblingen zugetragen haben sollen. Als Quelle diente ihm dabei die Chronik des Vogts Wolfgang Zacher aus dem Jahr 1666. In seiner Niederschrift stehen zahlreiche Geschichten und Sagen, die ihm damals von Bürger*innen zugetragen wurden. Vieles wurde dem Vorsitzenden des Heimatvereins aber auch von noch lebenden Bewohner*innen Waiblingens erzählt, so Wiedenhöfer in der Stuttgarter Zeitung.

Neben der Sage der Totenmesse besteht das Gerücht, es gebe einen bisher unentdeckten Verbindungsgang vom Kirchenhügel zum heutigen Rathaus. Außerdem sollen eine alte Quellhexe und ein Totenkopf ihr Unwesen in der Stadt getrieben haben. Letzterer spuke im Turm der Stadtmauer und gehöre einem alten Leichnam an, den Tübinger Medizinstudenten im 15. Jahrhundert aufgrund anatomischer Studien entführt haben sollen. Der Schädel des Waiblingers erscheine seitdem in manchen Nächten im Karzer und sei am nächsten Morgen sofort wieder verschwunden.

Wieviel Wahrheit steckt in den Geschichten?

Keine der Gruselsagen lässt sich bisher historisch belegen. „Ein Funken Wahrheit steckt in vielen der Geschichten“, so Wolfgang Wiedenhöfer. Der Totenschädel gehöre sogar irgendwie zur Stadtgeschichte. Ebenso wie die abgeschlagene Ecke an der alten Steinplatte bei der Michaelskirche nahe dem Nonnenkirchlein, in der der Ring der alten Witwe gesteckt haben soll. Wiedenhöfer selbst bietet auch Stadtführungen an, die an das Interesse der Teilnehmenden angepasst werden können. Wer sich jedoch besonders für das Nonnenkirchlein oder die Michaelskirche begeistert, muss sich noch bis zum kommenden November gedulden. Die beiden Gebäude werden momentan saniert und sind nicht für Besucher*innen zugänglich, so die Waiblinger Kreiszeitung. Und trotzdem – Waiblingen lädt mit seinen zahlreichen Anekdoten auf jeden Fall zu einem Besuch ein. Egal ob das Nonnenkirchlein, der städtische Karzer oder auch der Kirchenhügel. Gruselfans haben hier die Gelegenheit, an den vielen Punkten Waiblingens den geheimnisvollen Geschichten auf den Grund zu gehen.

 

 

Ein Schriftsteller, der keiner ist. Das Phänomen des Ghostwritings ist keine Erscheinung der Neuzeit. Auch in der Vergangenheit verfassten Ghostwriter berühmte Werke. Manche konnten aufgedeckt werden, andere bleiben für immer ein Mysterium.

Geistern wird nachgesagt, sie seien irgendwo zwischen Existenz und Transzendenz ‒ also hier und doch nicht hier. Das ist ebenso gültig für einen Ghostwriter. Einen Autor, der kein Autor ist. Ein Schriftsteller, dessen Name nicht auf dem Buchrücken erscheint. Jemand, der da ist und dann wieder nicht hier ist. Schon in der griechischen und römischen Antike existierte die Praxis, dass Auftragsschreiber Reden für andere schrieben. Dafür verlangten die sogenannten Logographen sogar ein Honorar. Dieses Phänomen zieht sich durch die Jahrhunderte und ist dem heutigen Ghostwriting im akademischen Bereich sehr ähnlich. Heute verfassen Agenturen Hausarbeiten für Studierende, die zu hohen Preisen erstanden werden können. Ein wichtiger Unterschied besteht hier aber: Das Redenschreiben für andere ist weit verbreitet und wird als legitim betrachtet, Hausarbeiten von einer Agentur schreiben zu lassen ist illegal.

Besonders beliebt ist das Ghostwriting außerdem in der Literaturform der Autobiografie. Berühmte Persönlichkeiten schreiben über ihr Leben ‒ obwohl sie das schriftstellerische Handwerk nicht gelernt haben. Es kommen ihnen dann Schreiberlinge zu Hilfe, die diesen Job für sie erledigen. So verfassten Ghostwriter bekannte Biografien wie zum Beispiel von Heidi Klum, Dieter Bohlen oder Helmut Kohl. Barack Obama und sicherlich viele andere Politiker ließen und lassen ihre Reden von anderen schreiben.

Der Geist des Buches ‒ ist es der Schriftsteller auf dem Buchrücken oder der Ghostwriter? (Quelle: NoName_13, pixabay.com)

Wer also seine Bücher oder seine Hausarbeiten von einem Ghostwriter schreiben lässt, steht mit seinem Namen auf dem Buchrücken. Gleichzeitig ist er aber nur eine leere Hülle. Deshalb stellt sich hier die Frage: Sind nicht eigentlich die inhaltslosen Namen auf dem Buchrücken die Geister? Sie stehen zwar da, aber eigentlich sind sie nicht existent, nicht im Werk.

Wer war William Shakespeare?

