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Die Verschleierung von Haaren. Gefühlt hat in der Debatte um Frauen im Islam nichts höhere Brisanz als das Kopftuch. Dabei ist der Islam längst nicht die einzige Religion, die das Tragen einer Kopfbedeckung vorsieht. So tragen katholische Nonnen genauso eine Verschleierung wie streng gläubige Jüdinnen. Und dennoch scheint das muslimische Kopftuch in den Diskussionen ein Alleinstellungsmerkmal zu sein. Es wird debattiert, gestritten, be- und geurteilt, was das Zeug hält – oft aber, ohne wirklich zu wissen, wer sich unter dem Kopftuch verbirgt und welche Beweggründe dahinterstecken.

Um den Schleier metaphorisch zu lüften und mit Vorurteilen aufzuräumen, lohnt es sich immer noch, Debatten zum Thema zu führen. Dabei ist aber wichtig, miteinander und nicht übereinander zu reden. Deshalb durfte ich die 24-jährige Akademikerin, Mediamanagerin und Kopftuchträgerin Betül Ö. befragen. In Deutschland geboren und aufgewachsen hat sich die gläubige Muslimin mit türkischen Wurzeln im Alter von 19 Jahren für das Tragen des Kopftuchs entschieden. Im Interview spricht sie über freie Selbstbestimmung, Glaube und Inklusion.


Fangen wir mal mit Grundsätzlichem an: Warum werden eigentlich die Haare verschleiert?

Es ist so, dass in unserer Religion der Mensch an sich mehr im Vordergrund stehen sollte als das Aussehen. Außerdem soll man sich gegenüber Männern, die nicht blutsverwandt sind, wie Brüdern, Onkel oder dem Vater, verschleiern, um die Reize zu verbergen. Haare gehören zu solchen Reizen. Lange Haare oder kurze Haare, Locken, glatt oder blond rufen Präferenzen hervor. Die Verschleierung, auch die des Körpers, unterstützt dabei, den Fokus auf die Person zu legen und nicht auf das Optische.

Betül Ö.

Betül (24) erhofft sich eine Gesellschaft der Inklusion, in der miteinander und nicht nebeneinander gelebt wird.

Ist das auch der Grund, warum du Kopftuch trägst?

Ich trage Kopftuch, weil ich das möchte. Ich bin eine gläubige Person. Meine Religion schreibt mir unter anderem vor, Kopftuch zu tragen, und wer sich im Diesseits an die Vorschriften hält, wird im Jenseits dafür belohnt. Daran glaube ich. Gleichzeitig fühle ich mich wohl und vollständig damit.

Tragen alle Frauen bei dir in der Familie Kopftuch?

Nein, nicht alle. Wir dürfen das frei entscheiden. Manchmal ist das aber auch beruflich bedingt nicht möglich.

Wann und wo trägst du Kopftuch?

In der Öffentlichkeit, aber auch zu Hause, wenn Freunde oder Bekannte sowie Verwandte zweiten und dritten Grades zu Besuch sind.

Sind dir Haare trotzdem noch wichtig?

Ich liebe meine Haare! Nur, weil ich sie nicht jedem zeige, heißt das nicht, dass sie mir nicht wichtig sind. Ich mache mir auch manchmal die Haare, schminke mich und mache mich hübsch. Das gehört ja trotzdem noch zu mir. Aber das bleibt dann eben im familiären Rahmen.

Du hast Dich mit 19 Jahren relativ spät dafür entschieden, Kopftuch zu tragen. Wie kam es dazu?

Ich wollte das eigentlich schon früher. Habe mich aber nicht getraut, aus Angst vor der Reaktion meines sozialen Umfelds. Dann bin ich aufgrund meines Studiums in eine andere Stadt gezogen, wo mich niemand kannte. Da dachte ich: jetzt oder nie.

„Ich muss mich erst selbst von Dingen überzeugen, sie nachvollziehen können und herausfinden, ob es Sinn macht, etwas zu tun.“

Wie hat denn Deine Familie und Dein soziales Umfeld darauf reagiert, dass Du plötzlich Kopftuch trägst?

