Seidig glatt, bunt gefärbt, lockig und kräftig – Europas größtes Menschenhaarlager in Madrid bietet für jeden Geschmack die entsprechende Ware an. Das Geschäft mit echtem Menschenhaar floriert. Denn der Haarhandel ist eine Milliarden-Dollar-Industrie.

Grund für den wachsenden Wirtschaftszweig sind westliche Modetrends. Die Nachfrage von Extensions und Perücken hat in den vergangen Jahren einen regelrechten Boom erfahren: „Nachdem die Hollywoodstars vor einigen Jahren angefangen haben, sich offen dazu zu bekennen, will es auf einmal jeder haben“, erklärt Peter Volk, Vorsitzender des Verbands der Zweithaarhändler. Zu den Abnehmer*innen zählen vor allem westliche Länder. Allein in den USA wurde seit 2011 Echthaar im Wert von 980.000 Euro importiert, doch auch in Deutschland hat sich der Markt etabliert. Akribisch dokumentiert von den Zolldienststellen sind jährlich 30 Tonnen importiertes Echthaar längst keine Neuheit mehr. Ein Bündel Haare kostet auf dem Schwarzmarkt momentan circa 200 Euro, je nach Beschaffenheit und Länge. Es wird damit zur wichtigen Einnahmequelle, sowohl für Besitzer*innen als auch für Händler*innen.

Doch welche Auswirkungen hat der Haarhandel? Was sind die Konsequenzen, wenn menschliches Haar zur Ressource wird?

Menschliches Haar als Ressource

Die Bezugsquellen der Haarhändler*innen werden oft geheim gehalten: Nicht selten stecken Armut und organisierte Kriminalität dahinter. Immer wieder gibt es Berichte über Haarraub. Betroffen sind vor allem Süd- und Lateinamerika. Doch auch in vielen ärmeren Regionen Spaniens, Chinas, Osteuropas und Indiens finden die Haarhändler*innen Verkäufer*innen, die sich gezwungen sehen, die eigenen Haare für wenig Geld zu verkaufen.

Zwischen verarmten Frauen mit wallendem Haar und westlichen Friseursalons, in denen ebendieses Haar eine*n neue*n Besitzer*in findet, befinden sich Welten. Wortwörtlich, denn die Haare legen meist lange Strecken zurück und umrunden die halbe Welt, bis sie bereit zum Verkauf sind.

Haare zu Gold spinnen

Das Geschäft mit dem Haarhandel ist kein neues. In der französischen Bretagne der 1840er Jahre beobachtete bereits der berühmte Schriftsteller Thomas Trollope, wie Haarhändler Bauernmädchen „wie Schafe“ geschoren haben. Auch im England des 19. Jahrhunderts wurden Bewohner*innen von Gefängnissen, Arbeitshäusern und Krankenhäusern regelmäßig kahlgeschoren, um die finanziellen Gewinne durch den Verkauf der Haare als Einkommen zu nutzen. Ebenso haben im frühen 19. Jahrhundert jährlich circa 15.000 Immigrant*innen Haare verkauft, wenn sie in New York ankamen. Doch nicht nur westliche Länder haben den Handel mit Haaren als lukrative Einnahmequelle früh entdeckt. Selbst in der Antike wurde bereits mit Haaren gehandelt und vor allem im Osten hat sich ein Geschäft entwickelt, das bis in die Gegenwart reicht.

Während englische Krankenhäuser schon lange nicht mehr die Haare ihrer Patient*innen verkaufen müssen, sind Menschen auf der anderen Seite der Welt dazu gezwungen, ihre Haare herzugeben, um sich Lebensmittel und Medikamente leisten zu können. Weit zurück reichen beispielsweise die südkoreanischen Wurzeln der Haarindustrie: Südkorea galt lange als Quelle für Haare, später als wichtiger Standort für die Herstellung von Perücken und Extensions.