William Shakespeare (Quelle: Wikilmages, pixabay.com)

Wenn wir heute auf die großen Werke aus der Literatur blicken, können wir nur aus dem schließen, was auch überliefert ist. Die wahren Umstände, wie ein Werk entstand und wer schlussendlich die Schreibfeder in der Hand hielt, können wir nicht wissen. Um einen berühmten Schriftsteller ranken sich besonders viele kontroverse Diskussionen. William Shakespeare, der „Romeo und Julia“, den „Sommernachtstraum“ und „Kaufmann von Venedig“ verfasst hat. Er soll einen Ghostwriter gehabt haben? Nun, auch daran scheiden sich die Geister.

In der Literaturwissenschaft hat sich die Auffassung etabliert, dass William Shakespeare der Urheber vieler der Werke ist, die unter seinem Namen veröffentlicht wurden. Kritiker zweifeln allerdings an, dass Shakespeare überhaupt Schriftsteller gewesen ist. Seine soziale Herkunft und seine Schulausbildung könnten nicht den erheblichen Wortschatz in seinen Werken ermöglicht haben. Außerdem bestehen erhebliche Lücken in Shakespeares Lebenslauf. Von Literaturwissenschaftlern wird jedoch fest angenommen, dass Shakespeare Schriftsteller war. Auf seinem Grabstein wurde außerdem eine Darstellung mit einer Schreibfeder gefunden.

Die einen sagen so, die anderen sagen so

Falls jedoch tatsächlich ein Ghostwriter existiert haben soll, ist auch die Frage nach dem Namen desselben nicht geklärt. Auch hier bestehen verschiedene Auffassungen und Möglichkeiten. So gelten unter anderem Francis Bacon, Christopher Marlowe oder Edward de Vere (Earl of Oxford) als mögliche Kandidaten für den wahren Schriftsteller hinter William Shakespeare. Alle sind sie Zeitgenossen von Shakespeare und es gibt Argumente, die für oder auch gegen sie sprechen. Edward de Vere (Earl of Oxford) starb zum Beispiel bereits 1604, während einige Werke von Shakespeare erst nach diesem Zeitpunkt verfasst worden sind. Zwischen dem Schreibstil von Sir Francis Bacon (Wissenschaftler und Philosoph) und Shakespeare soll es gewisse Ähnlichkeiten geben, und Bacon selbst behauptete einmal von sich, ein versteckter Dichter zu sein. Der Dramatiker und Dichter Christopher Marlowe soll sogar seinen eigenen Tod vorgetäuscht haben, um in der Verborgenheit die Werke Shakespeares zu schreiben.

Letztlich geklärt worden sind diese Theorien bis heute nicht. Bisher bleibt die Frage ob, und wenn ja, welchen Ghostwriter es gegeben hat, also ein Mysterium. Für dieses Phänomen gibt es noch andere Beispiele. Auch um Homer ranken sich viele Spekulationen. Der Verfasser der „Ilias“ und der „Odysee“ soll gar nicht existiert haben, behaupten die einen. Die anderen behaupten, die Werke wurden von mehreren Dichtern verfasst und diese unter dem Namen „Homer“ zusammengefasst. Bei diesem Phänomen handelt es sich nicht um die typischen Ghostwriter, wie wir sie heute kennen. Trotzdem gilt für diese Schriftsteller ebenfalls, dass sie unter einem anderen Namen schreiben. Ob es die Person mit diesem Namen gab oder nicht, ist eine andere Frage.

Früher war ein versteckter Autor vielleicht noch an der Handschrift erkennbar, heute in der digitalen Welt gibt auch die Schrift darauf keinen Hinweis mehr (Quelle: nile, pixabay.com)

Während also niemand sicher weiß, wer der Urheber der Texte von Shakespeare oder Homer war, die Debatte darüber, ob es einen Ghostwriter gab, macht den Schriftsteller zu einer zweifelhaften Person. Die Debatte hinterfragt das Genie, das Leistungsvermögen des Dichters und macht ihn so zu einer Person ohne Inhalt. Der Ghostwriter ist eine Figur ohne Hülle, existiert aber in dem Text, den er verfasst hat. Er ist also allgegenwärtig, obwohl sein Name nicht erscheint. Der Schriftsteller, der auf dem Buch steht, ist ein Name ohne Inhalt und abwesend im Text. Wer ist hier eigentlich der Geist?

Einen lesenswerten, weiterführenden Artikel zum Thema Shakespeare-Urheberschaft (aus Zeit online) finden Sie hier.

Beitragsbild: Quelle pixabay

In „Herr der Ringe“ wird Frodo von Nazgul verfolgt, Harry Potter badet in Gesellschaft der Maulenden Myrte, der Geist von Aslan wacht über Narnia und Mina heiratet dem Vampir Dracula. Fantastische Literatur stellt unbegrenzte Möglichkeiten nicht lebende Kreaturen zu bilden, die noch immer in der „realen“ Welt existieren. Aber was für eine Realität konstruieren die Autor*innen und was für eine Rolle spielen ihre Gespenster in dem Ganzen?

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