Als ich einziehe, hat meine Mitbewohnerin schulterlange, blonde Haare, markante Gesichtszüge und einen einzigartigen Stil. Der Stil und die Gesichtszüge sind geblieben, doch ihre Haare hat sie sich letztes Jahr im Oktober auf neun Millimeter abrasiert. Seitdem bringt sie die wildesten Geschichten über Reaktionen zu ihrem Frisurenwechsel und ihren abrasierten Haaren mit nach Hause. So wild, dass es sich lohnt, darüber zu sprechen …

Wann hast du die Entscheidung getroffen, dir deine Haare abzurasieren?

Ich habe „Fleischmarkt“ von Laurie Penny* gelesen und daraufhin beschlossen, meine Haare abzurasieren. Aber ich habe mir davor schon überlegt, dass kurze Haare praktischer sind.

 

Und war nur der praktische Aspekt die Motivation dir die Haare abzurasieren oder gab es noch andere?

Also eigentlich war es tatsächlich das Praktische und ein bisschen das „Anti-Gefallen-Wollen“. Ich weiß, wie man aussehen kann, um zu gefallen. Das ist gut fürs Ego. Aber es ist vielleicht ein bisschen eine Antihaltung, gegen das, was als schön gilt und gegen dieses Gefühl, „wenn ich jetzt auch so aussehe, werde ich auch geschätzt“. Das gefällt mir nicht.

 

Wenn du also sagst, es sei auch ein bisschen eine Antihaltung, stehen deine Haare für dich dann auch für etwas?

Für mich sind sie ein Statement gegen eine visuelle Kultur. Ich finde, dass wir in einer sehr oberflächlichen Welt leben. Ob in Gesprächen, oder ob es das Äußere ist. Sehr viel geht darum, die Oberfläche zu pflegen und das, was darunter ist damit zu kaschieren. Wenn du diese Oberfläche anfängst anzukratzen, kommt da ganz schön viel raus. Und darum geht es: die Oberfläche zu entfernen.

 

Eigentlich für die Undercut-Frisur bei Männern gedacht – für Frauen gibt’s die Haarschneidemaschine in Drogeriemärkten nämlich gar nicht: damit rasiert sie sich alle drei bis vier Wochen ihre Haare. (Quelle: eigene Aufnahme)

Dann machst du dich damit gewissermaßen auch angreifbar … Wie hat dein Umfeld auf den Frisurenwechsel reagiert?

Die meisten waren extrem überrascht; sie haben es als „mutig“ umschrieben. Negative Reaktionen kamen teilweise aus der Familie, wie zum Beispiel, damit würde man den Feminismus nun wirklich zu weit treiben. Dabei handelt es sich doch nur um etwas so Banales wie Haare. Man sollte meinen, dass es eigentlich keine Rolle spielt, aber offensichtlich doch. Von älteren Menschen habe ich eher stark negative Reaktionen gehört, wie dass das für Frauen nicht schicklich sei, oder ich doch kein Mann sei – als müsste man mein biologisches Geschlecht noch mal klarstellen.

 

Ja, ältere Generationen sind da vielleicht so gefangen in ihrer Weltauffassung, dass sie nur schwer damit umgehen können. Sind denn die Reaktionen jüngerer Leute weniger krass?

Die meisten Leute sind sehr verhalten in der Äußerung ihrer Meinung. Aber ein sehr guter Freund hat gesagt, dass ich jetzt für die Männerwelt nicht mehr attraktiv sei. Ich war schon schockiert, weil für mich Attraktivität nichts mit der Frisur zu tun hat.

 

Als könnte der für die ganze Männerwelt sprechen … Kannst du inhaltlich irgendwas aus solchen Aussagen ziehen?

Sie führen vor Augen, dass im Jahr 2018 immer noch extrem strikte Regeln vorherrschen, wie man auszusehen hat. Mir war schon bewusst, dass bestimmte Dresscodes bei bestimmten Anlässen extrem wichtig sind und auch Gültigkeit beanspruchen können. Im Bezug auf die Frisur war mir nicht klar, dass man in einer Stadt mit 93.000 Einwohnern noch auf so rückständige Reaktionen trifft.

 

Kamen diese rückständigen Reaktionen nur direkt nach dem Frisurenwechsel oder sind die jetzt immer noch so?

Jetzt sind die immer noch so. Ich bin nachts durch die Stadt gelaufen, und habe eine Gruppe jugendliche Männer gesehen. Die sind an mir vorbei gelaufen und haben geschrien „geile Glatze“ …

 

… trifft dich sowas?