Es wird dort produziert, wo Arbeit billig ist

Der Haarhandel als wichtiger Industriezweig unterscheidet sich bei der Standortwahl heutzutage nicht mehr von anderen Wirtschaftssektoren: Es wird dort produziert, wo Arbeit billig ist. So hat sich die Produktion, nachdem Südkorea und Hongkong zu teuer wurden, in den 1990er Jahren nach China verlagert. Allerdings steigen auch dort die Löhne, wodurch Afrika und Myanmar zu entscheidenden Produktionsländern werden. China importierte früher Haarknäuel aus Kämmen von Friseursalons und entwirrte diese. Heutzutage weigern sich chinesische Händler*innen, diese mühsame Arbeit auszuführen. Auch politische Streitigkeiten haben in der Vergangenheit bereits Einfluss auf wichtige Entwicklungen im Haarhandel ausgeübt. So wurden beispielsweise nach dem Sturz der Qing-Dynastie 1911 vielen chinesischen Männern ihre Zöpfe abgeschnitten, wovon ein großer Teil später auf dem europäischen Haarmarkt verkauft wurde. 1966 gab es ebenfalls richtungsweisende Einschnitte in den internationalen Haarmarkt, als die USA den Import von Haaren aus China verbot. Indien wurde durch diesen Boykott zum bis heute wichtigsten Lieferanten für Haar.

Armut als Schlüsselrolle

Der Grund für den Verkauf der Haare lautete früher meist gleich wie heute: Armut. Diese spielt eine wahre Schlüsselrolle für die Erhaltung und Ausweitung der Industrie. So müssen nicht nur Menschen sich bereit erklären, für wenig Geld ihre Haare zu verkaufen. Bevor die Haare sich verkaufen lassen,  werden sie meist von schlecht bezahlten Arbeitskräften von Hand entwirrt, gewaschen, gefärbt und chemisch behandelt. Aber selbst in europäischen Ländern finden sich vereinzelt verzweifelte Verkäufer*innen, die ihr Haar zu Geld machen wollen. So führen die immer noch hohe Arbeitslosigkeit und die geringen Ersparnisse dazu, dass auch Spanier*innen die Einnahmequelle für sich entdeckt haben.

Fließbandarbeit für die Götter

Religiöse Gründe können ebenfalls hinter dem Haarhandel stecken. Vor allem indisches Haar stammt oft aus hinduistischen Tempeln, in denen Frauen, Männer und Kinder ihre Haare als Opfergaben hinterlassen. Während sie ihre Haare in der Hoffnung, ihre Gebete mögen erhört werden, dem Tempel übergeben, stehen diese immer wieder unter Verdacht, sich ein großes Geschäft mit dem geopferten Haar zu erschleichen.

Der berühmteste Tempel liegt hoch oben auf den Tirumala-Hügeln in Tirupati. Dorthin kommen jährlich 19 Millionen Pilger*innen, um Geld oder Haare darzubringen. Das sind mehr Pilger*innen als in Mekka oder Rom – keine Frage, dass der Tempel so gut organisiert ist und so reich wie kein anderer in Indien erscheint. Indisches Echthaar türmt sich hier in hohen Bergen auf, die Menschen stehen stundenlang Schlange, um sich einen Termin und eine frische Rasierklinge für ihre Rasur geben zu lassen. Fließbandarbeit für die Götter.

Welche Menschen stehen hinter der Ware?

Ob der Religion wegen oder aus Armut – die eigenen Haare zu verkaufen, kostet einiges an Überwindung und erfordert viel Mut. Wer sind diese Menschen also, die ihre Haare verkaufen? Streng religiöse Männer und arme Frauen?
Und wer sind die Käufer? Skrupellose Händler auf der Suche nach dem schnellem Geld? Wir werfen einen Blick auf Verkäuferinnen und Händler aus der ganzen Welt.