Insgesamt positiv. Ich komme auch aus einer Familie, in der es mir offengelassen wurde, das Kopftuch zu tragen. Mir wurde zwar gesagt, dass die Religion dies und jenes vorgibt, es aber meine Entscheidung sei, ob ich das möchte oder nicht. Als ich dann erzählt habe, dass ich mich für das Kopftuch entschieden habe, hat sich meine Mutter sehr gefreut und mein Vater hat mir seine Unterstützung zugesichert. Meine Eltern waren da locker drauf. Ich kenne muslimische Eltern, die das Kopftuch nicht erlauben, aus Sorge, ihre Tochter stößt in Deutschland auf Schwierigkeiten, wie beispielsweise im Job. Sowas gibt es also auch.

Du sagst damit, dass Du Dich frei für das Kopftuch entschieden hast. Kannst Du auch einen indirekten Zwang, also beispielsweise durch gesellschaftliche Konventionen, ausschließen?

Es kann schon sein, dass manche Frauen Kopftuch tragen, weil es in ihrer Familie oder Community getragen wird. Ich würde von mir aber behaupten, dass ich selbstbestimmt bin. Ich muss mich erst selbst von Dingen überzeugen, sie nachvollziehen können und herausfinden, ob es Sinn macht, etwas zu tun. Mit 19 konnte ich das dann und wollte es unbedingt. Einen indirekten Zwang habe ich eher darin empfunden, darauf zu verzichten, Kopftuch zu tragen, weil die Mehrheit in meinem Umfeld keines trägt. Deshalb habe ich mich auch erst so spät dafür entschieden.

Hast Du seitdem noch mal an Deiner Entscheidung gezweifelt?

Wenn, dann nur, weil ich in Deutschland damit auf Probleme stoße. Nicht aber aus religiöser Sicht.

Was sind das für Probleme, auf die Du gestoßen bist?

Natürlich gibt es die typischen Sprüche oder Blicke beim Vorbeilaufen. Aber auch in der Berufswelt habe ich einiges erlebt. Ich habe während des Studiums viele Praktika gemacht. Dabei war mir wichtig, in einem deutschen Unternehmen zu arbeiten. Leider musste ich feststellen, dass öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten mir weniger Toleranz entgegenbrachten als private Unternehmen – obwohl man oft glaubt, die Öffentlich-Rechtlichen seien so aufgeschlossen. Am Ende habe ich sogar ein Jobangebot bei einem privaten Unternehmen bekommen. Denen war nur wichtig, dass ich gute Arbeit leiste. Von den Öffentlich-Rechtlichen war ich wirklich enttäuscht, dass die sich nicht mehr getraut haben.

Wie hat sich deren Intoleranz genau geäußert?

In Form von Absagen. Oder auch Aussagen: Ich wurde zum Beispiel gefragt, warum ich nicht bei einer türkischen Zeitung arbeiten möchte. Aber wieso soll ich bei einer türkischen Zeitung arbeiten wollen? Nur, weil ich türkische Wurzeln habe?

Das klingt wirklich absurd. Hast du nach dem Studium denn lange nach einem Job suchen müssen?

Einige Monate, obwohl meine Noten gut waren und ich sozial engagiert bin. Selbst der Sachbearbeiter beim Arbeitsamt konnte keine Fehler in meiner Bewerbung finden. Er war sogar vielmehr von der Kreativität meiner Bewerbung angetan. Schließlich waren wir uns einig, dass es an meinem Kopftuch liegen muss. Er hat mir dann zu Praktika geraten, um den Arbeitgebern zu zeigen, wer und wie ich bin. Und dass ich Deutsch sprechen kann. Damit hatte ich dann auch Erfolg.

Wer die Welt verändern will, muss bei sich selbst anfangen.“

Das erinnert mich an so manche Kopftuchdebatte. Erst neulich argumentierte der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz, dass das Kopftuch Parallelgesellschaften befördere. Was denkst Du darüber?

Ich halte es für wichtig, dass wir eine Gesellschaft der Inklusion, nicht bloß der Integration, leben. Und das sollte von beiden Seiten ausgehen. Die meisten Immigrant*innen haben ihre eigene Community gebildet. Dadurch kommen sie aber auch nicht in Kontakt mit anderen. Gleichzeitig haben es beispielsweise Kopftuchträgerinnen schwer in der Gesellschaft. Meistens wird nur über das Kopftuch geredet, aber nicht über die Person dahinter. Wir schließen uns also gegenseitig aus, anstatt aufeinander zuzugehen.

