Beiträge

Denkt man an Fenster, so kommt einem vieles in den Sinn. Schöne Ausblicke ins Freie, intime Einblicke ins Private oder vielleicht der Blick auf die neusten Produkte. Was die wenigsten wissen: Neben Welten und Waren werden auch Menschen in Koberfenstern zur Schau gestellt.

Weiterlesen

Verwundert blickten meine Augen über den Bildschirm als ich meinen ersten amerikanischen Teeniefilm schaute. Wieso trugen die Figuren immer eine zerknitterte Papiertüte bei sich, wenn sie auf dem Weg zur coolsten Party der High School waren? Weiterlesen

Scherenschnitt ist eine besondere Kunstform, die von ihrem kulturellen Umfeld tief beeinflusst wird. So unterscheiden sich westliche und orientalische Scherenschnittkunst deutlich voneinander. Dies spiegelt nicht nur die Vorlieben und Meinungen der Künstler und Künstlerinnen wider, sondern vor allem die Unterschiede zwischen den beiden Kulturen.

Weiterlesen

Das Geisterfest in China, ein Fest für den Tod wie der Día de los Muertos in Mexiko, fällt auf den 15. Tag des 7. Monats nach dem chinesischen Mondkalender. Ursprünglich zählte es zu den wichtigsten traditionellen Festen, aber allmählich verliert es seine Bedeutung für die moderne Gesellschaft. Nur noch einige Bürger*innen, Bauern und Bäuerinnen in einigen Regionen sowie manche Überseechines*innen feiern heutzutage noch diesen Vollmondtag. Warum interessieren sich die meisten Chines*innen nicht mehr für das Geisterfest?

Der Geistermonat

Das Geisterfest war ursprünglich ein Opferfest. Diese Tradition lässt sich auf die Qin-Dynastie (221-207 v. Chr.) zurückführen. Die antiken Chines*innen legten viel Wert auf die Opfergabe im Frühling und Herbst. Der Frühling symbolisiert den Anfang des Lebens, während der Herbst den Untergang markiert. Im Herbst hielten der Kaiser und die Fürsten eine Reihe von Zeremonien ab, darunter auch die Opfergabe für Baidi (白帝), den Gott des Todes. Es wurden Speisen und Räucherwerke für den Gott und die Vorfahren aufgestellt und Bankette gegeben. Solche höfischen Veranstaltungen beeinflussten das Bürgertum. Nach und nach wurde der siebte Monat (nach dem chinesischen Mondkalender, ungefähr Ende August nach dem heutigen Kalender) zum Geistermonat. Nach dem Volksglauben wird die Tür der Unterwelt am ersten Tag geöffnet und am 15. Tag wieder geschlossen.

Das Licht auf der Straße soll den Weg für die Toten gen Heimat weisen. Diese Tradition passt nicht mehr zum modernen Stadtleben.

Im Geistermonat kommen die Gespenster nach langer Wartezeit auf die Erde. Traditionell werden auf der Straße Kerzenlichter angezündet und Schuhe aufgestellt, damit die Toten bequem gehen können. Ansonsten verursachen die unzufriedenen Geister unerträgliche Katastrophen, die den Lebenden drohen. Man lässt auch Papierboote und Laternen auf dem Wasser schwimmen. Einerseits weist das Licht den Toten den Weg in ihre Heimat, wo ihre Familien Speisen aufstellen und Höllengeld verbrennen, um ihre Müdigkeit zu vertreiben und ihr Leben in der Unterwelt zu verbessern. Anderseits hoffen die Menschen, dass die Geister voller Groll (weil sie lange Zeit in der Dunkelheit des Jenseits verbracht haben) so schnell wie möglich ihre Zielorte erreichen. Das Geisterfest, das am 15. Tag des Monat gefeiert wird, ist der Höhepunkt – ist es für die Toten doch ihr letzter Tag auf der Erde.

Zwei religiöse Ursprünge

Die Daoisten lesen  heilige Schriften, bringen Opfergaben dar und schreiben Gebete auf Papier.

Das Geisterfest hat zwei religiöse Ursprünge. Für die Daoisten heißt das Fest eigentlich Zhongyanjie (chinesisch 中元节). Die Buddhisten feiern an diesem Tag das Ullamabna-Fest (chinesisch 盂兰盆节). Interessanterweise entwickeln sich die beiden Religionen fast reibungslos in China, wahrscheinlich wegen der Offenheit der chinesischen Kultur. Seit der Song-Dynastie (960–1279) ist zu beobachten, dass Daoismus und Buddhismus gemeinsam mit Konfuzianismus drei unverzichtbare Grundlagen für die chinesische Kultur bilden. Seither können die Anhänger*innen der beiden Religionen das Fest harmonisch gemeinsam feiern.

Nach dem Daoismus entsteht die Welt aus drei Elementen: Himmel, Erde und Wasser. Für die drei gibt es jeweils einen daoistischen Gott. Der Gott des Himmels, geboren an dem 15. Tag des ersten Monats nach dem Mondkalender, erteilt den Segen. Der Gott der Erde, geboren am 15. Juli, verzeiht die Sünde. Und der Gott des Wassers, geboren am 15. Oktober, hilft in der Not. Jeder Gott kommt an seinem jeweiligen Geburtstag zur Erde, um seinen Dienst zu leisten. Es ist also der Gott der Erde, der am 15. Tag des Geistermonats auf die Erde kommt und die verlorenen Seelen rettet. Diese sind Tote, die während ihrer Lebenszeit etwas verbrochen haben. Die Daoisten stellen an diesem Tag einen Altar auf, lesen bestimmte heilige Schriften und verbrennen Räucherwerke, damit sie den Unsterblichen (Gott) empfangen können und beim Sühnen der Sünden der toten Geister helfen.

Mulian sieht das Leid seiner Mutter und wendet sich an Buddha.

Die Geschichte von Mulian

Genau an diesem Tag feiern die Buddhisten das Ullambana-Fest (盂兰盆节). Auf Sanskrit bedeutet Ullam „auf dem Kopf gestellt“. Dieser Stand verkörpert Leiden. Bana ist ein bestimmter Behälter für Opfergaben. Im Ullambana-Sutra wird die Geschichte von Mulian (目连) erzählt, einem heiligen Anhänger Buddhas. Eines Tages träumte er, dass seine bereits verstorbene Mutter in der Unterwelt unter Hunger litt und schlank wie eine Skelett wurde. Er stellte als ihr Nachkomme Speisen vor dem Altar auf, aber sie konnte sie nicht genießen.

So bat er Buddha, das Leid seiner Mutter zu vermindern. Buddha antwortete, dass seine Mutter zu Egui (饿鬼, ein bestimmter Geist, der unter ewigem Hunger leidet) geworden sei, weil sie zu Lebenszeiten geizig und nicht wohltätig war. Um sie zu retten, musste Mulian am 15. Tag des 7. Monats Speisen und Getränken für Buddhisten aus aller Welt anbieten. Als alle dann für sie beteten, konnte sie sich von diesen Leiden befreien. Aus der Geschichte ist ein Fest geworden, bei dem man Opfer gibt, Schriften liest und zusammen für Vater und Mutter der jetzigen und der sieben früheren Generationen betet.

Ein Fest in der Vergangenheit?

Eine Familie auf dem Dorf stellt Speisen auf den Tisch und wartet auf die Geister der Vorfahren.

Beim Geisterfest kommen Volksglaube, daoistische und buddhistische Traditionen zusammen. Die Grundideen bildet das Erinnern an die Vorfahren, das Leisten der Sühne und das Verehren der Toten. In den modernen chinesischen Städten gerät das Geisterfest zunehmend in Vergessenheit.