Bei unserer Suche nach Menschen, die mit Haaren ihr Geld verdienen, sind wir im Internet auf spannende Geschichten aus allen Kontinenten gestoßen. Dabei ist uns aufgefallen, dass neben unterschiedlichsten Lebenssituationen und Herkünften Geschlechterrollen fast schon klischeehaft bedient werden. Von Emanzipation fehlt im Haarhandel jede Spur: Frauen verkaufen ihr Haar, Männer handeln mit Haar. Die einzige Ausnahme bilden männliche Gläubige, die ihr Haar im Tempel opfern. Aber auch hier sind die Händler männlich. Der große Profit vom haarigen Trend bleibt für die weiblichen Akteurinnen im internationalen Handel aus.

Von Venezuela über Vietnam nach Indien: Drei Frauen – drei Verkäuferinnen

Quelle: Al Jazeera English, youtube.com, https://www.youtube.com/watch?v=q8S0A8iu51o

Maira Perez – Venezuela

Autos hupen, Menschen drängen sich über die Straßen. Bepackt mit Einkäufen und Wasservorräten überqueren täglich viele Menschen die Grenze von Venezuela nach Kolumbien, um Dinge zu kaufen, die in Venezuela aufgrund der Wirtschaftskrise nicht länger erhältlich sind. Auch Maira spürt den Druck, ihre schönen Haare zu verkaufen. Für umgerechnet zehn bis 20 US-Dollar lässt sie sich schließlich von einem Straßenhändler überreden, ihr Nackenhaar zu verkaufen. Mit dem Geld könne sie saubere Windeln bezahlen, welche in Venezuela kaum mehr zu finden sind, erklärt sie.

Nachdem der Straßenhändler ihr jedoch einige dicke Strähnen am Hinterkopf entfernt hat, fährt sie sich entsetzt über die kahlen Stellen: „I feel like I was ripped off. They left me completely bold underneath.“ Doch der günstige Geldwechsel zum Peso und die Entlohnung für die verkauften Haare ermöglichen es Maira und vielen anderen Frauen in Kolumbien, mehr Lebensmittel und Haushaltswaren zu kaufen, als es in ihrem Heimatland Venezuela möglich gewesen wäre.

Hier im Video: Frauen in Venezuela verkaufen ihr Haar, um zu überleben

Quelle: Refinery29, youtube.com, https://www.youtube.com/watch?v=VlZ1SWLBfPE

Thi Thuy Nguyen – Vietnam

Thi Thuy lebt auf dem Land in Vietnam. Dort ist langes Haar weiterhin ein wichtiges Zeichen der Weiblichkeit einer Frau. Für Nguyen steht ihr langes Haar für eine bessere Zukunft. Schon viele Händler haben Nguyen ein Angebot gemacht, doch sie hat die schlecht bezahlten Abmachungen immer abgelehnt. Die meisten Händler waren nur bereit, ihr zwei bis drei Dollar zu zahlen. Doch heute hat sie ein passendes Angebot gefunden und ihre Entscheidung ist gefallen: Die Haare werden abgeschnitten.

Vor dem entscheidenden Haarschnitt zündet Thi Thuy ein Räucherstäbchen an, stellt es in eine Vase und verbeugt sich mit gefalteten Händen. Eine andächtige Handlung. „Meine Familie geht durch eine schwere Zeit“, erklärt sie. Mit dem Geld will sie helfen, doch ihr langes Haar wird sie sehr vermissen. „Ich weiß nicht, wie ich mit kurzen Haaren aussehen werde.“ Nach getaner Arbeit ist ein kurzer Bob alles, was zurückbleibt von der hüftlangen Mähne. Die bessere Zukunft beginnt für Thi Thuy mit einem Verlust.

Quelle: Journeymen Pictures, youtube.com, https://www.youtube.com/watch?v=M2lvzmkWba0

Ghiandi – Indien

In den hinduistischen Tempeln Indiens überlassen Millionen Gläubige den Göttern ihr Haar. So auch Ghiandi. Sie ist zusammen mit ihrem Mann und ihrer Schwester in den Süden Indiens gereist, um ihr Versprechen einzulösen. Vor Jahren litt Ghiandi unter einer Krankheit und möchte nun Gott ihr Haar dafür opfern, dass er sie geheilt hat. Ihre Haare sind ihr kostbarster Besitz.