Ist das auch der Grund, warum Du in einem deutschen Unternehmen arbeiten wolltest?

Ja, auch. Obwohl ich es mir damit ja nicht leicht mache, wenn ich immer wieder erklären muss, warum ich so aussehe, was ich anziehe und so weiter. Ich finde aber, dass das dazu gehört, sonst kommen wir nicht voran. Wer die Welt verändern will, muss bei sich selbst anfangen.

Immer wieder werden ja Kritiker*innen laut, die das Kopftuch vehement ablehnen. Dabei wird dann oft auf den Iran verwiesen, wo gläubige Muslim*innen gegen die Verschleierung protestieren. Wie denkst Du darüber?

Ich kann die Geschehnisse im Iran nicht so gut beurteilen, weil ich weder Iranerin bin, noch jemals dort war. Ich weiß aber, dass dort das eigentlich religiöse Symbol des Kopftuchs politisiert wird. Die Frauen werden dort gezwungen. Damit wird aber der Sinn des Kopftuchtragens verfehlt. Man sollte etwas Religiöses tun, weil man daran glaubt, nicht weil andere einen dazu zwingen.

Was müsste sich für Dich gesellschaftlich verändern, damit Du Dich akzeptierter fühlst?

Dass der Mensch in den Fokus gerückt wird und nicht ein Stück Stoff. Mich unterscheidet ja nicht viel von anderen Menschen. Meine Arbeitskollegen haben wie ich studiert, haben wie ich Klausuren geschrieben oder wie ich ein Interesse für Fotografie. Aber bevor es soweit kommt, ist das Kopftuch oft schon ein Ausschlusskriterium und gleichzeitig sehr klischeebehaftet. Ich finde es schade, dass man nicht offen miteinander umgeht.

Was würdest Du einer Muslima mit oder ohne Kopftuch noch gerne sagen?

Ich würde einer Muslima mit Kopftuch sagen, dass sie viel offener damit umgehen soll. Ich finde, man steckt sich selbst schnell in Schubladen, in dem man sein Kopftuch dafür verantwortlich macht, dass man beispielsweise keinen Job findet. Das ist zwar durchaus der Fall und nicht wegzudenken, manchmal liegt es aber auch einfach an seinen Noten oder Referenzen. Da sollte man mehr reflektieren. Denn nicht alle sind rassistisch. Und sich selbst in so eine Schublade zu stecken, finde ich nicht richtig. Hinzu kommt, dass wir aus Angst vor falschen Darstellungen oft nicht zulassen, dass die Medien über uns berichten. Auf der anderen Seite beschweren wir uns darüber, dass in den Medien selten positiv über uns berichtet wird. So kommen wir aber auch nicht voran. Muslimas müssten einerseits mitreden dürfen: In Debatten über Kopftuchtragende haben alle das Recht, sich zu äußern, außer Kopftuchtragende selbst. Auf der anderen Seite müssten wir uns gegenseitig kennenlernen, um uns besser zu verstehen. Der Fremde ist meistens der Feind. Doch wenn du den Fremden kennenlernst, ist er nicht mehr fremd und vielleicht sogar irgendwann dein Freund.

Schönes Schlusswort eines gelungenen Interviews. Vielen Dank dafür, liebe Betül.

 

Empfohlene Literatur zum Weiterlesen:

Şahin, Reyhan (2014): Die Bedeutung des muslimischen Kopftuchs. Eine kleidungssemiotische Untersuchung Kopftuch tragender Musliminnen in der Bundesrepublik Deutschland. Münster.


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Die Krone auf deinem Kopf ist etwas Einzigartiges und Besonderes. Doch was passiert, wenn jemand, der sich nicht damit identifizieren kann, auf einmal dieselbe Krone trägt? Sollte man sich nicht freuen, wenn ein kultureller Austausch auf einer so ästhetischen Ebene wie dem Haar stattfindet? Oder sollte man gegen die Haarinvasion antreten?

Kim Kardashian West mit Bo Derek Braids – das fühlt sich ein bisschen an wie eine neue Episode der Serie „Was die Kardashians stahlen und als ihre Eigenmarke vertrieben“. Anfang des Jahres war das die neue Lieblingsfrisur von ihr und ihrer Tochter. Doch diese angeblich neue Frisur brachte einen unverwechselbaren Shitstorm mit sich. Viele beschwerten sich, nicht nur über das Tragen der angeblichen Bo Derek Braids, sondern auch über die Art und Weise, wie Kim Kardashian ihre neue Flechtfrisur vermittelte.