Zunächst ist es kein staatlicher Feiertag, obwohl es eine lange Geschichte und vielfältige Ursprünge hat. Das führt dazu, dass die jüngeren Generationen kaum Kenntnis davon haben. Zweitens wird es nicht mehr gemeinsam gefeiert. Buddhisten und Daoisten feiern das Fest im kleinen Kreis, jeweils getrennt voneinander. In einigen Regionen, besonders auf dem Land, werden noch Papierboote und Laternen aufs Wasser geschickt und Speisen auf den Tisch gestellt, aber das wird in einer Gesellschaft, die Atheismus als Leitkultur markiert, eher als Aberglauben angesehen. Nicht zuletzt fehlt dem Fest für die meisten Leute ein gemeinsames Symbol oder Thema, wie Jack O’Lantern bei Halloween oder La Catrina beim Día de los Muertos. Ist das Geisterfest also selbst ein Gespenst in der modernen Welt?

 

Japan – ein Land zwischen Tradition und Fortschritt. Das gilt auch für seine Geistergeschichten. Was gibt es für Geisterarten in Japan? Und warum bieten sie einem Klopapier an?

Die japanische Kultur kennt unzählige Arten von Gespenstern. Zwischen göttlichen Naturgeistern und rachsüchtigen Totenseelen ist so ziemlich alles dabei. Denn Geister nehmen in Japan einen ganz anderen Stellenwert ein als in der westlichen Welt. Das kann auch die Tübinger Japanologin Petra Jeisel bestätigen. Während ihrer Studienzeit im Land der aufgehenden Sonne hat sie das selbst erlebt: „Als ich mit einem Einheimischen einen Friedhof besucht habe, wollte ich ein Foto machen. Er schien doch einigermaßem erstaunt und meinte, er hätte dabei ein schlechtes Gefühl – wegen der Geister.“

Japanische Geisterwesen – Eine lange Tradition

Vor allem die spirituellen Wurzeln Japans (Shintō und Zen-Buddhismus) und die dortige Wertschätzung von Traditionen sind verantwortlich für diese Ehrfurcht vor den Geistern. Denn die heutigen Vorstellungen von „bakemono“ (Oberbegriff für gespenstische und übernatürliche Wesen im japanischen Volksglauben) sind von den letzten Jahrhunderten mythologischer Überlieferungen geprägt. Die „bakemono“ lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: „Yōkai“ und „Yūrei“ …

Wer braucht schon Poltergeister?

Notice me senpai! (Bild: Marcel L.)

„Yōkai“ lassen sich wohl am ehesten mit westlichen Fabelwesen vergleichen. So gelten beispielsweise Tanuki (Marderhunde) als Yōkai, die ihre Gestalt wandeln können und mit listigen Plänen durchaus auch mal in menschlicher Gestalt durch die Welt ziehen. Neben „Oni“ (Dämonen) und „Tengu“ (Berggeister und Meister der Waffenkunst mit einem Schnabel) zählen zu den Yōkai auch sogenannte „Tsukumogami“. Dabei handelt es sich um Alltagsgegenstände, die nach hundert Jahren der Vernachlässigung plötzlich zum Leben erwachen.

Wenn also in einem japanischen Haushalt plötzlich Teller durch die Gegend fliegen, ist das nicht unbedingt das Werk eines Poltergeistes, sondern einfach ein Schrei nach Aufmerksamkeit von beseeltem Porzellan.

Totgesagte „leben“ länger

Ein Onyrō nimmt Rache an einem Mönch; aus Wakan ehon sakigake 和漢絵本魁, 1836 (Bild: The British Museum.

„Yūrei“ oder auch „Bōrei“ kommen der westlichen Vorstellung eines Gespenstes näher. Es handelt sich hierbei nämlich um Seelen von Verstorbenen, die aufgrund eines Unrechts zu Lebzeiten oder kurz nach ihrem Tod (z.B. ein unrühmliches Begräbnis) keinen Frieden finden konnten. Ähnlich wie in unserer Vorstellung von Gespenstern haben auch Yūrei keine Beine, sondern schweben durch die Luft. Dabei suchen sie die Lebenden heim, jedoch meist ohne ernsthaften Schaden anzurichten. Es sei denn, es handelt sich um sogenannte Onryō – Rachegeister.

Eine Besänftigung der toten Seelen kann durch verschiedene buddhistische Rituale, einem Exorzismus nicht unähnlich, erreicht werden. Erste Quellen für diese Praxis stammen schon aus dem 8. Jahrhundert. Auch heute spielt die Besänftigung der Seelen Verstorbener eine wichtige Rolle für die japanische Bevölkerung. Ähnlich wie beim mexikanischen Día de los muertos wird in Japan seit über 500 Jahren das Totenfest „Obon“ gefeiert, bei dem die Geister der Ahnen befriedet werden sollen. Aber diese kulturell vorgeschriebende Verehrung von Geistern inspiriert auch ganz andere Geschichten …

Von wegen stilles Örtchen – Onryō und Yūrei in „Urban Legends“

In japanischen Sanitäranlagen kann man nicht nur moderne High-Tech-Toiletten mit Sprachfunktion und Turbobrause finden. Unzählige „Urban Legends“ – eine moderne Form des Ammenmärchens – ranken sich um die Keramikabteilung. Zwei davon sollen hier kurz vorgestellt werden.

 „Rotes oder blaues Papier?“

Die Qual der Wahl – oder umgekehrt? (Bild: Marcel L.)

Aka Manto (was übersetzt so viel wie „roter Umhang“ bedeutet) ist eine Geistergestalt, die ihr Unwesen auf so ziemlich allen öffentlichen Toiletten treibt. Gehüllt in ein rotes Cape und mit einer Maske vor dem Gesicht, soll der Geist Menschen heimsuchen, die sich gerade auf den Porzellanthron gesetzt haben.

Auf seine Frage „Willst du rotes oder blaues Papier?“ sollte man am besten gar nicht antworten. Denn wenn man sich für das rote Papier entscheidet, so wird man so lange aufgeschlitzt, bis die eigenen Klamotten ganz rot sind. Und wenn man den blauen Zellstoff wählt, so erwürgt Aka Manto einen, bis das Gesicht ganz blau angelaufen ist.

Angeblich soll Aka Manto der Geist eines gut aussehenden jungen Mannes sein, der auf ungeklärte Weise auf der Toilette getötet wurde. Aus Schmach über dieses unrühmliche Ende soll er seine Maske also tragen, um seine Identität zu verbergen. Als Onryō sucht er deswegen auch gerade am Ort seines Todes Vergeltung.

„Willst du mit mir spielen?“

Hanako-San ist eine „Urban Legend“, die vor allem an japanischen Grundschulen beliebt ist. Ähnlich wie bei der Bloody-Mary-Legende soll der Geist dieses kleinen Schulmädchens mit Bubikopf und rotem Kleid nach bestimmten Ritualen erscheinen – und zwar auf der Mädchentoilette. Die Geschichte wird mitunter auch als Vorlage für die Maulende Myrthe in Harry Potter vermutet. Hanako soll auf grausame Weise von ihren Eltern ermordet oder bei einem Luftangriff während des Zweiten Weltkriegs von Bomben zerfetzt worden sein, und lässt sich darum wohl am ehesten als Yūrei bezeichnen.

Der genaue Ablauf des Rituals variiert dabei aber von Schule zu Schule. In einer Version muss man im WC im dritten Stock an der dritten Kabinentür dreimal anklopfen und Hanako-San fragen, ob sie mit einem spielen will. In einer anderen Variante genügt es, ihren Namen in eine der Kabinen zu rufen. Das sieht dann ungefähr so aus:

Ob die kleine Hanako die mutigen Mädchen nun dem Mythos nach auffrisst, aufschlitzt oder einfach nur verängstigt – die Folgen solcher Geistergeschichten sind real. Studien weisen darauf hin, dass Sagen rund um das WC, wie die um Hanako Blasenentleerungsstörungen, Angststörungen bei kleinen Mädchen verursachen können.