„Wir opfern das Haar Gott. Was danach damit geschieht, wissen wir nicht“, sagt sie im Interview. Anders als bei Maira und Thi Thuy werden ihr nicht einzelne Strähnen entfernt, sondern der ganze Kopf mit einer Rasierklinge kahl geschoren. Zurück bleiben keine Haare, aber ein starker Glaube. „Eine Frau mit Haaren ist schön“, sagt sie nach ihrer Rasur. „Und nachdem eine Frau ihre Haare Gott geopfert hat, ist sie immer noch schön.“

Von Spanien über Vietnam nach Indien: Drei Männer – drei Haarhändler

Quelle: AFP Deutschland, youtube.com, https://www.youtube.com/watch?v=mOg17irt0tk

Justino Delgado – Spanien

Die spanische Hauptstadt kann vieles bieten – so auch das größte Menschenhaarlager der Welt. Und dieses gehört Justino Delgado. Stolz verwaltet er sein Unternehmen im Süden der Hauptstadt. Die Regale erstrecken sich hier bis unter die Decke, gefüllt über und über mit Haaren. Blond, Schwarz, Braun – auf jedem Markt sind andere Farbtöne gefragt. So kaufen die Deutschen wohl bevorzugt dunkelblondes Haar, was auf dem spanischen Markt eher eine Seltenheit ist. Dass immer mehr Spanierinnen für 50 bis 150 Euro ihr Haar an ihn verkaufen, ist ein großes Glück für Justino: „Europäische Haare sind feiner und sehr begehrt, sie verkaufen sich besser als zum Beispiel das dickere asiatische Haar.“ Justino selbst wurde nicht als großer Unternehmer geboren, sondern ist einst selbst als Haarhändler von Dorf zu Dorf gezogen. Heute ist er Chef eines mittelständischen Import-Export-Unternehmens und der Besitzer des größten Menschenhaarlagers Europas.

Dan Choi – Vietnam

Quelle: Refinery29, youtube.com, https://www.youtube.com/watch?v=VlZ1SWLBfPE

In Vietnam sind Haarhändler dafür bekannt, ihren Kundinnen so gut wie nichts für ihr Haar zu bezahlen oder sogar nach dem Schnitt Hals über Kopf zu verschwinden, ohne zu zahlen. Anders Dan Choi, der wohl einzige sogenannte „Ethical-Hairseller“ in Vietnam. Er reist mit seinem Motorrad durch Vietnam, während er Frauen aus der Region faire Preise für ihre Haarpracht zahlt und so dazu beiträgt, dass diese wieder eine Zukunft haben. Indem er sie aus der Armut rettet und gleichzeitig sorgfältig ausgesuchtes und hochwertiges Haar erhält, schlägt er zwei Fliegen mit einer Klappe.

So hat er auch Thi Thuy ihr Haar abgekauft für umgerechnet über 100 Euro. Ein Preis, der in Vietnam normalerweise undenkbar ist. Doch Dan kann es sich leisten. Er will sein Unternehmen Remy New York zum ersten ethischen und komplett transparenten Haarhändler auf dem Markt machen. Hier könnt ihr mehr über Dans Unternehmen erfahren: https://remyny.com/about

 

Quelle: Ravindranath Vanka, youtube.com, https://www.youtube.com/watch?v=pixB3itwtMw

Vanka Ravindranath – Indien

Vanka Ravindranath verarbeitet in seiner Fabrik Indian Hair Industries Pvt. Ltd Haare aus Indiens unzähligen Tempeln. 3.000 Menschen arbeiten bei ihm und behandeln Hunderte Tonnen an Haar jährlich. Diese werden von seinen Mitarbeitern in aufwendigen und mühsamen Verfahren gewaschen, getrocknet und sortiert. Verkäufer aus der ganzen Welt kommen in seine Fabrik, um die Haare zu kaufen, die jetzt fertig für die Verarbeitung zu Perücken und Extensions sind. Für Revan Revanka sind die Haare seine Quelle des Stolzes.

