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Grüne Käfer, rote Schuhe oder gelbe Blumen. Farben in Träumen faszinieren uns und regen nicht selten zur Traumdeutung an. Aber was ist, wenn wir in Schwarzweiß träumen? Wie das mit unseren Medienerfahrungen zusammenhängen könnte, klärt ein Blick in die ‚Traumfarbforschung‘ der letzten hundert Jahre.  

Ein Kind sitzt auf einem Dreirad. Die Räder quietschen, das Lenkrad wackelt und der Blick nach vorne offenbart eine menschenverlassene Stadt. Unzählige Wolkenkratzer machen ihrem Namen alle Ehre und verschwinden im Grau des Himmels. Die Gassen dazwischen engen auf den ersten Blick ein. Sobald das Dreirad um die Ecke quietscht, breitet sich die Entfernung zwischen den Betonfassaden jedoch ins Unendliche aus. Eine Unendlichkeit von Schwarz-, Weiß- und Grautönen. Kein Fensterrahmen, kein Straßenschild, keine Dreiradpedale in dieser Stadt sind in Farbe getaucht. Alles ist schwarzweiß. An diesen Traum kann ich mich erinnern, seit ich Dreirad fahren kann. Zumindest glaube ich mich daran erinnern zu können. Ein Traum ganz ohne Farbe – kann das überhaupt sein?  

Traum oder Film?

Die Traumforschung ist sich darin einig, dass Sorgen, Tätigkeiten und Erfahrungen aus dem Alltag den Inhalt eines Traums beeinflussen. Meine Dreiradfahrt durch den schwarzweißen Großstadtdschungel erinnert jedoch eher an eine Szene aus einem Film Noir. In der nächsten Sequenz könnte sich ein graugekleideter Ermittler, an eine Betonwand gelehnt, seine Zigarette anzünden. Eine in Schatten getauchte Frau würde derweil in eines der Hochhäuser stöckeln, den Blick des Ermittlers auf ihrem Rücken…

Bereits 1926 sprach der Regisseur René Clair von einer besonderen Nähe zwischen Zuschauer*innen eines Kinofilms und Träumenden, die in den Bann ihres Traums gezogen werden. Der klinische Psychologe Robert Van de Castle beschreibt in seinem Buch Our Dreaming Mind tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Mediennutzung und Trauminhalten. Vor allem emotionale Szenen sollen demnach beeinflussen, welche Geschichten sich nachts in unserem Unterbewusstsein abspielen. Aber auch die formalen Aspekte von Medien scheinen sich in Träumen wiederzufinden. 1961 behauptete der Psychoanalytiker Ángel Garma sogar, Träume seien wie Stummfilme, ohne Ton oder Farbe.

Technicolor-Träume

Können Medien also auch beeinflussen, ob wir in Farbe träumen oder nicht? Die Psychologin Eva Murzyn wollte in einer 2008 veröffentlichten Studie genau diese Frage beantworten. Hintergrund dafür lieferten Unstimmigkeiten, die der Philosoph Eric Schwitzgebel feststellen konnte, als er frühe Traumstudien mit später durchgeführten Erhebungen verglich. Im frühen 20. Jahrhundert waren nicht nur Filme schwarzweiß, sondern auch Träume sollen im Regelfall keine Farben enthalten haben. In einer 1915 durchgeführten Studie träumten nur 20 Prozent der Proband*innen in Farbe. Ebenfalls im Jahr 1915 gründete der US-amerikanische Geschäftsmann Herbert Kalmus das Filmunternehmen Technicolor, welches circa vier Jahrzehnte später den Farbfilm revolutionieren sollte. Nicht ohne Grund nannten Traumforscher*innen Farbträume damals ‚Technicolor-Träume‘.

Während sich heute ganze Webseiten und Bücher der Frage widmen, was bestimmte Farben im Traum zu bedeuten haben, waren all diese Traumfarben in den Fünfzigern nur eins: Symptome einer psychischen Krankheit. Forscher*innen des St. Louis Krankenhauses in Missouri fanden diese bei psychisch erkrankten Patient*innen etwa drei Prozent häufiger als bei anderen Patient*innen des Krankenhauses. Auffällig ist nun, dass sich diese Auffassung in den Sechzigern änderte. In einer Studie von 1962 gaben rund 83 Prozent der Befragten an, in Farbe zu träumen. Parallel zu diesem neuen Farbanstrich der Traumwelt machte aber auch eine ganze Industrie Fortschritte in Richtung Farbe: die Filmindustrie.

Medien als Traumvorbilder

Die Dreistreifenkamera von Technicolor revolutionierte Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts die Filmindustrie. © Marcin Wichary

Die internationalen Kinoleinwände erstrahlten ab den Vierzigern in immer mehr Farben, Ende der Sechziger produzierte die Traumfabrik fast alle Filme in Color. Zudem besaß die Mehrheit aller US-amerikanischen Haushalte 1972 einen Farbfernseher. Farbmedien ersetzten Stück für Stück ihre schwarzweißen Vorgänger. Eva Murzyn stellt in ihrer Studie zwei Ansätze vor, die erklären, wie diese Entwicklung für den Umbruch in der Traumforschung verantwortlich sein könnte: Entweder beeinflussen Medien direkt die Traumform und somit auch die Farbgebung, oder sie beeinflussen lediglich die Annahmen darüber, wie Träume auszusehen haben. Da Träume nur selten im Langzeitgedächtnis gespeichert werden, vergisst man schnell Details zu Form und Inhalt des Geträumten.