Horror made in Japan

Wenn es eines gibt, was Aka Manto und Hanako-San zeigen, dann dass die traditionsreiche Geisterkultur Japans auch in der Gegenwart fortlebt. Aber auch abseits von „Urban Legends“ und Kindermutproben sind die Geister noch immer präsent. Nicht umsonst gibt es ein eigenes Filmgenre, J-Horror, dass sich neben Aspekten des psychologischen Horrors vor allem auch mit Onryō und Yūrei auseinandersetzt. Diese Filme sind wiederum ein Sinnbild für die tiefe Verbindung zu den eigenen Traditionen. Denn häufig adaptieren sie Geschichte sowohl aus altertümlicher wie auch klassischer Literatur – aber das wäre ein Thema für einen anderen Beitrag.

Wer sich für andere asiatische Geistertraditionen und -geschichten interessiert, sollte sich diese Artikel auf unserem Blog noch unbedingt ansehen:

Alberne Gespenster aus aller Welt – der japanische Shirime

Geschichten von Liebe und Hass: Geister in chinesischen Mythen

Gerät das Geisterfest in China in Vergessenheit?

Weiterführende Literatur:

Michael Dylan Foster (2008) – Pandemonium and Parade: Japanese Monsters and the Culture of Yōkai.

Michael Dylan Foster (2006) – Strange Games and Enchanted Science: The Mystery of Kokkuri. In: The Journal of Asian Studies 65(2), S. 251-275.

Siegbert Hummel (1949) – Das Gespenstige in der japanischen Kunst (Bakemono).

Bernhard Scheid – Religion in Japan.

2013 tauschte Canny Sutanto ihr Leben in Jakarta, Indonesien, gegen eines in Deutschland ein. In diesem Interview erzählt die Hamburger Grafikdesignerin einige indonesische Geistergeschichten und erklärt, welches kulturelle Gepäck es nicht durch den Zoll geschafft hat.

Sind Gespenster in Indonesien ein größeres Thema als in Deutschland?

Ja, auf jeden Fall. Wenn ich den Leuten hier erzählte, dass ich an Gespenster glaube, würden sie denken, dass ich eine Idiotin sei (lacht). Ich persönlich glaube nicht an Gespenster, aber in meiner Familie und unter meinen Freunden gibt es viele, die das tun.

Wie sehen indonesische Gespenster aus?

Das kommt darauf an. Wir haben eine Menge davon. Wenn Du zum Beispiel Muslim bist und stirbst, wirst Du in dieses weiße Leichentuch, das Potschong, eingewickelt, das am Kopfende zusammengeknotet wird. Wie eine Mumie, aber eben eine indonesisch-muslimische. Manchmal kommen die Toten dann als Potschong-Gespenster aus ihren Gräbern, und weil sie von Kopf bis Fuß eingewickelt sind, hüpfen sie herum und spuken.

Und die Leute sehen solche Gespenster?

Mein Cousin hat sie gesehen. Er war in einer Stadt außerhalb Jakartas und schlief auf einer Matratze auf dem Boden. Er wachte auf, und sah einen dieser weißen Potschongs durch die Wand ins Zimmer hüpfen. Dann hielt das Gespenst neben ihm inne und hüpfte schließlich über seine Matratze.

(So sieht ein „echter“ Potschong aus)

Es gibt auch die Tuyul, die Geister. Sie sind wie kleine Personen. Eine Freundin hat mir erzählt, dass ihre Tante sie sehen könne. Dann habe ihre Tante sie “geöffnet,” sodass auch sie die Tuyul habe sehen können. Sie liefen einfach in der Gegend herum.

Woher kommen die Geister?

Es ist ein weitverbreiteter Glaube in Indonesien, dass unsere Welt parallel sei mit der Welt der Geister. Wenn Du einen siehst, dann heißt das, dass an jenem Ort ein Portal ist und die beiden Welten dort miteinander kollidieren.

Gespenster waren also ein normaler Bestandteil  deiner Kindheit?

Absolut. Mein Schwager hat sogar ein Gespenst in Amerika gesehen. Er lag in seinem Haus im Bett und fühlte sich seltsam. Dann hörte er etwas und schaute aus dem Fenster. Da war eine Person mit einem entstellten, verbrannten Gesicht, die ihn anstarrte. Mein Schwager schloss seine Augen, und sprach ein Gebet. Als er sie wieder öffnete, war das Gespenst verschwunden.

Ich habe ihn dann gefragt: “War es weiß oder… war es asiatisch?” (lacht). Er antwortete, es sei weiß gewesen. Dass es also ein einheimisches Gespenst gewesen sei. Kein indonesisches.

Die Spukvilla in Jakarta; Foto: Canny Sutanto

Dann ist da dieses große, teure, moderne Haus in einem elitären Viertel in Jakarta. Es steht jetzt seit einer sehr, sehr langen Zeit völlig leer, weil die Leute sagen, es spuke darin. Es steht an der größten Straße des Viertels und ist einfach leer. Mittlerweile haben sie es bestimmt abgerissen. Man sagt aber, selbst wenn man es abreiße, würde es noch immer dort spuken.

Kann man Gespenster auch wieder loswerden?

Ja, das ist sogar ein Beruf. Wir nennen ihn Dukun.Die Schwester meines früheren Arbeitskollegen in Jakarta war scheinbar von jemandem verflucht worden.  Die Dukun sagten ihr: ,Jemand hat das über Dich gebracht. Du bist verflucht.‘

War ein Gespenst die Ursache?

Eher ein böser Geist. Mein Kollege erzählte mir die Geschichte: Die Familie kam einmal während des Ramadan zusammen, um zu kochen. Sie kauften also frisches Fleisch ein und fingen an, ein Rindercurry zuzubereiten. Plötzlich tauchten Maden in dem Curry auf, viele Maden. Sie warfen es also weg und dachten, das Fleisch sei verdorben gewesen. Sie kauften dann anderswo neues Rindfleisch und kochten erneut Curry. Wieder tauchten mit einem Mal Maden darin auf.

Die Dukun sagten ihnen: “Legt vier Eier in die vier Ecken eures Hausdachs. Wenn sie schwarz werden, wisst ihr, dass ein Geist hier ist.” Und sie wurden alle schwarz.

Das passierte zu der Zeit als mein Kollege und ich zusammen gearbeitet haben. Ich sehe keinen Grund, warum er die Geschichte hätte erfinden sollen.

 

Deutschland ist ein sehr, wie soll ich sagen… unspirituelles Land.

 

Wie ist es für dich so lange an einem Ort gelebt zu haben, wo man nicht an Geister glaubt?

Deutschland ist ein sehr, wie soll ich sagen… unspirituelles Land. Ich denke, das hat mich von diesem Teil meiner Weltsicht entfremdet.

Du glaubst nun selbst nicht mehr an Geister?

Ich denke nicht, dass ich jemals sagen werde, dass ich definitiv nicht daran glaube. Aber wenn ich hier bin, habe ich nicht das Gefühl, dass es spuken könnte. Wohingegen ich in Indonesien vielleicht Angst davor bekomme, wenn ich einen Gruselfilm angeschaut habe. Hier spüre ich das selten. Und warum sollte ich auch? Wie sollten Gespenster  überhaupt existieren? Ich denke, es gibt sie nicht. Aber sicher bin ich mir nicht.

Macht es dir etwas aus, dass dein deutscher Freund nicht an diesen Teil deiner Kultur glaubt?

Ich sehe das als etwas Positives, weil es Vernunft in meinen Kopf bringt. Ich glaube ja an Wissenschaft und all das und weiß darum, dass Gespensterglaube eigentlich Quatsch ist. Er erinnert mich manchmal daran.

 

Vielleicht ist die Theorie, dass Du die Gespenster sehen kannst, wenn Du an sie glaubst, und wenn nicht, dann eben nicht.