Der Haarhandel mit Menschenhaar ist offensichtlich erfolgreich…

…und für manch einen oft die einzige Möglichkeit, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Was aber, wenn das eigene Haar unfreiwillig von anderen verhökert wird? Ob südafrikanische „Hair Jackers“ oder die gefürchteten „Pirañas“ in Südamerika beteiligt sind – Richten wir den Blick auf das Phänomen des Haarraubs, das ebenso wie der armutsbedingte Haarverkauf in vielen Teilen der Welt verbreitet ist.

Wie die anfangs genannten Beispiele aus der englischen Geschichte zeigen, wurden bereits vor vielen Jahrzehnten Menschen unfreiwillig ihrer Haarpracht entwendet. Mit Haaren lässt sich Geld verdienen – das hat sich bis heute nicht verändert. Vielmehr ist die Nachfrage in den letzten Jahren deutlich gestiegen, was die Häufung krimineller Handlungen erklärt. So wird vor allem 2013 auffällig viel über Haarraub berichtet – scheinbar besonders betroffen: Kolumbien, Venezuela und Südafrika.

Lange, dichte Mähne – das südamerikanische Schönheitsideal in Kolumbien

„Seit drei Jahren ungefähr gibt es einen wachsenden Markt für Frauenhaar“, erzählt Diana Pito im Herbst 2013 im Gespräch mit dem Spiegel. Die Kolumbianerin arbeitet für eine Menschenrechtsorganisation und berichtet, wie sich aus der steigenden Nachfrage nach Echthaarperücken, vor allem aber Extensions, eine organisierte Form der Kriminalität gebildet hat. Die Nachfrage hinge mit dem südamerikanischen Schönheitsideal zusammen, das von langem, dichtem Haar geprägt ist. Danach streben mittlerweile nicht nur Models und Teilnehmer*innen von Schönheitswettbewerben – die lange, dichte Mähne ist längst in der breiten Masse angekommen. Um diesem Ideal näher zu kommen, würden sich laut Pito vor allem Afro-Südamerikanerinnen vermehrt glatte Strähnen ins Haar einflechten oder glatthaarige Perücken tragen.

Kein Wunder also, dass viele Friseur- und Schönheitssalons Schilder mit Suchanfragen aufhängen: „Kaufe Frauenhaar – in Büscheln oder als Ganzes“. Was auch immer „Frauenhaar als Ganzes“ genau heißen mag. Die Ergebnisse der Google-Bildersuche mit dem Suchbegriff „compro pelo“ (dt. „Kaufe Haare“) illustrieren die Verhältnisse: zahlreiche Schilder mit Kaufangeboten, aufgehängt an Häuserwänden, Bäumen und Litfaßsäulen sowie digitale Suchanzeigen im Netz ergeben ein Bild von der hohen Nachfrage. Auch in sozialen Netzwerken existieren viele Gruppen, in denen Angebot und Nachfrage von menschlichen Haaren sichtbar werden.

Unzählige Kaufangebote von Echthaar: Die Google-Bildersuche illustriert die Nachfrage. Bildquelle: Screenshot.

Es scheint also nicht schwer zu sein, Haare schnell und einfach zu verkaufen. Diesen Gedanken hatten wohl auch einige, die selbst nicht mit dem gefragten Haar gesegnet sind – und sich daher an der Pracht anderer bedienen. Wobei „bedienen“ im gefragten Kontext wohl etwas zu harmlos klingt: „Wo viel Geld zu verdienen ist, sind die Mafias nicht weit“, so Pito. Eine Bekannte von ihr wurde an einer Bushaltestelle überfallen. Wie aus dem Nichts hielt ein Moped mit zwei Männern neben ihr, der hintere von beiden holte eine Schere hervor und schnitt ihr brutal das Kopfhaar ab, wobei er sie am Hals verletzte. Nur ein Angriff von vielen – doch konkrete Zahlen gibt es nicht. Die Angst vor der Brutalität der Mafia sei zu groß.

