Träume und Traumwelten haben für die Ureinwohner*innen Amerikas eine besondere Bedeutung – etwa als Mittel, um Weisheiten und Orientierungshilfe im Leben zu erlangen. Native Americans messen Botschaften, die ihnen im Schlaf zugesandt werden, große Wertschätzung bei. Diese werden Vorfahren oder Geistern der Traumwelt zugeschrieben und haben die Funktion, die Träumer*innen vor etwas zu warnen oder bei einer schwierigen Entscheidung zu helfen.  

Den Ureinwohner*innen Amerikas nach ist es die Seele, die träumt, und nicht das Gehirn. Denn im Schlaf kommuniziert die eigene Seele mit anderen Geistern der Traumwelt, die deren Wissen an die Träumenden weitergeben. Aber warum ist es gerade die Seele, die diese Erfahrungen macht? In ihren Vorstellungen wird der menschliche Körper von verschiedenen Seelen angetrieben und gesteuert. Die Ansichten darüber, wie viele Seelen ein Körper beherbergt, gehen allerdings auseinander. So nehmen die Narrangansett, angesiedelt im US-Bundesstaat Rhode Island, beispielsweise an, dass es zwei Seelen gibt: eine, die den Körper antreibt, und eine, die den Körper verlassen und andere Welten besuchen kann. Dies kann im Schlaf, im Koma oder in Trance geschehen. Dahingegen glauben die in Idaho lebenden Shoshonen daran, dass es drei Seelen gibt. Zusätzlich zu den zwei Seelen, die für die Lebenskraft und das Träumen verantwortlich sind, bewegt die dritte Seele den Körper, wenn der Mensch bei Bewusstsein ist.  

Traumwelten offenbaren Menschen mehr Möglichkeiten, Lebensweisheiten zu erlernen oder Rat in schwierigen Lebenssituationen zu erhalten. In vielen Fällen warnen die Geister vor bevorstehenden Problemen oder ermutigen die Träumenden bei ihren Vorhaben. Als solches bilden sie eine wichtige Quelle der Unterstützung für die Menschen. 

Vom Körper zur Traumwelt

Grauer Wolf

Der Wolf im Traum – ein Zeichen des Schutzes? © Jean Beaufort

Gemäß den Native Americans verlässt die Seele den Körper im Schlaf und bewegt sich zwischen Traumwelten. Hier lernt sie und kann Kontakt mit anderen Seelen oder Geistern aufnehmen. Im weit verbreiteten Glauben des Schamanismus, den auch die Ureinwohner*innen praktizieren, sind alle Dinge mit einem Geist verbunden: Pflanzen, Tiere und auch die Naturgewalten. Vor allem Tiere sind für die Traumdeutung wichtig, denn jeder Mensch wird in seinem Leben von Totemtieren, mit denen nur in Träumen kommuniziert werden kann, begleitet. Jedes Tier hat eine Bedeutung und wird mit verschiedenen Prophezeiungen und Eigenschaften assoziiert, daher können die Begleittiere jederzeit wechseln und ersetzt werden. Man sollte allerdings die Assoziationen der Tiere genau kennen, um Warnungen zu verstehen, die manche Tiere verkörpern. 

Obwohl die Tiere nur nonverbal kommunizieren können, teilen sie ihr Wissen und lehren den Träumenden Dinge über sich selbst, die möglicherweise im Unterbewusstsein verborgen sind. Die Eigenschaften oder Fähigkeiten, die die Tiere verkörpern, sollen erlernt werden, um das eigene Leben zu bereichern. Wie man das Erscheinen der Tiere in den eigenen Träumen interpretiert, obliegt einem selbst. Die Deutung ist für jeden Menschen individuell und mit deren eigenen Erfahrungen und Auffassungen verbunden. So bedeuten Wölfe für manche Schutz und für manch anderen bedeuten Bären Stärke. Aus diesem Grund ist es schwer, allgemeingültige Deutungen auszusprechen und Ratschläge zu geben.

Kommunikation mit Verstorbenen

Neben diesen Geistern können auch Vorfahren mit den Träumenden Kontakt aufnehmen und ihnen Rat zukommen lassen. Ist man in diesen Praktiken mehr bewandert, kann man auch selbst Kontakt aufnehmen. Wie Ratschläge der Geister und Ahnen interpretiert werden, kommt ganz auf die Träumenden selbst an. Kommt man zu keiner zufriedenstellenden Interpretation oder versteht diese nicht, wird dann oft der Schamane des Stammes zu Rate gezogen.