 

Würdest du diese Sicht der Dinge allen Indonesiern wünschen?

Vielleicht wenigstens meinem kleinen Neffen. Er war neulich zu Besuch, wir sind durch Europa gereist und er redete ständig über Gespenster. Er sagte, ‚da drüben ist ein Gespenst‘, oder hier…

Selbst in Hamburg, wo du lebst?

Oh, zum Glück nicht! Dann würde ich mich sehr unwohl fühlen! Er sagte ja so Sachen wie:  ‚Schau mal, der Typ da drüben hat keinen Kopf‘. Ich glaube aber nicht, dass er tatsächlich irgendetwas sieht. Ich denke, er ist einfach von den Gespenstergeschichten beeinflusst. Vielleicht ist die Theorie, dass du die Gespenster sehen kannst, wenn du an sie glaubst, und wenn nicht, dann eben nicht.

Könnte es sein, dass du in Indonesien an Gespenster glaubst und hier in Deutschland nicht?

Nein. Tatsächlich sage ich mir selbst immer wieder, dass ich nicht an Gespenster glaube, weil ich persönlich sie ja nicht sehe. Und ich bin froh, dass ich sie nicht sehe.

Aber du glaubst deinen Freunden?

Ja, das tue ich. Es ist ein ziemlicher Widerspruch.

Und wie ergeht es südamerikanischen Gespenster in Deutschland? Eine argentinische Studentin an der Uni Tübingen erzählt.

Ein Filmeabend mit Freunden ist etwas Schönes: Auf dem gemütlichen Sofa wird’s kuschelig eng. Hier und da ertönen Knabbergeräusche. Fleißig werden selbstgemachtes Popcorn, Chips und M&M’s gemampft – das beste Catering, was es für diesen Anlass gibt. Dann opfert sich einer, steht auf und macht das Licht aus, damit es noch gemütlicher wird. Hoffnungsvoll sitzen nun alle vor dem Fernseher. Film ab! Aber welcher nur? – Das ist die große ungemütliche Frage. Die Auswahl des Films kann manchmal echt schwierig sein. Wie wär’s mit einem Abend unter dem Motto „Haare“? Ich habe mich auf die Suche nach haarigen Blockbustern und cineastischen Haarwundern gemacht. Drei davon stelle ich euch hier vor. Weiterlesen

Gespenster können mal eine politische Idee sein, mal schaurige Monster, und oft Figuren in unseren liebsten Geschichten. Doch hat die Menschheit im Laufe ihrer illustren Historie schon das ein oder andere Gespenst hervorgebracht, bei dem man sich fragt, ob uns alle guten Geister verlassen haben. Begeben wir uns auf eine kleine, skurrile Weltreise.

1. Das „Highgate Chicken“ Gespenst

Sir Francis Bacon war ein Philosoph, Staatsmann und Jurist und gilt als einer der wichtigsten Vorreiter der empirischen Forschung. Man mag von Ironie sprechen, dass sich ausgerechnet aus dem Umfeld Bacons eine der faszinierendsten Gespenstergeschichten Englands entwickelt hat. Die Geschichte des „Highgate Chicken“ Gespensts.

Wir schreiben das Jahr 1626. In Europa wütete der verheerende dreißigjährige Krieg. Im verschneiten England, genauer am Highgate Pond nahe London, lieferte sich Wissenschaftler Francis Bacon eine hitzige Diskussion mit seinem Freund Dr. Witherbone darüber, auf welche Art sich Fleisch am besten konservieren ließe und vielleicht auch darüber, wer von beiden den lustigeren Nachnamen hat.

Bacon argumentierte, dass Kälte die Lösung sein könnte, und um das zu beweisen, ging er los und kaufte ein Huhn. Es ist nicht bekannt, ob dieses Huhn bereits Anzeichen von dämonischer Präsenz zeigte. Man weiß nur, dass Bacon es kaltblütig ermordete, rupfte, ausnahm, mit Schnee füllte und in einem Sack in mehr Schnee vergrub. So erfand Bacon, Verfasser der Universalenzyklopädie De dignitate et augmentis scientiarum, das erste gefrorene Hähnchen. Am selben Tag erkältete er sich und starb wenig später an einer Lungenentzündung.

Jener Ort, an dem Bacon das Huhn vergrub, gilt seit jenem schicksalshaften Tag als heimgesucht. Doch ist es nicht Bacons Geist, der den Ort heimsucht, oder der ruhelose Dr. Whiterbone, der nie darüber hinwegkam, dass Bacon Recht hatte. Nein, noch bis heute soll dort der Geist des Highgate-Hähnchens sein Unwesen treiben. Es gibt verschiedene Berichte von Zeugen, die am Highgate Pond ein halb-gerupftes, kopfloses Huhn im Kreis herumrennen gesehen haben. Wild mit den Flügeln schlagend und auf den Boden pickend mit einem Schnabel, welchen es nicht mehr hat. Die letzte angeblich belegte Sichtung des Horror-Huhns aus der Hölle, soll es in den 1970ern, gegeben haben. Wollen wir hoffen das Huhn hat erkannt, dass es für die Wissenschaft starb und es jetzt, glücklich gackernd, seinen Frieden in den ewigen Jagdgründen gefunden hat.

2. Mula-sem-cabeça – Das kopflose Maultier

Wir kennen den christlichen Gott als jemanden, mit dem man sich besser nicht anlegt. Mal schmeißt er Frösche herab, lässt Erstgeborene sterben, flutet den halben Planeten oder straft uns fürs Turmbauen mit Fremdsprachen lernen. Manchmal verwandelt er einen zur Strafe aber auch in ein kopfloses lila Maultier, das Feuer aus dem Halsstumpf speit. Laut brasilianischer Folklore soll dieses Schicksal eine brasilianische Prostituierte erlitten haben, die eine Affäre mit einem Priester hatte.

Je nach Version variiert die exakte Form des Fluches, mit welchem die Frau von Gott in dessen unendlicher Kreativität belegt wurde. Einig ist man sich darin, dass die Verfluchte dazu verdammt ist sich Donnerstag nachts in jene albtraumhafte Maultier-Gestalt zu verwandeln. Meist trägt sie dabei noch ein fliegendes Zaumzeug, gibt das Jammern einer Frau von sich und ist geschmückt mit einer brennenden Mähne. Sie trampelt achtlose Menschen nieder und man kann sich ihr nur entziehen, indem man sich flach auf den Boden legt und ruhig bleibt. Angeblich sieht sie nicht so gut …

Wir wollen an dieser Stelle nicht den pädagogischen Wert diskutieren, eine käufliche Dame dafür zu bestrafen Sex zu haben, während man den Priester laufen lässt. Denn der Fluch hat ein Gegenmittel! Um die brennende Geisterdirne zu retten, bedarf es nur der Entfernung des Zaumzeugs. Oder man ersticht sie. Denn dann würde sich das kopflose Maultier zurück in das Freudenmädchen verwandeln, nackt, schwitzend und nach Sulfur stinkend. Der „Glückliche“, dem dies gelingt, muss sie anschließend zur Frau nehmen.

Vermutet wird, dass die Geschichte als christliches Lehrstück gegen die in Brasilien weit verbreiteten Naturreligionen entstanden ist, um die Zügel- und Kopflosigkeit des wilden, animalischen Menschen zu verdeutlichen und Priester vom Zölibat zu überzeugen. Denn wer will schon für eine galoppierende, das Dorf terrorisierende, feuerspeiende Geisterdirne verantwortlich sein?

