Die weiße Frau von Tonndorf ist eine sagenumwobene Thüringer Legende. Seit Jahrhunderten soll ihr Geist auf dem Tonndorfer Schloss spuken. Der Sage nach ist sie im Mittelalter auf fragwürdige Weise zu Tode gekommen. Die einen glauben an einen tragischen Unfall, die anderen an heimtückischen Mord. Ina Mecke wollte herausfinden, was wirklich hinter der Spukgeschichte steckt und hat sich auf Spurensuche begeben.

Mitten im Herzen Deutschlands liegt das thüringische Tonndorf, eine kleine Gemeinde im Weimarer Land. Nördlich des Dorfes ragt der Turm des Tonndorfer Schlosses aus den Wipfeln des Waldes. Seit vielen Jahrhunderten begleitet das Schloss die Sage von der Weißen Frau, einem Geist, der angeblich immer wieder gesichtet wird.

Die Geschichte des Gespenstes im Tonndorfer Schloss reicht zurück bis ins Mittelalter. Ursprünglich wurde die Festung vermutlich als Schutzburg errichtet. Ihr Bau fiel in die Zeit der ersten Kreuzzüge, denen sich auch zahlreiche Ritter aus Thüringen anschlossen. Der Aufruf des Papstes, Jerusalem für die Christenheit zurückzuerobern, folgte auch der damalige Schlossherr, der Graf von Orlamünde.

Vom Volksmund überliefert

Der Sage nach war es dem Regenten und seiner Gattin nicht vergönnt, Kinder zu bekommen. Der Graf zog in den heiligen Krieg, um bei Gott für einen Stammhalter zu beten. Nach einigen Jahren kehrte er mit reicher Kriegsbeute zurück. Kurz vor der Ankunft schickte er sein Gefolge voraus, sie sollten seine Heimkehr verkünden. Er selbst nahm gemeinsam mit einem Knappen einen Umweg über das von ihm gegründete Kloster Muncheszella. Dort übergab er die wertvollen Reliquien an der Prior.

Seine Gemahlin hatte inzwischen von der Rückkehr des Grafen erfahren und erwartete ihren Mann auf der Festung. Bekleidet mit einem langen, weißen Schleier schaute sie, voller Vorfreude über die Burgmauer und winkte ihm zu. Doch dann ereignete sich das Unglück: Kurz bevor der Graf mit seinem Knappen die Tore des Schlosses überschreiten konnte, wurden die Heimkehrer aus einem feindlichen Hinterhalt überfallen. Vor den Augen seiner Frau wurde der Graf erschlagen. Diese lehnte sich in ihre Aussichtslosigkeit weit über die Burgmauer und stürzte in die Tiefe. Tagelang suchte man nach ihrem Leichnam, um sie zu bestatten – doch ihr Körper blieb unauffindbar.

An dieser Stelle wird die Geschichte richtig gruselig: Der Volksmund überliefert, dass die Frau erst wieder gesichtet wurde, nachdem der Leichnam des Grafen in der Burgkapelle aufgebahrt wurde. Um Mitternacht erschien sie den Totenwächtern am Ende des Sarges. Drei Nächte lang tauchte die Weiße Frau aus dem Nichts in der Kapelle auf und verschwand wieder, ohne dass sie jemand kommen oder gehen sah. Seither soll ihr Geist jedes Jahr am Todestag des Grafen durch das Schloss schreiten und dann zur Unglücksstelle hinab schweben.

In Tonndorf und Umgebung wird die Legende von Generation zu Generation als Schauer- und Spukgeschichte überliefert. Mehrere Sagen berichten davon, dass die Weiße Frau im Laufe der Jahrhunderte immer wieder gesehen wurde. Der historische Hintergrund ist aus heutiger Sicht allerdings kaum zu rekonstruieren, da schriftliche Belege aus der Zeit fehlen oder schwammig dokumentiert wurden.

Fehlende Fakten und fragwürdige Quellen

Aufgeschrieben wurde die Sage in dem 1924 erschienenen Buch “Alte Geschichten und neue Sagen aus Thüringen” von Hermann Rauchfuß. Diese Quelle betrachtet der Tonndorfer Dorfchronist Georg Ghiletiuc allerdings kritisch, da der Autor in dem Buch auf Literatur- oder Quellenhinweise verzichtet. Eine rein mündliche Überlieferung über Jahrhunderte hinweg ohne weitere Belege ist bereits an sich fragwürdig.

Was also an der Sage wahr ist und was Legende bleibt unklar. Ghiletiuc vermutet, dass der Anfang der Geschichte auf wahren Begebenheiten beruht: “Den Grafen von Orlamünde hat es tatsächlich gegeben, er war auch verheiratet und ist kinderlos gestorben”, sagt der Tonndorfer. Wie er allerdings wirklich gestorben ist, das ist nirgendwo belegt.

Darüber hinaus findet Ghiletiuc in der Überlieferung der Sage Widersprüche, denn hier wird der Graf von Orlamünde gleichzeitig als Burgherr und als Gründer des Klosters Muncheszella, dem heutigen München bei Bad Berka, genannt. “Das Kloster wird erstmals 1115 erwähnt, das Schloss allerdings erst im 13. Jahrhundert”, so der Chronist.

Andererseits wurde bereits im achten Jahrhundert die heutige thüringische Landeshauptstadt Erfurt gegründet. Die Heer- und Handelswege in die Stadt wurden mit Hilfe von Schutzfestungen wie der Burg Tonndorf verteidigt. Gut möglich also, dass die Burg schon lange vor ihrer ersten urkundlichen Erwähnung errichtet wurde.

Romantisch-verklärte Spukgeschichte

Die Spukgeschichte um die Weiße Frau betrachtet Ghiletiuc als eine romantisch-verklärte Überlieferung. Historisch gesehen hält er es aber für möglich, dass der Burgherr tatsächlich bei seiner Heimkehr erschlagen wurde, und zwar aus dem Hinterhalt von seiner eigenen Truppe: “Nachdem der Graf seine Gefolgschaft vorgeschickt hat, könnte die den Raubüberfall geplant haben. Sie wussten ja nicht, dass er die Kriegsbeute vorher ins Kloster gebracht hat.”

Neben dieser Lesart hält der Chronist noch eine zweite Variante für historisch plausibel. Als die Ritter in den Zeiten der Kreuzzüge für lange Zeit von Zuhause weg waren, kam es häufig vor, dass die Burgfrauen sich anderweitig Trost suchten. “Möglicherweise ist die Frau in der Abwesenheit ihres Gemahls schwanger geworden und gar nicht freiwillig über die Mauer gestürzt, sondern von ihrem Liebhaber gestoßen worden”, sagt Ghiletiuc.

Welche Interpretation oder Variante nun die historisch korrekte ist, lässt sich nicht mehr feststellen. Der Legende selbst schadet ihr nebulöser Hintergrund allerdings nicht. Im Gegenteil: Heute wird das Schloss von einer alternativen Gemeinschaft belebt und erhalten. Das Schlossgespenst hat von den Bewohnerinnen und Bewohnern einen besonderen Platz bekommen: Vor den Schlossmauern im Eingangsbereich steht eine große Skulptur der Weißen Frau – und die ist offensichtlich schwanger.

Skulptur der Weißen Frau vor dem Schloss Tonndorf (Foto: Ina Mecke).

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  1. […] und deswegen sind unsere Forschungsfelder es nun mal auch. Es geht nicht darum, zu versuchen das Tonndorfer Schlossgespenst zu fangen, sondern zu hinterfragen, wie diese Legende der weißen Frau überhaupt an Popularität […]

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