Fangen wir mit der ersten und offensichtlichsten Frage an. Warum gab sie ihrer deutlich erkennbaren afrikanischen Flechtfrisur einen anderen Namen?

Hier wurde die Kritik perfekt auf den Punkt gebracht. Quelle: Twitter

Nach einer ergiebigen Google-Suche gibt es hier die Erklärung, wer Bo Derek überhaupt ist. Bo Derek gilt als ein Sexsymbol der 1980er. Durch ihre Rolle in Zehn – Die Traumfrau gewann Derek weltweite Aufmerksamkeit, die sie trotz allem nicht vor dem Gewinn einer goldenen Himbeere bewahrten. Im Film trug Bo Derek in der Rolle als Jenny Hanley besondere Zöpfe, die wiederum Kim Kardashian zu ihrem neuen Look inspirierten. Das teilte die Stilikone natürlich sofort auf den sozialen Plattformen. Jedoch geschah all das unter dem neugetauften Bo Derek Look und nicht dem originalen Namen.

„Nicht mit uns!“ dachten sich viele Social-Media-Nutzer und machten Kim Kardashian West direkt auf ihr Fehlverhalten aufmerksam:

 

Quelle:Twitter

 

Woher kommen die Bo Derek Braids ursprünglich?

Die vermeintlich umbenannte Flechtfrisur heißt Fulani Zöpfe. Diese werden traditionell vom Volk der Fulbe getragen (womit auch die richtige Namensgebung erklärt wird), welches in der Sahelzone Afrikas seinen Sitz hat. Seinen Ursprung findet das Flechten im Jahre 3500 v.Chr. im alten Ägypten. Zöpfe waren ein Teil der Kommunikation und sind bis heute noch ein Anzeichen, um die Herkunft und den sozialen Status eines Menschen zu erkennen. Durch den Sklavenhandel und mehreren Migrationsschübe verbreitete sich die Frisur unter der afro-amerikanischen Bevölkerung. Durch die Bürgerrechtsbewegung (1954 – 1968) gewannen Zöpfe und die Kunst des Flechtens eine größere Bedeutung und Aufmerksamkeit.

Wo liegt jetzt das Problem?

Es ist kein Problem, wenn die „selbsterklärte“ Trendsetterin Mrs Kardashian West sich Zöpfe flechten lässt. Es ist ihr gutes Recht ihre Haare nach ihrem eigenen Belieben zu tragen. Das Problem lag in der Art der Vermittlung. Sie stellt ihre Frisur nicht nur zur Schau, als wäre es eine Eigenkreation, sondern benennt sie diese auch noch um. Es ist nicht abzustreiten, dass die Kardashian-West-Marke einen hohen Stellenwert in der heutigen Gesellschaft hat. Eben deswegen ist es vielen so wichtig, dass wenn sich jemand wie eine Kim an ihrem Stil vergreift, ihnen auch die notwendige Anerkennung verleiht. Wenn sie schon einen Trend daraus macht, dann bitte auch unter den richtigen Bedingungen.

Bildquelle: Razzle Jam/ retna.io

Having Black hair is unique in that Black women change up styles a lot. You can walk down one street block in New York City and see ten different hairstyles that Black women are wearing: straight curls, short cuts, braids – we really run the gamut. – Queen Latifah

Wer ist überhaupt mit „ihnen“ gemeint?

Ihnen – umfasst primär alle Volksgruppen, die Zöpfe als ein Symbol ihrer Gesellschaft sehen. Zöpfeflechterin ist nicht nur eine Berufsbezeichnung, sondern auch ein Dienst für die Gesellschaft und für manche ein wichtiges Ritual. Die Zöpfe zeigen die Zugehörigkeit einer Person zu einer bestimmten Volksgruppe. Doch durch Migration und Sklavenhandel ging diese Tradition bei vielen Völkern verloren. Das Schönheitsideal hat sich verändert und ist westlicher geworden. Natürlich lockiges Haar und ihre Hair-Styles wurden und werden bis heute noch als ungepflegt und unästhetisch angesehen. Vielen dunkelhäutigen Trägerinnen wird ihre Schönheit abgesprochen aufgrund ihrer Frisur. Jedoch werden diese stereotypisierten Styles eben dann anerkannt, sobald eine weiße Sprecherin ihn für sich behauptet. All das spitzt sich dann zu, wenn die wirklichen Kuratoren nicht rechtmäßig kreditiert werden.