Künstlerische Veranschaulichung

 

3. Shirime

Zuletzt wollen wir noch einen Blick in das Mutterland seltsamer Gespenstergeschichten werfen: Japan. Neben einer Unzahl an Todesgöttern, Naturgeistern und Horror-Sagen gibt es in Japan sogenannte Yōkai, eine Klasse an Gespenster, die mit Monstern oder unseren westlichen spukenden Geistern vergleichbar sind. Oft auch als Mononoke bezeichnet, haben diese Gespenster die Fähigkeit der Gestaltwandlung, können von Tieren Besitz ergreifen oder beleben Gegenstände. Meist läuft eine Yōkai-Geschichte aber ziemlich ähnlich ab. Ein einsamer Wanderer trifft eine seltsame Person. Diese entpuppt sich als irgendeine Art Gespenst. In der Folge flieht das Opfer schreiend, der Geist verschwindet oder irgendwer wird von irgendwas gefressen.

Dies bringt uns zur Gespenstersage des Shirime. Die Geschichte geht so: Ein Samurai läuft, nahe Kyoto, eines Nachts die Straße entlang. Plötzlich trifft er auf einen Mann in einem Kimono, der ihm den Weg versperrt und sagt: „Entschuldigen Sie … bitte nur einen Moment ihrer Zeit.“ Der Samurai wappnet sich misstrauisch für einen Angriff. Er antwortet: „Was willst du von mir?“ Plötzlich dreht sich der rätselhafte Mann ruckartig um, bückt sich, hebt seinen Kimono und streckt dem Samurai seinen nackten Hintern entgegen. In der Mitte ein Licht ausstrahlendes, großes Auge. Angsterfüllt schreit der Samurai und ergreift die Flucht. Ende der Geschichte.

By Yosa Buson (与謝蕪村, Japanese, *1716, †1784) – scanned from ISBN 4-5829-2057-8., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2221693

Die Moral dieser Sage soll jeder für sich entscheiden. Im Japanischen wird dem Shirime nachgesagt, dass er keine böse Absicht hegt und es einfach nur witzig findet Leute zu… nunja, verarschen. In dieser Funktion kommt er beispielsweise auch im Film „Pom Poko“ des berühmten japanischen Zeichentrickstudios „Ghibli“ vor. Wer jetzt denkt, dass er auch schon den ein oder anderen Arsch mit Augen getroffen hat, sollte aber nicht davon ausgehen, dass es sich dabei gleich um einen Shirime handelte. Denn wie die gängige Defintnion von Gespenst empfiehlt, können alle möglichen „furchterregenden spukenden Wesen“ Gespenster sein.

4. Heimreise

Wir sehen also, egal ob Hühner in England, Maultiere in Brasilien oder Hintern in Japan: Gespenster tauchen auf der Welt in den skurrilsten Formen und Farben auf. Es gäbe noch unzählige zu entdecken, wie ein gespenstischer haariger Zeh in den USA, Föten-Geister in Indonesien oder das „Hantu Tetek“ (dt.: Busen-Gespenst) aus Malaysia. Auch die ein oder andere heimische Wunderlichkeit haben wir hier im Blog mit spukenden Bauernhöfen, Fußballgeistern und verstorbenen Tübinger Studenten schon vorgestellt. Am Ende muss man eh gar nicht so weit schauen, um alberne Gespenster zu finden. Oder wer kennt nicht das Gespenst mit dem Bettlaken über dem Kopf?

Geister suchen wir in dunklen Ecken, schaurigen Ruinen oder auf dem Friedhof – doch was ist eigentlich mit den lebenden und analysierenden Geistern zwischen den Bücherregalen der Bibliotheken? Die Geisteswissenschaften werden genau wie ihre untoten Verwandten gefürchtet oder belächelt. Ein Plädoyer für den Mut, sich seines Geistes zu bedienen.

Das Abitur in der Tasche und voller großer Ideen und Fragen, was die Welt zusammenhält. Was ich werden will? Das weiß ich noch nicht so genau – mich interessieren Menschen und Literatur, ich mag Sprachen und fremde Kulturen. Ich entscheide mich gegen die Vernunft in meinem Kopf und folge meinem Herzen: Anglistik soll es sein. Meine Eltern sind nicht sonderlich überrascht – „Das passt zu dir!“ Was „Das“ ist, wissen wir zu dem Zeitpunkt alle nicht so genau.

An der Universität erfahre ich, dass ich nun zu den sogenannten Geisteswissenschaftler*innen gehöre. Dass Anglistik nur ein kleiner Teil im riesigen Becken der verschiedenen Disziplinen der Geisteswissenschaften ist, begreife ich anfangs noch nicht. Allein an der Universität Tübingen zählen über 25 Institute zur Philosophischen Fakultät, von der Geschichtswissenschaft über die Kunstwissenschaft bis hin zu den Philologien, in denen ich mein Zuhause gefunden habe. Schnell wird klar, die Geisteswissenschaft lebt vom interdisziplinären Austausch. Ich fühle mich wohl zwischen Geschichte-Nerds und Literaturliebhaber*innen und es dauert nicht lange, bis ich mich selbst auch zu dem abstrakten Feld der Geisteswissenschaftler*innen zähle.

„Und was macht man dann damit?“

Laut des Statistischen Bundesamtes entschieden sich im Wintersemester 2017/18 12 Prozent aller Studienanfänger*innen für ein geisteswissenschaftliches Studium an einer deutschen Hochschule. Die Geisteswissenschaften zählen damit zu den großen Universitätswissenschaften und reihen sich neben den Natur- und Sozialwissenschaften ein. Auch wenn 12 Prozent sich nach eher wenig anhören, hat sich die Zahl der Einschreibungen für Geisteswissenschaften seit dem Wintersemester 2015/16 immerhin um 3.000 Studierende in ganz Deutschland erhöht.

Geisteswissenschaftler*innen vergraben sich gerne in Bibliotheken – Vorurteil mit wahrem Kern? (Bildquelle: CC0, pexels.com)

Das Studium beginnt. Endlich bin ich umringt von gleichgesinnten Jane-Austen-Freaks und besuche Seminare zu Theater- und Kulturwissenschaft. Ich lerne alles über Literaturanalyse, den weiten Kulturbegriff und darüber, wie man in kürzester Zeit drei Bücher parallel liest. Lesen ist so ziemlich das einzige, was ich tue, doch das stört mich nicht.

Die Semester fliegen nur so dahin, bis ich das erste Mal auf die Frage aller Fragen antworten muss: „Und was macht man dann damit?“ Ich werfe mit Fachbegriffen um mich und versuche möglichst schlau zu klingen. Schnell merke ich jedoch, dass das mein Gegenüber nicht zufriedenstellt. Von da an wechsle ich zwischen Selbstironie und einem selbstbewussten „Nichts!“, bis hin zu ansatzweise greifbaren Berufen wie Lektorin oder Kulturreferentin. Beides sind Berufe, in denen ich mich eigentlich nicht sehe.

Geisteswissenschaftlerin oder Geisterjägerin?

Langsam realisiere ich, dass außerhalb des universitären Lebens niemand so wirklich weiß, was Geisteswissenschaften genau sind – und vor allem, warum es sie gibt. Selbst ratlos über die Wissenschaft, mit der ich meine Zwanziger verbringe, beginne ich das zu tun, was die Geisteswissenschaftler*innen am besten können – recherchieren.

Der Philosoph Wilhelm Dilthey (1833-1911) sieht den Hauptcharakter der Geisteswissenschaften in dem Versuch, menschliches Handeln zu verstehen. Damit konnte er sie von den Naturwissenschaften abgrenzen, die allgemein gesprochen das Ziel des Erklärens von Naturphänomenen anstreben. Das Einzelne verstehen kann aber nur derjenige, der das Ganze im Blick hat – das Ganze ergibt sich wiederum durch das Einzelne. Es entsteht eine Art Kreislauf – der sogenannte hermeneutische Zirkel. Man merkt, wir machen uns das Leben gerne selber schwer.