Als Wissensträger*innen des Stammes sind sie dafür zuständig, den Mitgliedern zu helfen, da sie bewusst Traumwelten betreten können und – anders als normale Träumende – ihre Träume auch zu steuern vermögen. Sie können mit den Geistern zusammenarbeiten und weitere Weisheiten anfordern, um ihrem Stamm zu helfen. Es wird bewusst mit diesen Geistern zusammengearbeitet, da die Native Americans glauben, dass diese sie ein Leben lang begleiten und sie nicht nur bei Kräften und voller Gesundheit halten, sondern auch als Wegweiser dienen. 

Ist es an der Zeit, dass man aufwacht, werden die Seelen wieder miteinander verbunden und der Mensch kehrt zum Bewusstsein und zur Realität zurück. 

Die verlorene Seele

Manchmal findet eine Seele nach ihrer Reise nicht mehr zum Körper zurück. Das geschieht vor allem dann, wenn der/die Träumer*in zu diesem Zeitpunkt unter besonders viel Stress leidet und daher geschwächt ist. Die Seele ist in der Traumwelt gefangen und kann nicht ohne Hilfe wieder zurückkommen. Durch diesen sogenannten Seelenverlust wird der menschliche Körper daraufhin krank.

Das Gemälde George Catlins (1796–1872) zeigt einen Schamanen der Native Americans. © Wellcome Collection

Da die Seele dann Hilfe benötigt, kommen wieder Schamanen ins Spiel. Da sie eng mit den Geistern der Traumwelten zusammenarbeiten, fungieren sie auch als Heiler*innen und können neben den Medikamenten, die sie ihren Patient*innen verabreichen, sich auch selbst auf die Suche nach der verlorenen Seele begeben. Durch einen Trancezustand oder Halluzinationen können die Schamanen die Traumwelt sofort betreten. Mithilfe der Geister und ihrem eigenen Vorwissen können sie die Seele wieder mit dem Körper der erkrankten Person vereinen und sie so von ihrer Krankheit befreien. Ist eine Seele zu lange von ihrem Körper getrennt, kann es zu schwerwiegenden Krankheiten, die auch zum Tode führen können, kommen. 

Wie Träume interpretiert werden, obliegt letzten Endes den Träumenden selbst. Die Bedeutungen und Assoziationen der Tiere, die Ratschläge von Ahnen sowie die Interpretationshilfe der Schamanen sind letzten Endes eine Hilfestellung, die auf den eigenen und individuellen Erfahrungen der Personen aufbauen. Entscheidend ist: Träume helfen den Personen schwierige Entscheidungen zu treffen und Dinge in ihrem täglichen Leben zu verarbeiten. 

 

Ihr habt noch nicht genug von unseren Traum-haften Beiträgen? Dann folgt uns für einen Blick hinter die Kulissen, spannende Fun-Facts oder Musik-Inspirationen auf Instagram und Twitter!

Mehr zum Thema und weitere interessante Beiträge findet ihr außerdem hier – oder abonniert unseren Newsletter!

Kopf mit bunter Wolke Träume

Vor dem Schlaf wird der Schlaftracker-Ring angesteckt und die Smartwatch umgebunden. Das Handy liegt neben das Kopfkissen, um vielleicht aufzunehmen, wenn man im Traum etwas spricht. Wohin führt dieser Gedanke einer immerwährenden Effizienz? Warum möchte der Mensch alles kontrollieren, auch das Unterbewusstsein? 

Rund 24 Jahre und 4 Monate schlafen die Deutschen im Durchschnitt in ihrem Leben. Wäre ja zu schade, wenn diese Zeit nicht auch sinnvoll genutzt werden könnte. Schließlich ist der eigentliche Sinn einer Ruhepause mit dem Ziel der Selbstoptimierung kaum vereinbar. Oder? Während des Schlafes zu lernen, sich zu bessern und den Trauminhalt zu kontrollieren, wird uns durch immer mehr und immer handlichere Gadgets erleichtert. Etwa durch einen Tracking-Ring, der beispielsweise die Körpertemperatur und den Blutdruck misst, während wir schlafen.

Der homo oeconomicus strebt nach Fortschritt und Zukunft und ist wenig präsent in der Gegenwart, so der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht. Er erörtert in seinem Essay Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens die Beziehung zwischen Mensch und technologischem Fortschritt und die Potenziale der Selbstoptimierung. Precht beschreibt in diesem Zuge die transhumanistische Ideologie. Auch Wissenschaftler wie Yuval Harari und Nick Bostrom beschäftigen sich mit dieser Idee eines ‚transhumans‘: einem Menschen, der die Spezie des homo sapiens technologisch und biologisch überholt und sogar versucht, unsterblich zu werden.