Verdeckte Ermittler gegen Haarmafia in Venezuela

Auch in Venezuela gibt es eindeutige Indizien für kriminelle Haarmachenschaften. Nicht umsonst rief Präsident Nicolás Maduro 2013 zum Einsatz einer „harten Hand gegen die Mafia“ auf, wie die Süddeutsche in einem Panorama berichtete. Die Überfälle in Städten wie Maracaibo oder Caracas klingen ähnlich wie die in Kolumbien: Auch hier sind die Täter*innen in Gruppen unterwegs und schneiden ihren Opfern, sei es mit der Schere oder Glasscherben, ihre Haare ab. „Pirañas“ – so werden die Täter*innen genannt, die wie Raubfische in den Städten unterwegs sind und Frauen auf offener Straße ihre Haare abschneiden.

Einkaufszentren sind dank der Aussicht auf modebewusste und dem Schönheitsideal nacheifernde Frauen besonders beliebt für Haar-Überfälle. 2013, in der Hochphase des Haardiebstahls, entschied sich die damalige Bürgermeisterin von Maracaibo, Eveling de Rosales, zum Einsatz verdeckter Ermittler in Shopping Malls. Damit sollten die mafiösen Überfälle in der Hafenstadt im Norden Venezuelas eingedämmt werden. Wie erfolgreich die Strategie war, ist aufgrund lückenhafter und nach dem „Hoch“ der 2013 abgeklungenen Berichterstattung schwer zu sagen. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass Polizei und Justiz so gut wie keine konkreten Zahlen nennen können. Schwer zu beurteilen also, wie sich die Haar-Kriminalität in Südamerika derzeit entwickelt.

Was die Pirañas in Südamerika sind, sind die Hair Jackers in Südafrika

Chimamanda Ngozi Adichie ist die Anführerin des „Natural Hair Movement“ (Quelle: TedxTalks, youtube.com, https://www.youtube.com/watch?v=hg3umXU_qWc)

Auch in Südafrika bedingt die steigende Nachfrage nach Echthaar-Extensions die Kriminalität. Mit einem Unterschied: Die Haardiebe sind vor allem auf Dreadlocks und Rastazöpfe aus. Denn seit einigen Jahren beobachten Marktforscher einem Welt-Bericht zufolge das sogenannte „Natural Hair Movement“. Die Bewegung wird von der nigerianischen Schriftstellerin und Feministin Chimamanda Ngozi Adichie angeführt und steht für die Wertschätzung des natürlichen, afroamerikanischen Haars. Lange Zeit haben viele Afrikanerinnen ihre Haare chemischen Glättungen unterzogen oder sich mit glatthaarigen Perücken westlichen und asiatischen Schönheits-Standards angepasst. Doch seit einigen Jahren sind die natürlichen Frisuren populärer denn je. Auf Shades of Hair schreibt Sahra über das Natural Hair Movement und Nardos über die gesellschaftliche Akzeptanz des Afros.

Schönheitsideal in Afrika hat sich gewandelt

Tameka Ellington, Assistenzprofessorin für Modedesign an der Kent State University in Ohio, USA, beschäftigt sich intensiv mit der Geschichte des afrikanischen Haars. „Der Umgang mit der eigenen Identität in Afrika und der afroamerikanischen Gemeinschaft ist normaler geworden“, erklärt sie. Damit habe sich auch das Schönheitsideal in vielen afrikanischen Ländern verändert. Ein Grund dafür sei die zunehmende Solidarisierung durch soziale Netzwerke und Blogs, stellt sie in ihrem Aufsatz „Bloggers, vloggers and a virtual sorority: A means of support for African American women wearing natural hair“ fest, der 2014 in in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Journalism & Mass Communication erschienen ist.