Geisteswissenschaftler*innen bedienen sich ihres kritischen Geistes. (Bildquelle: Mystic Art Design, pixabay.com)

Wahrscheinlich könnte die Gesellschaft mit einer Ausbildung zur Geisterjägerin mehr anfangen, wäre zwar schräg, aber immerhin konkret. Nein, wir Geisteswissenschaftler*innen denken abstrakt und deswegen sind unsere Forschungsfelder es nun mal auch. Es geht nicht darum, zu versuchen das Tonndorfer Schlossgespenst zu fangen, sondern zu hinterfragen, wie diese Legende der weißen Frau überhaupt an Popularität gewinnen konnte.

In dem Sammelband „Geisteswissenschaft heute – Die Sicht der Fächer“ verteidigt Julia Aparicio Vogel die Existenz meines Studiengangs:

„In einer Welt, die zunehmend von Informationsüberfluss und Laienwissen dominiert wird, ist ein solcher kritischer Zugang, das Wissen um die Subjektivität jeglicher Meinung, aber auch das Expertenwissen, das die Geisteswissenschaften sehr wohl vermitteln, wichtiger denn je.“

Was G’scheits

Dieser Satz kann auch nur von einer Geisteswissenschaftlerin geschrieben sein – aber wie Recht sie damit hat. Geisteswissenschaften lehren nicht über Steuererklärungen, Kochrezepte oder Businesspläne. Es geht nicht darum, etwas „G’scheits“ zu lernen, wie man in Baden-Württemberg so schön sagt, sondern darum, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen (um Immanuel Kant hier nebenbei mal einfließen zu lassen und zu zeigen, dass sich mein Studium doch im Alltag einbringen lässt!).

Die Geisteswissenschaften beobachten mit einem differenzierten Blick gesellschaftliche Phänomene anhand verschiedener Methoden, immer darauf bedacht, das Ganze im Blick zu haben. Ich beende mein Bachelorstudium und bin zufrieden. Mein Interesse ist geweckt, am Alltäglichen und an Dingen, die Menschen bewegen. Ich habe gelernt zu hinterfragen, warum wir unser Handeln mit „Das macht man halt so“ erklären.

Im Master entscheide ich mich für die Medienwissenschaft und bleibe damit den Geisteswissenschaften treu. Ich freue mich, die lästige Fragerei nach dem Sinn meines Studiums endlich los zu sein – unter Medienwissenschaft kann sich die Allgemeinheit ja vielleicht doch etwas vorstellen. Auf die Frage aller Fragen antworte ich nun voller Zuversicht, als Antwort bekomme ich: „Aah irgendwas mit Medien“. Ist zwar nicht besser, aber immerhin antworte ich jetzt ganz konkret auf die Berufsfrage mit: „Total viel!“ – Gelogen ist das nicht.

Was hat der Kinderbuch-Klassiker Otfried Preußlers mit Saudi-Arabien zu tun? Die Amerikanerin Kristie Pladson schreibt über ihre Zeit an einer saudischen Mädchen-Highschool und darüber, wie es kam, dass sie auf das kleine Gespenst neidisch wurde. 

Ich saß auf einem winzigen Sofa, meine Beine untergeschlagen, einen Druckbleistift in der einen Hand, Otfried Preußlers „Das kleine Gespenst“ in der anderen. Die Seiten des englisch-deutschen Wörterbuchs auf dem Wohnzimmertisch vor mir flatterten im Luftzug der Klimaanlage. Der Plan war klar: Lies das Kapitel einmal, unterstreiche alle neuen Wörter, schlag sie im Wörterbuch nach und lies das Kapitel noch einmal.

„In Deutschland hatte ich bereits ein paar Deutschkurse belegt. Mein Verlobter meinte, ich sei bereit, ein richtiges Buch zu lesen.“ Otfried Preußler: „Das kleine Gespenst“ (1966)

Zwei Seiten, 20 neue Wörter und eine halbe Stunde später lachte ich auf bei dem Gedanken an die Leute, die mir vorgeschlagen hatten, ich solle mit Kafkas „Verwandlung“ anfangen.

Aber welchen Unterschied machte es schon, wie lange ich brauchen würde? Ich hatte Zeit. Keine Bars, keine Musik, keine Kinos, kein Grün, kein öffentlicher Nahverkehr. Draußen war es 35 Grad heiß, es gab dort nichts und für mich sowieso keine Möglichkeit, dorthin zu gelangen. In Saudi-Arabien hatte ich alle Zeit der Welt für mein kleines Gespenst.

Kapitel 1

Es war das Jahr 2014. Noch drei Monate zuvor hatte mein Leben dem vieler anderer, frischgebackener amerikanischer College-Absolventen geglichen: Ich saß im Haus meiner Eltern im mittleren Westen der USA und durchsuchte das Internet nach einem Job. Allerdings nicht nach irgendeinem Job. Was ich suchte, war scheinbar unmöglich – ich wollte eine gute Bezahlung und mit dem deutschen Studenten zusammenziehen, in den ich mich in einem Auslandssemester verliebt hatte. Ich merkte schnell, dass der internationale Arbeitsmarkt für Literaturstudentinnen aus Indiana ziemlich überschaubar war. Doch es musste diesen Weg geben, und ich würde ihn finden.

Riad – „Mein Verlobter sträubte sich. ‚Das ist der letzte Platz auf der Erde, an dem ich jemals würde leben wollen‘, waren seine exakten Worte.“ Foto: B.C. Biega

Es gab ihn tatsächlich, und er führte weit nach Osten.

„In Saudi-Arabien zu arbeiten ist herausfordernd und lohnend. Wenn Sie einen absolut einzigartigen Lebensstil kennenlernen und Teil eines sich schnell wandelnden Landes sein wollen, dann möchte ich jetzt mit Ihnen sprechen. Dies ist eine ausgezeichnete Chance auf einen schnellen Karriereschritt und ein beträchtliches, STEUERFREIES GEHALT.“

Steuerfrei. Mietfrei. Persönlicher Fahrer. Swimming Pool. Arbeitsvisum. Die Liste ging weiter.

Mein Verlobter sträubte sich. „Das ist der letzte Platz auf der Erde, an dem ich jemals würde leben wollen“, waren seine exakten Worte. Aber er hatte in seinen Augen Herzen so groß wie die Dollarzeichen in meinen. Als sich für ihn ein Job mit der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit in Riad auftat, war die Sache entschieden. „Es wird ein Abenteuer sein“, sagte ich, erst um ihn zu überzeugen, später dann, um mich selbst zu beruhigen.

„Das kleine Gespenst“ war in meinem Handgepäck auf dem Flug über den Atlantik zu meiner neuen Arbeitsstelle als Englischlehrerin. In Deutschland hatte ich bereits ein paar Deutschkurse belegt. Mein Verlobter meinte, ich sei bereit, ein richtiges Buch zu lesen.

„Das war das erste Buch, das ich je gelesen habe,“ meinte er. „Ich war so stolz, als ich es durch hatte. Du wirst es auch sein.“

Ottfried Preußlers Kinderbuch-Klassiker erzählt die Geschichte eines freundlichen Geists, der in der Burg der Stadt Eulenstein spukt. Mehr als irgendetwas sonst wünscht er sich, Eulenstein bei Tageslicht zu sehen, aber er verschläft jeden Tag aufs Neue. Eines Tages erwacht er zur Mittagsstunde, im hellen Sonnenschein. Er verbringt einen glücklichen Nachmittag damit, Unfug in der Stadt zu treiben, bevor er merkt, dass er in dieser Tageszeit gefangen ist.

Über die nächsten zehn Monate sollte sich diese schlichte Erzählung mir enthüllen, Wort für Wort.