Der gegenwärtige Preis der Zukunftsorientierung

Schlaftracker messen, ob die REM-Phase eingetreten ist und die Schlafqualität verbessert wird. Vokabel-Apps helfen dabei, unterbewusst Sprachen zu trainieren. Und mit Naturklängen untermalt soll der Mensch das luzide Träumen erlernen, um auch noch Kontrolle über sein Unterbewusstsein zu erlangen. Sich selbst einen Schritt voraus zu sein und jede Minute des Tages und der Nacht zu nutzen, lautet die Devise. Wer sich zufrieden schlafen legt, keinen Drang nach Besserung spürt, hindere nach trans-und posthumaner Sicht den Fortschritt. Precht hinterfragt diese Denkweise und schreibt:

„Wenn die wahre Bestimmung des Menschen stets in einer imaginären Zukunft liegt, bleibt die Gegenwart stets beschädigt zurück.“

Janina Loh ist Philosophin und als Universitätsassistentin (PostDoc) im Bereich Technik- und Medienphilosophie an der Universität Wien tätig  © Carolina Frank (janinaloh.de)

In diesem Zuge spricht Precht von der Konzentration auf die Masse, anstatt auf das Individuum, einer Art ‚Selbstentsinnung‘ und verweist auf die Philosophin und Universitätsassistentin der Universität Wien Janina Loh. Diese erläutert im schriftlichen Interview mit Zwischenbetrachtung die Begriffe ‚Selbstvernutzung‘ und ‚Selbstentsinnung‘: „Der Begriff der ‚Selbstvernutzung‘ klingt für mich danach, sich selbst zu einem Nutzen zu machen, aus sich selbst einen Nutzen zu machen beziehungsweise zu ziehen. Das passt insofern zu den besagten Apps zur Schlafmessung und Traumsteuerung, als damit ja garantiert werden soll, jede Facette des menschlichen Daseins möglichst effizient auszubeuten. Im Traum Vokabeln lernen zu wollen, beziehungsweise anzunehmen, dass das sinnvoll sei, suggeriert, dass schlafen und träumen Leerphasen sind, zu nichts nutze eben und deshalb von uns mit einem Nutzen belegt werden können und vermutlich auch sollen.“

Hier entsteht die Paradoxie in der Vorstellung, Schlaf sei nutz- und sinnlos, wenn er nicht mit Kontrolle und Beschäftigung gefüllt werde. Laut Loh ist das ein Trugschluss: „Daraus könnte aber am Ende nicht mehr Nutzen (mehr Fortschritt, mehr Lernen, mehr Weiterentwicklung, insgesamt ein Mehr) folgen, sondern umgekehrt gerade die ‚Selbstentsinnung‘ – ein Umkippen des ständig akkumulierten Nutzens in die Sinnentleerung und Nutzlosigkeit. Denn natürlich sind Schlaf und Traum nicht nutzlos, sondern wichtige Phasen der Regeneration und der schöpferischen, kreativen Kraft in uns. Sie gerade – so könnten wir behaupten – ermöglichen uns am Tag ein Vokabeln lernen oder überhaupt ein Entscheiden darüber, welchen Tätigkeiten wir in unserem Alltag einen Nutzen zuschreiben möchten.“ So ergibt sich nach Loh ein Teufelskreis:

„Nehmen wir uns diese Zeiten, indem wir nach mehr Nutzen streben, verlieren wir letztlich die Fähigkeit, Nutzen zu erkennen und zuzuschreiben selbst.“

Daten und Zahlen – das neue Fleisch und Blut

Wir nutzen Apps, die unsere eigene Stimme aufzeichnen, während wir etwas im Traum sagen und genauestens wissen, wann wir geträumt haben müssen und wir halten direkt danach in der Notizapp unsere Trauminhalte fest. So kategorisieren wir unser Innerstes, ordnen es ein mit der Motivation einer vermeintlichen Selbstverbesserung. Die Vermessung des Selbst gewissermaßen. Die Bewegung der Selbstvermesser hat einen Namen: das Quantified-Self-Movement, welche aus jeder Körperfunktionalität Daten erfassen, um sich zu optimieren. Janina Loh stellt die Potenziale der Nutzung von Technologien etwa zu medizinischen und therapeutischen Zwecken nicht in Frage, sondern hinterfragt viel mehr, was mit dem Kern des Individuums in diesem Prozess passiert: „Menschen werden seit der Moderne und Aufklärung für komplexe Maschinen gehalten, deren ‚Code‘ (als eine Sammlung an Daten und Informationen) mit einiger Übung und den richtigen Methoden irgendwann entschlüsselt werden kann. Es handelt sich hierbei um eine reduktionistische Sicht auf die Menschen, die nicht besser ist als andere Reduktionismen – etwa in der Biologie, wo vielleicht Menschen eine sehr spezifische Konstellation von Genen darstellen. Das Problem dabei ist, dass dort, wo behauptet wird, alles (für diesen Kontext) Wichtige am Menschen ließe sich in Zahlen und Informationen ausdrücken, Dinge schlicht nicht gesehen werden, die nicht in Daten erfasst werden können.“ Was bedeutet das für die Zukunft?