Und tatsächlich scheint das Thema in den sozialen Netzwerken sehr präsent zu sein. Unter dem Hashtag #naturalhairmovement gibt es allein auf Instagram über 31.000 Beiträge: Fotos von Afros nach dem Motto „The bigger the better“, aufwendige Frisuren mit Dreadlocks und Rastas, Frisur- und Pflegetipps und Zitate, die die Bewegung anfeuern:  „We should love who we are and let the world know it, we shouldn’t have to put chemicals that can melt bodies on our hair just to feel accepted. Our hair is the crown we never take off, so we should look after it and love it exactly how it is.” (öffentlich gepostet von @tiannedunkley_nailart am 7.07.2018)

Der Trend geht zur Natur

Die bewusste Entscheidung zum natürlichen Look ist zum Trend geworden – mit großem wirtschaftlichen Potenzial. Denn „natürlich“ ist nicht gleichzusetzen mit „keine Pflege“. Wie das Marktforschungsunternehmen Euromonitor International herausgefunden hat, ist die Anzahl der Marken für Haarpflegeprodukte innerhalb von zehn Jahren drastisch gestiegen. Der Umsatz in dieser Sparte liege in Afrika und dem Mittleren Osten bei 3,7 Milliarden Euro im Jahr.

Die Bereitschaft, viel Geld in den natürlichen Haar-Look zu investieren, ist offensichtlich da. Nicht aber die Geduld, die Haare auf eine Länge wachsen zu lassen, die für üppige Dreadlocks oder Rastas nötig ist, berichtet die BBC. Die Alternative: Extensions aus echtem afrikanischen Haar, das sich zu den gewünschten Frisuren zwirbeln lässt. Die Nachfrage besteht übrigens nicht nur auf dem afrikanischen Kontinent und in Amerika, sondern auch in Europa. Das „Crocheting“ (dt. häkeln) ist eine Methode, bei der mit Hilfe einer dünnen Nadel die Rastas mit dem vergleichsweise dünnen Haar des Kunden verwebt werden.

„Cut and run“ statt „Cut and go”

Nicht verwunderlich also, dass der Schwarzmarkt für Echthaar auch in Südafrika boomt. Für Dreadlocks kann man je nach Länge bis zu 2.000 Rand (umgerechnet derzeit ca. 125 Euro) erwirtschaften. Bei den sogenannten „Cut and runs“ überfallen die Täter*innen ihre Opfer ähnlich wie in Südamerika und trennen ihnen mit Scheren, Messern, Scherben oder sonstigen scharfen Gegenständen das lange Haar gewaltsam ab. Zu den bekannteren Fällen zählt der von Mutsa Madonko, der in Johannesburg überfallen wurde. Die Täter hätten ihn mit einem Messer bedroht und seine Haare mit mehreren Scheren abgeschnitten. „I still feel pain when I think about that night“, berichtet der gebürtig aus Simbabwe stammende junge Mann im BBC-Interview.

Zehn Jahre lang hatte er seine Haare wachsen lassen, die Dreadlocks hingen weit über die Schultern hinab. Er ist einer der wenigen, der sich an die Polizei gewendet hat. So werden in dem BBC-Bericht Opfer zitiert, die das Interesse der Polizei an Haardiebstählen bezweifeln. Der Sprecher der Polizei von Johannesburg, Captain Lungelo Dlamini, hingegen beanstandet die fehlenden Anzeigen. Gleichzeitig aber sagt er, dass die Polizei den Opfern zwar bei der Anzeigen-Erstattung helfe. Jedoch gäbe es für Haardiebstahl „keine passende“ Strafe – sehr ermunternd also für Opfer, sich der Polizei anzuvertrauen.

Noch immer treiben die Hair Jackers in Südafrika ihr Unwesen, die der Berichterstattung zufolge 2015 auch Kapstadt erreicht haben. Friseur*innen, sowohl aus Johannesburg und Durban als auch aus Kapstadt, berichten von den täglichen Versuchen fremder Leute, echte Haare an sie zu verkaufen. So ging es auch Joyce Munyama, einer Friseurin in einem Township nahe Kapstadt. Doch sie verweigert sich dem kriminellen Haarhandel: „Wenn ich nicht weiß, von wem die Haare stammen, lasse ich lieber die Finger davon“, sagt die 30-Jährige. Denn sie könne nicht ausschließen, dass die ihr angebotenen Haare von Hair Jackern brutal entwendet wurden. Viele weitere südafrikanische Friseur*innen machen sich gegen den illegalen Haarhandel stark und ermutigen auch andere Salons zu dieser Vorgehensweise.