Irgendwo zwischen Glatt und Zöpfen…

Bloggerin Naturalneiicey setzt ihre Zöpfe gekonnt in Szene. Quelle: Instagram

Was wäre ein passender Lösungsansatz? Wenn ein kultureller Austausch passiert, auf einer ästhetischen Ebene wie den Haaren, dann ist dies ein Schritt in die richtige Richtung, um einen Dialog zu starten. Dieser Dialog sollte jedoch rechtmäßig stattfinden. Es ist schön, wenn sich andere Kulturen ihre Haare flechten und die jeweiligen Stile imitieren. Jedoch sollte man darauf achten, nicht zu plagiieren, sondern genau diese Gelegenheit zu nutzen, um auch andere davon zu überzeugen, dass die Frisur schön ist, egal an wem. Der Erfolg der Zöpfe sollte nicht durch die Hautfarbe des Trägers, sondern durch die persönliche Schönheit bestimmt werden.


Weitere Links:

https://www.brighthubeducation.com/social-studies-help/121031-cultural-significance-of-hair-braiding-in-african-tribes/

Pergament, Deborah. „It’s Not Just Hair: Historical and Cultural Considerations for an Emerging Technology.“ Chi.-Kent L. Rev.75 (1999): 41.

https://www.allure.com/story/kim-kardashian-called-cornrows-bo-derek-braids-lol-come-on-girl

https://csdt.rpi.edu/culture/cornrowcurves/civilrights.html

Das Haar kommt überall vor: in der Kunst, der Poesie, im Alltag und auch in der Archäologie. Mumien sind das beste Beispiel dafür, dass Haare sich auch nach Jahrtausenden immer noch halten können. Daher habe ich mich mit dem „Tollund-Mann“, einer Moorleiche aus Dänemark getroffen und mit ihm ein wenig über das Haar in der Archäologie gesprochen. Was gibt es für Methoden, was kann man herausfinden und was ist eigentlich das Problem dabei? 

Könnten Sie sich vielleicht kurz vorstellen?
Tollundmannen.jpg

Kopf des Tollund-Mannes (datiert auf 375-210 v. Chr.): von Sven Rosborn – Eigenes Werk, Gemeinfrei, Link

Man kennt mich unter dem Namen „Tollund-Mann“. Ich bin in der vorrömischen Eisenzeit gestorben und wurde nach meinem Tod im Hochmoor bei Bjaeldskovdal vergraben. Das liegt in der Nähe von Tollund, daher kommt auch mein Name. Die Torfstecher, die mich im Mai 1950 fanden, dachten zunächst, ich sei erst kürzlich verstorben. Da wussten sie natürlich noch nicht, dass ich schon ein paar Jahrhunderte hinter mir hatte.

Ihre Haare sind ja trotz Ihres beachtlichen Alters noch gut erhalten geblieben! Können Sie mir Ihr Geheimnis verraten?

Vielen Dank, ich hab mein Haar zu Lebzeiten gern kurz getragen. Da hatten Läuse und andere kleine Tierchen weniger Chancen sich zu verbreiten. Meinen Bart habe ich eigentlich auch regelmäßig gestutzt. Nur am Tag vor meinem Tod kam ich nicht dazu, daher die Stoppeln. Das Moor hat ein saures Milieu, welches zusammen mit dem sauerstoffarmen Boden dafür sorgt, dass man sich auch nach vielen Jahren gut hält. Dazu gibt es auch noch Gerbsäuren im Moor, die wie beim Leder die Haut gerben. Auch Haare, innere Organe und Kleidung aus Fell oder Leder werden wunderbar konserviert! Die Stoffe im Moor sorgen allerdings auch dafür, dass sich die Haare entfärben und rötlich werden. Ich weiß ja nicht, ob es Ihnen schon aufgefallen ist, aber alle Moorleichen haben rote Haare.

Das ist also nicht Ihre richtige Haarfarbe?