Kapitel 2

Das Taxi holte uns am König-Khalid-Flughafen ab und setzte uns eine Stunde später in einer Straße ab, die rechts und links von stockwerkhohen Metallwänden gesäumt war. Große, verschlossene Metalltore waren in regelmäßigen Abständen zu sehen. Man sagte mir, die Mauern seien einem alten Gesetz gemäß gebaut, demzufolge sie so hoch sein müssten, dass ein Kamelreiter nicht darüberschauen kann. Jede Wohngebietsstraße in dieser Sechs-Millionen-Stadt sieht identisch aus.

Der Ort, an dem ich jetzt stand, war vor weniger als 80 Jahren noch eine Oasenstadt aus Lehm und Palmholz gewesen. Dann wurde Öl entdeckt, und eine klimatisierte Metropole aus Wolkenkratzern, Einkaufszentren und Stadtautobahnen entstand scheinbar aus dem Nichts. Mit der neuen Stadt kam eine neue Bevölkerung. Von ihren nomadischen Vorgängern unterschied sie sich dadurch, dass sie nicht mehr nur in der Moschee, sondern auch bei McDonalds und Starbucks einen Lebensmittelpunkt hatte. Das neue Riad baute eine wackelige Brücke in den Westen, auf der es Jahr für Jahr Tausende Englischsprecher wie mich herbeilockte, um seinen Einwohnern die englische Sprache beizubringen. Vorübergehend verzichteten mein Verlobter und ich auf mehrere Menschenrechte – auf Meinungsfreiheit, auf freie Ausübung unseres Glaubens, auf Musik, auf Bewegungsfreiheit. Im Gegenzug erhielten wir ein aufgeblähtes Gehalt und, anders als unsere Schicksalsgefährten aus Sri Lanka und Pakistan, die Sicherheit, dass wir jederzeit wieder würden verschwinden können.

Ich stand auf der Straße in dieser Nacht. In der Hand hielt ich mein Iqama, meinen saudischen Aufenthaltstitel: Ein Jahr lang würden wir hier leben.

Mein Körper gewöhnte sich erst noch an die Wärme, den trockenen Wind und den wehenden schwarzen Umhang, der ihn zum ersten Mal verbarg. Mein Verlobter nestelte am Schloss herum. Eine Neonlampe schien auf das schwarze Tuch herab, das um mein Gesicht gelegt war, während ich die Wand hinaufstarrte, hinter der wir wohnen würden. Die Tür öffnete sich mit einem Quietschen. Wir rollten unser Gepäck hinein und schlossen sie hinter uns.

Die Wohnung, die uns mein Arbeitgeber zur Verfügung stellte, war einfach aber ausreichend: Zwei Zimmer plus Küche und Bad, billige Möbel, Plastikböden. Jeder Zentimeter war mit feinem Staub bedeckt, der von der Wüste, die die Stadt umgibt, hereingetragen wurde. Über die Monate würden wir wischen und fegen und putzen. Stets war der Staub binnen einer Stunde zurück und legte sich wie ein Schleier über die Wohnung, als sei sie verlassen und unbewohnt. Unsere Wohnung ähnelte auf diese Weise dem staubigen, verlassenen Dachstuhl, in dem Preußlers Gespenst den Tag verschläft. Und doch würde sie sich später weit entfernt anfühlen von jenem gemütlichen, stillen Zufluchtsort, um den ich das kleine Gespenst noch beneiden sollte.

Kapitel 3

Der Unterricht begann um 6:45 Uhr. Auf diese Weise konnten die Schülerinnen nach Hause, bevor die Hitze 30 Grad überschritt. Früh an jedem Morgen weckte mich die knarrende Stimme eines Mannes, der den ersten von fünf Gebetsrufen per Lautsprecher über unserer Straße ertönen ließ. Ich schloss meine Augen fester und versuchte, ein paar Minuten mehr Schlaf zu stehlen, bevor um 5:45 Uhr mein Wecker klingeln würde.

Aus dem Bett und in der Dunkelheit zog ich die Leggings, den knöchellangen Rock und das langärmlige Hemd an, die an der Mädchen-High-School, an der ich arbeitete, Pflicht waren. Darüber meine Abaya, der schwarze Umhang, den alle Frauen in Saudi-Arabien in der Öffentlichkeit tragen müssen. Ich legte ein schwarzes Tuch um meinen Hals, wie es von Ausländerinnen erwartet wird. Zehn Minuten war ich mit dem Fahrer auf dem Weg zur Schule. Fünf Minuten danach schritt ich an Wachmännern vorbei, durch das Tor der Al-Tarbiyah Al-Namouthajiyah International School.

An meinem ersten Tag lernte ich meine Schülerinnen kennen, saudische Mädchen im Alter von elf bis 14 Jahren, und meine Kolleginnen, Frauen aus Riad, Ägypten, Jordanien, Indien, einige aus England und den USA. Ich hatte keinen Plan. Stattdessen ließ ich meine Schülerinnen Fragen an mich an die Tafel schreiben. In großen, schnörkeligen Buchstaben krakelten sie: „Wie alt sind Sie?“, „Sind Sie verheiratet?“, „Was ist Ihre Religion?“, „Tragen Sie Bikinis?“, „Hatten Sie einen Freund, als Sie so alt waren wie wir? Haben Sie ihn geküsst?“

Die Flure und Klassenzimmer der Schule dröhnten vor Lachen und Geschrei, an jenem ersten Tag und jedem darauf folgenden. Die Schülerinnen blickten lächelnd zu mir auf, wie uniformierte katholische Schulmädchen, aber mit bodenlangen Röcken. Auf dem Parkplatz vor dem Fenster standen Palmen, die Blätter reglos in der Sonne.

„Ich legte ein schwarzes Tuch um meinen Hals, wie es von Ausländerinnen erwartet wird.“ Foto: Kristie Pladson

Kapitel 4

Ich hatte null pädagogisches Training oder Erfahrung und den Job trotzdem irgendwie bekommen. Ich dachte, weil man mir den Job gegeben hatte, müsse ich wohl auch qualifiziert dafür sein.

Meine Absichten waren gut, aber meine Umsetzung war fürchterlich. Ich entwickelte die schlechte Angewohnheit, Unterrichtspläne erst kurz vor dem Klingeln zusammenzuschustern, nur um es bis zum Ende des Tages zu schaffen. Jeden Tag nahm ich mir vor, „heute Abend wirst Du einen richtigen Unterrichtsplan machen. Heute Abend kommst Du wieder auf Spur.“

Aber dieser Abend kam nie. Meine dürftigen Schulaufgaben kamen bearbeitet zurück und bildeten wachsende Stapel in meinem staubigen Wohnzimmer. Vorwurfsvoll warteten sie darauf, benotet zu werden.

Erst schob ich es auf den Jetlag. Dann auf den Kulturschock. Dann auf die Organisation der Schule.

Diese Beanstandungen waren gerechtfertigt, meine Reaktion auf sie eher nicht.

Der Stundenplan änderte sich wöchentlich, manchmal von heute auf morgen oder sogar im laufenden Schultag. Lehrerinnen platzten unvermittelt in mein Klassenzimmer und schrien die Mädchen auf Arabisch an. Alle verließen den Raum. „Wir haben jetzt Koranunterricht, Miss.“

Mütter tauchten unangekündigt auf, um über die Noten ihrer Töchter zu diskutieren. 20 Zwölfjährige blieben im Englischunterricht sich selbst überlassen, während ich abgezogen wurde, um Nespresso zu trinken und ein sich im Kreis drehendes Gespräch zu führen, das immer damit endete, dass die Schulleiterin die Note nach oben korrigierte.

Jeden Morgen schallte der Gebetsruf durch das Fenster meines Klassenzimmers. Der Unterricht stoppte. Die Schülerinnen drängelten raus, um ihre Hände zu waschen und zu beten. Zehn Minuten später ging der Unterricht weiter. Aber die „unartigen Schülerinnen“, wie die saudischen Lehrerinnen sie nannten, versteckten sich jedes Mal auf der Toilette. Ich spürte sie dort auf; sie bettelten und flehten, noch beten gehen zu dürfen. Bis sie zurück kamen, war der Unterricht vorbei.