Von einer Gruppe angegriffen zu werden, ist natürlich nie schön. Aber ich weiß auch, dass das keine fundierte Kritik ist. Und ich lasse nichts an mich ran kommen, was nicht fundiert oder nachweisbar ist. Wenn jemand zu mir sagt „Deine Nase sieht scheiße aus“, dann sag ich „Gut, danke aber …“. Beleidigungen sind nicht das Niveau, auf dem ich mit Leuten kommuniziere.

„Mit kurzen Haaren fühle ich mich am wohlsten.“ (Quelle: eigene Aufnahme)

 

Das ist auch besser so. Hast du sonst noch negativen Erfahrungen gemacht?

Ja … Es gibt auch Leute, die eher subtiler fragen: „Bleibt das jetzt so?“, „Hast du eine Wette verloren?“ oder „Ist das jetzt deine dauerhafte Frisur?“ Leute gehen davon aus, dass das nicht dein Ernst sein kann.

 

Das sind ja schon einige krasse Kommentare. War dir vorher bewusst, dass solche Reaktionen kommen könnten?

Ehrlich gesagt schon. Ich hab mich hauptsächlich wegen des praktischen Aspekts dazu entschieden, aber auch weil ich gerne mein Umfeld teste. Ich habe angenommen, ich würde gewisse Reaktionen bekommen und diese Annahme wurde bestätigt.

Meinst du, es ist heutzutage immer noch so, dass es Rollenklischees gibt und wenn man diesen nicht entspricht, fällt man auf?

Man fällt auf jeden Fall auf. Man wird ganz anders angeschaut und rezipiert. Ich bin eigentlich jemand, der sehr aufmerksam durch sein Umfeld geht und es auch merkt, wenn Leute einen anstarren. Das war mir schon klar. Was mir nicht klar war, ist, dass Leute sagen „Das sei nicht schicklich“ oder so.

 

Aus Übung wird Routine – auch die Seiten und der Hinterkopf sind kein Problem mehr. (Quelle: eigene Aufnahme)

Wie haben eigentlich deine Eltern reagiert?

Ich hab das ja zu Hause bei meinen Eltern gemacht. Mein Vater war nicht da, aber meine Mutter schon. Der habe ich erzählt, „Ich rasier‘ mir jetzt die Haare ab“ und die hat gemeint, „Ohje … bist du dir sicher? Deine Haare sind doch gerade so schön und gesund und von der Sonne so schön hell…“. Und als sie es gesehen hat, hat sie mir Komplimente gemacht und gesagt „Du kannst auch eigentlich alles tragen“. Mein Vater hat nur gemeint, dazu sage er jetzt nichts. Ich glaub, er findet das nicht so besonders schön, verbalisiert hat er das aber nicht.

 

Hast du von deiner Familie denn mehr Unterstützung erwartet?

Von meiner Mutter war mir die Reaktion klar. Ich denk, mein Vater will einfach eine normal aussehende Tochter haben.

 

„Mir gefällt daran außerdem, dass ich schneller im Bad bin, keine Haargummis mehr brauche und mir beim Schreiben in der Uni keine Haare ins Gesicht fallen.“ (Quelle: eigene Aufnahme)

Wie gehst du denn mit den ganzen negativen Reaktionen um?

In der Stadt, als ich angeschrien wurde, habe ich gar nichts gesagt. Wenn man mich eine Zeit lang anstarrt, dann grinse ich einfach. Ich hab damit jetzt nicht so ein großes Problem. Mich traumatisiert das nicht. Ich habe in dem Sinne dann genug Selbstbewusstsein, um mir zu denken: „Wenn du wirklich nichts anderes zu tun hast, als dir zu überlegen, was ich für eine Frisur habe und ob das zu meinem kulturellen Geschlecht passt, dann dein Problem“.

 

Gesunde Einstellung. Und was antwortest du, wenn Leute sagen „Das sollte man als Frau nicht tragen“?

Eigentlich stelle ich da ganz gern Gegenfragen. Im banalsten Fall frage ich „Warum?“ und im besten Fall „Was sollen Frauen denn dann machen?“ Man kann sich da natürlich drüber lustig machen und Sprüche klopfen, oder man tritt mit den Leuten wirklich ins Gespräch. Also ich nehme das auch mit Humor.

 

Humor braucht man bestimmt viel. Eine letzte Frage habe ich noch: Wenn du es dir aussuchen könntest, wie würdest du dir die Reaktionen der Menschen wünschen?