Allein die Annahme, dass Träume typischerweise schwarzweiß sind, kann die Wahrnehmung verzerren und eigene Träume im Nachhinein farblos erscheinen lassen. Frühe Dokumentationen zu Träumen legen laut Murzyn nahe, dass Menschen vor dem 20. Jahrhundert mehrheitlich in Farbe träumten. Damals, so argumentiert die Psychologin in ihrer Dissertation, gab es auch noch keine Filme, die als Vorlage zur eigenen Realitäts- und Traumwahrnehmung dienten. Menschen, die hauptsächlich Schwarzweißfilme konsumieren, passen ihr Traumerlebnis also an das mediale Vorbild an. Die Träume erscheinen somit in Retroperspektive farblos.

Die Farben der Kindheit

Und wie kommt es, dass Menschen heute noch behaupten, schwarzweiße Träume zu haben? Eva Murzyn untersuchte in ihrer Studie die Träume von 60 Personen darauf, ob sie diese als grau oder bunt wahrnehmen. Dabei teilte sie die Proband*innen in zwei Gruppen auf: die unter 25-Jährigen und die über 55-Jährigen. Den Traumtagebüchern und Befragungen konnte Murzyn schließlich entnehmen, dass in der jungen Gruppe durchschnittlich nur etwa 4 Prozent der Träume schwarzweiß ausfallen. Die älteren Proband*innen hingegen konnte sie nochmals in zwei Gruppen spalten. Diejenigen, die bereits im Grundschulalter Farbfernsehen konsumierten, träumten zu über 90 Prozent in Farbe. Von den Studienteilnehmenden, die mit Schwarzweißmedien aufwuchsen, behauptete jede*r Vierte noch immer, in Grautönen zu träumen. „Es könnte also eine kritische Periode in der Kindheit geben, in der Filme eine wichtige Rolle dabei spielen, wie unsere Träume aussehen“, mutmaßt Murzyn. 

Der schwarzweiße Großstadttraum aus meiner Kindheit kann also noch immer nicht vollständig erklärt werden. Ich gehöre zweifellos zur Generation Farbfernsehen und träume auch sonst nicht in Grautönen. Aber wer weiß, vielleicht hat das dreiradfahrende Mädchen vor dem Schlafengehen ein paar Blicke auf einen schwarzweißen Krimi erhaschen können. Oder vielleicht verzerrte ein späterer Stummfilmmarathon die Erinnerung an die Fahrt durch den Wald aus Wolkenkratzern. Denn Medien haben eine Wirkung auf die Farbwelt unserer Träume – egal, ob sie sich bereits im Schlaf in Grautönen abspielen oder unser Gedächtnis das Geträumte erst im Nachhinein schwarzweiß einfärbt. 

© Titelbild: Unsplash

 

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Der Hamburger Sportverein e. V. (HSV) ist ein deutscher Fußball-Bundesligist, der ungefähr zur gleichen Zeit entstand, als in England H.P. Lovecraft, das Horrorgenre mit Geschichten über grausige Monster aus den Tiefen des Verstandes, revolutionierte. Ein solches Wesen sollte auch knapp 100 Jahre später den HSV heimsuchen.

Gegründet wurde der Hamburger Sportverein 1919 und durchlief in seiner langen Historie ruhmreiche Zeiten voller Erfolge, großer Titelsiege, steckte aber auch die ein oder andere herbe Niederlage ein. Jedoch gelang es dem HSV als einzige Mannschaft in Deutschland seit der Gründung der Bundesliga im Jahr 1963, bis ins Jahr 2018 am Erstliga-Betrieb teilzunehmen. Das kontinuierliche Bestehen der Hamburger in der ersten Liga brachte ihnen den Spitznamen „Dino“ ein. In ihrem Stadion prangt eine gigantische digitale Uhr, die die Minuten seit der Gründung der Bundesliga mitzählt und somit auch die beharrliche Anwesenheit des HSV in derselbigen.