Apps, wie Sleep-Tracker helfen den Körper zu vermessen @ Unsplash

„Denken wir die Annahme der Quantified-Self-Bewegung konsequent weiter, könnte daraus folgen, dass wir irgendwann verlernen, irgendwas an uns zu sehen und als relevant einzustufen, das sich nicht in Zahlen, Daten und Informationen ausdrücken lässt. Es handelt sich dabei sozusagen um eine self-fulfilling prophecy, um eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.“

Janina Loh beschreibt das paradoxe Verhältnis zwischen Nutzen und Streben nach Optimierung. Sie warnt davor, den eigentlichen Nutzen der Erholung durch andere Parameter zu ersetzen. Wie wir unseren Schlaf nutzen wollen, unsere Trauminhalte kontrollieren und kategorisieren wollen, bleibt uns überlassen. Wie wir uns als Mittel zum Zweck sehen und uns so selber dienen müssen, auch. Denn Schlaf darf auch mal Schlaf bleiben. Und Ruhe Ruhe bedeuten. Wenn unser Bewusstsein pausiert, verlieren wir Tiefe und regenerieren uns nicht. Daher könnte es nicht schaden, die Kontrolle der Zukunft einfach mal aufzugeben, um die Kontrolle der Gegenwart zurückzugewinnen.

Titelbild: © Unsplash 

 

Ihr habt noch nicht genug von unseren Traum-haften Beiträgen? Dann folgt uns für einen Blick hinter die Kulissen, spannende Fun-Facts oder Musik-Inspirationen auf Instagram und Twitter! 

Mehr zum Thema und weitere interessante Beiträge findet ihr außerdem hier – oder abonniert unseren Newsletter! 

Kopf mit bunter Wolke Träume

Was würdest du tun, wenn all deine Träume Wirklichkeit werden könnten? Ein bizarrer Trend auf TikTok verspricht genau das: Selbsternannte ‚Reality Shifter*innen‘ behaupten, dass sie die eigene Seele im Schlaf in eine gewünschte Paralleldimension versetzen können, ganz egal, wie diese aussieht. Auch fiktionale Welten seien möglich. Besonders beliebt ist das Zauber*innen-Internat Hogwarts aus der Harry Potter-Reihe. Was ist dran, und könnte der Trend sogar gefährlich sein?

Egal ob Romane, Filme oder sogar alte Legenden: Viele Leute lieben es, fiktionale Welten in verschiedensten Formen zu erleben. Eine der schönsten Seiten der Fantasie ist schließlich, dass in ihr alles möglich ist. Denn sie ist nicht real, man kann sie zwar in der Vorstellung, aber niemals in der Realität erreichen… Oder etwa doch? Ein Trend auf der sozialen Medienplattform TikTok behauptet, man könnte in andere Welten eintauchen und in ihnen leben. Eine junge Frau erzählt auf der Plattform zum Beispiel ihrer Hunderttausende zählenden Zuschauerschaft allen Ernstes von ihren Erlebnissen in Hogwarts: In ihrem Traum sei sie die Freundin des Harry Potter-Charakters Draco Malfoy gewesen.

Mit solchen Inhalten ist sie nicht allein. Hashtags wie #desiredreality oder #shiftingrealities erreichen Millionen Nutzer*innen auf der Plattform. Der Besuch in Hogwarts oder jeder anderen fiktionalen Welt soll durch das sogenannte ‚Reality Shifting‘ möglich sein. Das Prinzip ist auf den ersten Blick simpel: Man stellt sich beim Einschlafen die gewünschte Realität möglichst genau vor. Wenn alles glatt läuft, so die Überzeugung, verlässt die Seele den eigenen Körper und übernimmt das Ich der jeweils gewünschten Realität. Dort könnte man dann permanent bleiben, wenn man denn wollte. Diese ‚Desired Reality‘ muss sich jedoch nicht auf fiktionale Welten beschränken. Auch die ’normale Welt‘ mit Änderungen wie dem eigenen Aussehen, Job oder Fähigkeiten ist ein mögliches Ziel.