Ich finde gar nicht, dass man aus der Frisur so einen Sonderfall machen müsste. Ich denke, dass jeder seine Haare tragen kann, wie er möchte, ob Mann oder Frau, ob etwas dazwischen oder Mann im Frauenkörper und anders herum. Und ich finde, das nimmt so einen geringen Stellenwert ein, dass es überhaupt nicht der Diskussion wert ist. Ich habe es jetzt zum Diskussionsgegenstand erhoben, weil ich eben gemerkt habe, dass es nicht so ist. Man kann da exemplarisch an etwas so Banalem wie einer Frisur bestimmte gesellschaftliche Missstände sichtbar machen. Aber eigentlich wäre es das Ideal, wenn es keine Rolle spielt, ob ein Mann schulterlange Haare trägt und sich Spängchen kauft oder ob eine Frau gerne kurzes Haar hat und sich damit wohl fühlt. Ich finde, dass es in keinem Fall kommentierungswürdig ist. Man kann es schon thematisieren, aber nicht unter dem Aspekt des Absonderlichen.

So sieht das Waschbecken aus, nachdem sie sich ihre Haare nach rasiert hat. (Quelle: eigene Aufnahme)

 

*In Laurie Pennys Buch „Fleischmarkt“ geht es um die Vermarktung des weiblichen Körpers. Die Tradition der Frau, die vom Mann als Objekt dargestellt wird und bestimmte Schönheitskriterien erfüllen muss, wird skizziert.

 

Quellen:

 

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7 Kommentare
  1. Jasmin
    Jasmin sagte:

    Tolles Interview und sehr interessante Gesprächspartnerin. Die Beweggründe sind bei so radikalen Haarveränderungen immer interessant. Ich kenne zum Beispiel einen Mann, der sich seine langen Haare abschneiden musste, um einen Job zu finden …

    • ananas
      ananas sagte:

      Dankeschön 🙂 Ohje, dein Beispiel zeigt genauso, in welchen gesellschaftlichen Zwängen wir uns Bewegen. Das setzt an Äußerlichkeiten wie Haaren an…

  2. Tim F.
    Tim F. sagte:

    „Ich denk, mein Vater will einfach eine normal aussehende Tochter haben.“ Das ist schon eine knallharte Aussage. Und zeigt, wie weit persönliches Schönheitsideal und gesellschaftliche Akzeptanz auseinander liegen können.

  3. Anonymous
    Anonymous sagte:

    Ob Männer mit langen Haaren oder Frauen mit kurzen Haaren ist doch vollkommen egal. Hauptsache, es gefällt einem selbst. Und ich finde es klasse, wenn man den Mut aufbringt, unsere Schönheitsideal zu durchbrechen – jeder Mensch ist auf seine eigene Weise besonders, jeder ist schön. Es sollte keinen Mut benötigen, sich die Haare zu rasieren, es sollte genauso normal sein, wie sich einen Pferdeschwanz zu binden. Wir alle sollten unseren Mitmenschen viel mehr Akzeptanz und Wertschätzung entgegenbringen. Sollten uns die Mühe machen, hinter die Fassade zu blicken und uns nicht von so Dingen wie die Länge der Haare ablenken lassen.
    Ich selbst hatte früher so kurze Haare, dass alle dachten, ich sei ein Junge. Und es war mir absolut egal. Ich wollte lieber blau als pink tragen, lieber im Dreck spielen als mit Puppen. Wir sind geprägt von Vorstellungen darüber, wie „der typische Junge“ oder das „typische Mädchen“ auszusehen und sich zu verhalten hat. Warum fällt es uns so schwer, die Menschen so zu akzeptieren, wie sie sind? Warum beeinflussen die Klischees unser Denken und Handeln so stark?

  4. chrissi
    chrissi sagte:

    Als ich noch jünger war, habe ich mir mal meine Haare selbst komplett kurz geschnitten. Meine Oma meinte dann zu meiner Mutter, ich solle doch jetzt mehr rosa und Kleidchen tragen – sonst könnte ja noch jemand denken ich sei ein Junge. Im Nachhinein find ich das schon krass, wie solche Rollenklischees schon mir als kleines KInd aufgedrückt wurden und wie viel Ärger ich damals bekommen habe, nur weil ich kurze Haare wollte. Andererseits kommt Oma aus einer anderen Generation, ich versteh das schon ein bisschen.. Ich hoffe aber sehr, dass es mit der Zeit immer irrelevanter wird, ob eine Frau jetzt kurze, lange, pinke oder grüne Haare hat, um „normal auszusehen“.

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  1. […] Etwas ernsthafter widmet sich meine Kommilitonin Anna dem Thema, warum man auch heute noch als Frau mit einer Kurzhaarfrisur polarisiert. […]

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