Einen Morgen erzählte eine Schülerin von einem Zauberer, der bei ihnen zuhause angerufen habe; am nächsten Tag beklagte sich eine andere über die Hexe, die ihre Cousine mit dem bösen Blick krank gemacht habe. Kollegen erzählten Geschichten von Dienstmädchen, denen unter Folter Geständnisse der Hexerei abgerungen und dann der Kopf abgeschlagen worden sei. Ich dachte an das kleine Gespenst und wie seine Schwierigkeiten im Vergleich dazu verblassten.

Jeden Nachmittag kam ich euphorisch nach Hause, einen weiteren Tag überstanden zu haben. An guten Tagen belohnte ich mich selbst mit einem Nachmittag auf dem Sofa, wo ich mich von der Klimaanlage anpusten ließ und „Verbotene Liebe“ und andere Vorabendserien der ARD anschaute – seltsamerweise einer der fünf Sender, die wir empfangen konnten. An schlechten Tagen zog ich die Polyestervorhänge zu und kroch ins Bett. Manchmal blieb ich dort zwei oder drei Tage liegen und grübelte über mein Versagen.

Kapitel 5

Ich arbeitete mich weiter mühsam durch „Das kleine Gespenst“, das ich bei meiner Ankunft angefangen hatte. Eine Seite hier, zwei Seiten da. Eine Passage auf der allerersten Seite blieb mir im Gedächtnis haften: „Tagsüber schlief es in einer schweren, eisenbeschlagenen Truhe aus Eichenholz, die stand auf dem Dachboden, wohl versteckt hinter einem der dicken Schornsteine, und kein Mensch hatte eine Ahnung davon, dass sie eigentlich einem Gespenst gehörte.“

Ich musste sowohl „Truhe“ als auch „Eichenholz“ in meinem englisch-deutschen Wörterbuch nachschlagen, bevor ich mir ein Bild machen konnte von dem stillen, gemütlichen, sicheren Platz, den das kleine Gespenst gefunden hatte, um dort den Tag zu verschlafen. Während sich meine Zeit in Saudi-Arabien in die Länge zog und mein Kontrollgefühl mir in den Fingern zerrann, tauchte dieses friedliche Bild in Anwandlungen plötzlichen, heftigen Neids immer wieder vor meinem geistige Auge auf.

„Tagsüber schlief es in einer schweren, eisenbeschlagenen Truhe aus Eichenholz…“ Bild: Thienemann-Esslinger Verlag GmbH

„Ich wünschte, auch ich könnte in eine Truhe klettern und den ganzen Tag lang versteckt bleiben“, sagte ich zu meinem Verlobten. Vielleicht war das an einem jener Tage, die mit einer auf dem Tisch tanzenden Schülerin und einer im Takt klatschenden Klasse endeten. Ihr fröhliches Gejohle übertönte meine hilflosen Ordnungsrufe.

Hätte ich noch Gedanken auf etwas anderes als mein Selbstmitleid verwenden können (und etwas schneller gelesen), wäre mir aufgefallen, dass das kleine Gespenst und ich noch durch viel mehr als meinen Neid auf seine Truhe verbunden waren.

Gefangen im Eulensteiner Tageslicht merkt das kleine Gespenst, dass der Schein der Sonne es von weiß zu schwarz verwandelt hat. Von da an will es nichts anderes mehr, als wieder das weiße Nachtgespenst zu werden, das es früher war, und in seine Eichentruhe auf dem Dachboden zurückzukehren.

Jeden Morgen legte ich wie betäubt meinen fließenden, schwarzen Umhang und mein schwarzes Kopftuch um und bewegte mich ziellos durch eine Stadt aus Mauern, die ich nie überwinden würde. Erst später wurde mir klar, dass auch ich ein Gespenst geworden war..

Kapitel 6

Ich las das Buch fertig. Mein Verlobter hatte Recht, ich war stolz auf mich. Aber wegen der Sprachbarriere hatte ich viele Details verpasst, und was ich verstanden hatte, ließ bei mir viele Fragen zurück. Wie zum Beispiel:

Wenn Kugeln und Schwertklingen durch den Körper des kleinen Gespensts fliegen können, ohne es zu verletzen, warum braucht es dann Schlüssel und Türen, um von Raum zu Raum zu schweben?

Ist das kleine Gespenst der Geist einer verstorbenen Person? Falls nicht, wo kommt es her?

Warum sucht es den Uhu Schuhu für seinen Rat und seine Weisheit auf, wenn es selbst doch eigentlich viel, viel älter ist als er?

Warum hatte die schwedische Armee solche Angst vor dem kleinen Gespenst, aber die Schulkinder, die ihn herumjagen, überhaupt keine?

Ist es nicht etwas rassistisch, dass die Bürger Eulenbergs ihn den „schwarzen Unbekannten“ nennen und versuchen, ihn aus der Stadt zu jagen?

Mein Verlobter lachte und meinte, ich solle die Geschichte einfach so akzeptieren, wie sie ist, wie er es als Kind auch getan habe.

Kapitel 7

Das Ende des Schuljahrs nahte. Ich gab alle Hoffnung auf ein professionelles Comeback auf, und meine Selbstmitleidstour gleich mit. Der bevorstehende Aufbruch nach Deutschland nahm mich jetzt ganz ein.

In den USA basteln Grundschulklassen, wenn sie zählen lernen, Ketten aus Papier, die für die Tage bis zu den Sommerferien oder Weihnachten stehen. Jedes Glied symbolisiert einen Tag. Mit jedem Tag, der vergeht, entfernen die Kinder ein Kettenglied. Ich riss alte Schülerarbeiten in Streifen, um eine Papierkette mit 14 Gliedern zu basteln, genug, um meine verbleibenden beiden Wochen zu messen. Jeden Tag riss ich ein Kettenglied ab und zählte alle verbliebenen Glieder zweimal laut.

Es waren vier Kettenglieder übrig, als ich mein Iqama verlor.

Ohne meine saudische Aufenthaltserlaubnis würde ich das Land nicht verlassen können. Ich benachrichtigte die Schule, von wo aus ich sofort zu einer Polizeistation gefahren wurde, mit der Anweisung zu lügen – mein Iqama sei gestohlen worden. Es zu ersetzen, würde andernfalls zu lange dauern, und ich würde meinen Flug verpassen. Die nächsten vier Stunden verbrachte ich damit, auf einer saudischen Polizeiwache Polizisten anzulügen.

Es funktionierte. Das neue Iqama kam rechtzeitig an. Weniger als 24 Stunden später gab ich es am König-Khalid-Flughafen ab und verließ Saudi-Arabien für immer.

Es ist jetzt vier Jahre her, dass ich in Deutschland gelandet bin. Alles Geld, das ich damals verdient hatte, ist weg. Ich habe meine Ausgabe des kleinen Gespensts verloren, habe aber neulich das Audiobuch angehört. Es dauerte 90 Minuten. Ich weiß jetzt, dass mein Neid auf das Gespenst nicht gerechtfertigt war. Genau wie ich verbrachte es die meiste Zeit des Buches damit, zu versuchen, zu seiner Truhe zurückzukommen. Ich war einfach ein langsamer Leser.

Wenn sich die Gelegenheit ergibt, sagt meine Schwiegermutter gerne, dass wir in Saudi-Arabien ein Jahr unseres Lebens verschwendet hätten. Das macht mich jedes Mal wütend. Liegt das aber daran, dass sie falsch liegt, oder richtig?

Das kleine Gespenst schafft es zurück in sein altes Leben dank der Freundschaft der Kinder von Eulenstein. Ich bin nie in mein altes Leben zurückgekehrt, aber die Menschen in Riad halfen mir in mein neues.

 

Beitragsbild: Stephan Geyer via Flickr