Doch diese Saison schien etwas anders zu sein. Manch ein Gast des Hamburger Stadions berichtete von kalten Windzügen, seltsamen Geräuschen auf den Tribünen und schlotternden Knien auf dem Platz. Als würde sich ein Schatten über die Arena legen, beginnend, die ewige Uhr des HSV zu umhüllen. Es dauerte nicht lange bis eine Fotografie die Ursache des Phänomens einfangen und dadurch erklären konnte.

quelle: pixabay - das abstiegsgespenst

Das Abstiegsgespenst (Foto: wgbieber, Pixabay)

Das Abstiegsgespenst geistert durch die Medien

Im Mai 2018 stieg der Hamburger SV in die zweite Bundesliga ab. Noch bevor das letzte Saisonspiel ausgetragen worden war, wurde schon von mutmaßlich okkult-agierenden Journalist*innen ein in den Annalen der Bundesliga stets gefürchteter Antagonist beschworen: das Abstiegsgespenst. „Und plötzlich grüßt wieder das Abstiegsgespenst“, titelte Die Welt. Auf RTL-Radio ging ein Joachim-Löw-Imitator in Hamburg auf Abstiegsgespensterjagd. Auf Spox.com geisterte es schon länger durch die Berichterstattung. Der Kicker verpatzte die Beschwörung und verwechselte es mit den Geistern einiger Vereinsikonen aus einem längst vergangenen HSV-Vorfall in Malente. Auch Der Spiegel hatte seine Probleme und meinte noch im März 2018 eher den Teamgeist zu sehen anstelle des Abstiegsgespenstes. Doch hätte man sich in Hamburg nicht wundern sollen, als man das Gespenst um die Köpfe von Fans und Verantwortlichen huschen sah. Denn das ZDF hatte schon Wochen zuvor berichtet: „Stuttgart vertreibt das Abstiegsgespenst.“ Und irgendwo musste es ja hin.

Aber wo kam es her?

Zum ersten Mal erschien das Abstiegsgespenst in einer englischen Karikatur aus dem Jahr 1906. Zu sehen ist der Fußballer Alfred Common, der für eine damals furchteinflößende Summe von 1000. Pfund Sterling von Ligakonkurrent Middlesbrough zu Sunderland wechselte. Davor sollte wohl auch das Abstiegsgespenst Angst haben. Auf der Zeichnung schützt Common seinen neuen Verein, der in Form einer scheuen jungen Frau verkörpert wird, vor einem Gespenst, das die gefürchtete zweite Liga repräsentiert. Noch bis heute jagt den Fußballinteressierten das Gespenst auf dieselbe Art Angst ein. Es kommt schleichend und will einen hinab zerren in die chaotischen Tiefen der unteren Ligen. Wo das Fegefeuer sportlichen Misserfolges wartet und man droht, für immer seinen Platz an der Sonne zu verlieren. Tatsächlich verblieb Middlesbrough in der Premier League und konnte dem Spuk vorerst ein Ende setzen. Common war es dann auch, der den ersten Schritt des Exorzismus einleitete, als er direkt bei seinem Debüt einen unscheinbaren Elfmeter in einen 1:0-Siegtreffer verwandelte. Das effektivste Gegenmittel bei Abstiegsgespensterbefall.

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„Who you gonna call?“ Alfred Common! (Foto: Wikipedia,COM:TAG {{PD-US}})

Fußball und das Spirituelle

Doch existiert das Abstiegsgespenst nicht nur als Hirngespinst geistreicher Journalist*innen. Denn was das Übernatürliche betrifft, ist das Abstiegsgespenst im Fußball in guter Gesellschaft. Fußball wird von Kulturwissenschaftlern*innen und Philosophen*innen schon länger als Art der Ersatzreligion oder Zusatzreligion angesehen und strotzt nur so vor Heiligen, Fußballgöttern und Geistern. Der australische Soziologe Harry Edwards („Sociology of Sport“, 1973) spricht gar davon, Fußball als Super-Religion zu bezeichnen. Ob Fußball Religion ist, steht natürlich zur Diskussion. Aber genau wie Jagd, Krieg, Bürokratie oder auch Formen des Musikkonsums, so kann auch Fußball als Kult beschrieben werden. Der Schritt vom Kult zur Religion ist dann wiederum ein kurzer. Versteht man Religion als die Öffnung einer transzendentalen Welt und Möglichkeit zur Suche nach Bedeutung und Sinn, dann erfüllt der Fußball eigentlich alle Kriterien.

Er öffnet damit aber auch seinen Anhänger*innen die Tür zu einer Geisterwelt. Mal treten die Geister verstorbener Vereinshelden hindurch und setzen sich jungen Spieler*innen belastend auf die Schultern. Oft werden Geister bewusst beschworen zur Unterstützung der eigenen Mannschaft oder zum Leid der gegnerischen. Gerne wird der Fußball aber auch von den Geistern heimgesucht, die er selber gerufen hat. Beispielsweise in Form von geldgierigen Spielerberater*innen und aggressiven Poltergeistern, die auf den Tribünen schwarz vermummt ganze Stadien in dunkle Rauchschwaden einhüllen. Legenden zufolge sind die dunklen Poltergeister meist Vorboten des Abstiegsgespensts. Wo sie gesehen werden folgen meist schon wenig später die ersten Fans, die verkleidet vor der Ankunft des eigentlichen Gespenstes warnen.  So entpuppt sich das Abstiegsgespenst am Ende als die Manifestation der eigenen Angst der Fußballfans. Aber wie schon H.P. Lovecraft sagte: „Selbst bei den größten Ungeheuerlichkeiten ist die Ironie selten abwesend.“