Und in Deutschland?

Wer denkt, hier bei uns in Deutschland weit entfernt von diesen Hair Crimes zu sein, liegt falsch. Im Mai letzten Jahres wurde eine Frau am Potsdamer Busbahnhof von vier Männern überfallen, die ihren Pferdeschwanz packten und abschnitten. Sie hatten die Frau zuvor nach dem Weg gefragt, und als diese ihnen bereitwillig Auskunft gab, nutzte einer der Männer das Ablenkungsmanöver und zückte eine Schere. Mit der beachtlichen Beute (der Zopf hatte eine Länge von ca. 20 cm) flohen die Täter, von ihnen fehlt bis heute jede Spur. Damit fehlt natürlich auch die Klarheit über das Motiv – vielleicht haben sich die Männer mit der Tat nur einen dummen Scherz erlaubt.

Doch vor dem Hintergrund der existierenden Haar-Kriminalität und vor allem der hohen Preise, die auf dem Schwarzmarkt für echtes Menschenhaar geboten werden, liegt ein Zusammenhang nicht fern. Fest steht: Der illegale Handel mit Haaren boomt. Ob man die eigenen, lang gezüchteten Haare abschneidet, um sie gegen eine mehr oder weniger beachtliche Summe einzutauschen, oder ob man gegen den eigenen Willen seiner Haare beraubt wird.

Verantwortung als einzige Lösung

Beides entsteht aus einem Zwang heraus. Zum einen ist es die eigene finanzielle Notlage, zum anderen oft die Armut anderer, die einen dazu zwingt, die eigenen Haare herzugeben. Beides, sowohl Haarverkauf aus Armut als auch Haarraub, geschieht also mit derselben Intention: Dem Gewinn von Geld aus Haaren. Das geht, weil die verschiedenen Haartrends, sei es glatt und seidig oder möglichst viel Rasta, die nötige Nachfrage hergeben. An der Stelle kann man als Konsument*in eine gewisse Verantwortung übernehmen.

Denn sei es Perücke oder Extensions, sei es für den Alltag oder Karneval – beim Kaufen kann man das Produkt hinterfragen: Sind das echte Menschenhaare und wenn ja, woher kommen sie? Besteht die Möglichkeit, dass sie ihre*r Besitzer*in unfreiwillig entwendet wurden? Genau wie die Friseursalons in Südafrika oder Südamerika die Kette des illegalen Haarhandels durchbrechen könnten, kann das der Konsument*in letztendlich auch.

Auf unserem Blog beschäftigt sich Corina mit der Möglichkeit, Haare zu spenden. Einen interessanten Blick auf das Haare-Abschneiden als Demütigung, mit besonderem Blick auf die Kollaborateurinnen im Zweiten Weltkrieg, liefert Anne. Und wer sich für das Natural Hair Movement interessiert, sollte in die Beiträge von Sarah über Dreadlocks und von Nardos über Tipps für Curly Girls reinlesen. Viel Spaß beim Stöbern!

Quellen:

2 Kommentare
  1. Luna
    Luna sagte:

    Ein super interessanter und spannender Beitrag! Ich glaube vielen ist gar nicht bewusst, dass es auf der Welt so etwas wie Haarraub gibt und dass das gar nicht mal so selten vorkommt!

  2. Angelina
    Angelina sagte:

    Schockierend und überraschend! So wie Luna bereits erwähnt hat, mir war nicht bewusst, dass es heutzutage immer noch so ein großes Thema ist und eine solch mächtige Industrie dahintersteckt! Wirklich gut geschrieben und inhaltlich sehr spannend!

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