Nein! Wobei ich zugeben muss, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann, wie meine Haare früher ausgesehen haben. Sie müssen verstehen, dass das schon etwas her ist. (lacht) Leider führt der säurehaltige Boden auch dazu, dass sich Knochen, Muskeln und Fettgewebe nicht erhalten. Ich hoffe, Sie können es entschuldigen, wenn ich etwas platt daherkomme.

Was wissen Sie denn über die Methoden, welche die Archäologen für ihre Untersuchungen an Haaren nutzen?

Tja, natürlich bin ich kein Experte. Damals gab es so etwas ja noch nicht. Aber durch meine Zeit im Museum hab ich natürlich einiges aufgeschnappt. Nicht nur bei Untersuchungen an mir, sondern auch in Gesprächen über andere Mumien. Ich hab mich sozusagen weitergebildet. An Haaren kann man zum Beispiel Isotopenanalysen durchführen. Diese Untersuchungen werden meistens an Knochen und Zähnen durchgeführt. Bei Moorleichen wie mir, erhalten die sich aber oft nicht. Isotopen sind Atome vom gleichen Element mit unterschiedlicher Neutronenanzahl. Isotopen sind regional unterschiedlich, dadurch kann man sehen, wo jemand herkommt. Außerdem unterscheiden sich die Isotopen auch je nachdem, was man gegessen oder getrunken hat. Um zu sehen was ich gegessen habe, hat man bei mir aber meinen Mageninhalt analysiert, der war nämlich auch noch erhalten. Aber bei vielen Mumien ist das nicht der Fall, da bieten sich die Haare an.

Was kann man denn noch alles aus Haaren herausfinden?

Bei ein paar Mumien aus San Pedro de Atacama, in Nordchile hat man Nikotin im Haar nachgewiesen. Die haben wohl gerne mal geraucht oder Nikotin geschnüffelt. Haare kann man aber auch anders nutzen. In Australien zum Beispiel wollten Forscher wissen, wie sich der moderne Mensch verbreitet hat und ob es da Vermischungen gab oder nicht. Da haben sie die mtDNA aus einer Haarlocke eines Aborigines des 20. Jahrhunderts extrahiert und mit der DNA von heutigen Menschen und der DNA archaischer Menschen verglichen. Dabei kam heraus, dass die Ureinwohner Australiens vermutlich von einer der ersten Auswanderungswellen der frühen Menschen abstammten, also etwa 50.000 Jahre vor heute!

Gibt es bei solchen Haaranalysen denn auch manchmal Probleme?

Leider ja. Durch die Taphonomie beispielsweise, also alle Prozesse, die ab dem Todeszeitpunkt eines Lebewesens bis zum Auffinden auf es einwirken. Dabei kann es dazu kommen, dass es beschädigt oder chemisch verändert wird. Es kann zum Beispiel Stoffe aus dem Boden aufnehmen und so das Ergebnis verfälschen. Es kommt natürlich immer darauf an, wie sich das Haar erhalten hat. Bei der DNA ist das auch nicht so leicht. Haare sind ja sowieso schon tote Materie, da ist die DNA ohnehin nicht komplett und je länger das Haar gelagert wird, desto kleiner sind die DNA-Fragmente, die man bekommt.

Vielen Dank für das Interview. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag und hoffentlich kommen noch viele Besucher.

Gerne, mit der Zeit schnappt man so einiges auf. Sie können mich immer gerne im Silkeborg Museum besuchen kommen!

 

Wer wissen möchte, wofür Haare in der Wissenschaft noch verwendet werden können, kann sich hier den Beitrag von Angelina über Haare in der Forensik durchlesen. Wem nach Moorleichen jetzt eher der Sinn nach Spuckgeschichten steht, findet auch auf dem Gespensterblog interessante Beiträge!

 

Literaturhinweise:

A. H. Thompson/A. S. Wilson/J. R. Ehleringer, Hair as a geochemical recorder: ancient to modern. In: K. K. Turekian/H. D. Holland (Eds.), Treatise on Geochemistry. Elsevier Vol. 14, 2nd ed., 2012, 371-393.

J. Echeverría/H. M. Niemeyer, Nicotine in the hair of mummies from San Pedro de Atacama (Northern Chile). Journal of Archaeological Science 40, 2013, 3561-3568.

M. Rasmussen/X. Guo/Y. Wang u.a., An Aboriginal Australian Genome Reveals Separate Human Dispersals into Asia, Science 334(6052), 2011, 94-98.

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