Countdown ins Paralleluniversum

Die Reality Shifter*innen erklären das unmöglich Erscheinende wie folgt: Sie glauben an die Existenz von unendlich vielen Paralleluniversen. Shifter*innen berufen sich hierbei auf existierende Theorien der Metaphysik, nach welchen die Existenz von verschiedenen Dimensionen denkbar ist. Diese entstünden dadurch, dass sich die Realität bei jeder unserer Entscheidungen spaltet und mehrere Paralleldimensionen zurücklässt. Entscheide ich mich beispielsweise dafür, zum Frühstück Brot zu essen, entsteht eine Paralleldimension, in der ich stattdessen Müsli esse. Daher nehmen die Reality Shifter*innen an, dass für jede Situation, die man sich wünschen kann, eine passende Paralleldimension existiert, sei diese fiktional oder nicht-fiktional.

Screenshot eines von unzähligen TikTok-Posts, der eine mögliche Methode für einen Reality-Shift erklären soll.

Um also nicht in irgendeine, sondern in die gewünschte Realität zu kommen, schreiben die Realitätswechsler ihre Wünsche sehr genau auf, ins sogenannte Skript. Hierzu findet man auf TikTok zahlreiche Anleitungen und Versionen. Die Shifter*innen haben vollkommene Freiheit, was ihre Wünsche betrifft: Reichtum, Aussehen, übernatürliche Fähigkeiten, sogar die Welt selbst – alles kann nach den eigenen Wünschen gestaltet werden. Anschließend bedienen sie sich einer der vielen ‚Shifting Methods‘. Genau wie zur Erstellung des Skripts gibt es hierzu eine Vielzahl an Anleitungen auf der Plattform. Alle Methoden haben gemeinsam, dass sie beim Einschlafen angewandt werden sollen. Nutzer*innen stellen sich dabei ihre gewünschte Realität vor und wiederholen dann mantraartig Sätze wie „I’m gonna shift“ oder zählen rückwärts, bis sie einschlafen. Im Schlaf vollziehe sich dann der eigentliche ‚Shift‘. TikTok-Nutzer*innen berichten von Träumen ihrer gewünschten Realität, die sich zu real angefühlt hätten, um wirklich Träume zu sein.

Eine lückenhafte Logik

Manche Verfechter*innen des Trends behaupten, dass sie bereits die Realität gewechselt haben. Man könnte sich nun zu Recht fragen, wie es möglich ist, dass sie dann wieder hier sind, um davon zu berichten, da der Realitätswechsel ja potenziell permanent sein soll. Aber auch darauf haben sie eine Antwort: Bei jedem Realitätswechsel ließen die Shifter*innen einen vollständigen Klon von sich zurück. Wenn man nun zumindest so weit mitgeht und die bloße Existenz von Paralleldimensionen und Seelen erst einmal nicht infrage stellt, wirft das wiederum folgende Frage auf: Wenn meine Seele erfolgreich den Körper einer anderen Version von mir in einer anderen Dimension übernimmt, was passiert dann mit der Seele, die ich so aus meinem anderen Ich verdrängt habe? In den Körper der ursprünglichen Realität kann sie schließlich nicht zurück, da ich ja einen perfekten Klon von mir zurückgelassen habe. Diese und weitere Unstimmigkeiten halten die Nutzer*innen jedoch nicht davon ab, es weiter zu versuchen. Allerdings haben viele Reality Shifter*innen trotz aller Theorie Schwierigkeiten mit der tatsächlichen Umsetzung, weswegen es auch so viele verschiedene Anleitungen und Methoden gibt. Jene, die behaupten, es bereits geschafft zu haben, scheinen auch in der Community als etwas Besonderes betrachtet zu werden.

Was hat es wirklich damit auf sich?

Die Existenz von Paralleluniversen ist in einigen Theorien der Metaphysik zwar prinzipiell denkbar, jedoch lässt sich das Phänomen des Reality Shifts dadurch nicht erklären. Insbesondere die Behauptung, man könne seine Seele in andere Dimensionen schicken, hat mit den methaphysischen Theorien nicht mehr viel zu tun. Ein tatsächlicher Wechsel der Shifter*innen in eine andere Dimension erfolgt also höchst wahrscheinlich nicht. Trotzdem gibt es mögliche Erklärungsansätze, warum Nutzer*innen tatsächlich von ihrer gewünschten Realität träumen. Die Therapeutin Grace Warwick erklärte in einem Interview mit Vice, dass es sich bei ‚Reality Shifting‘ um eine transliminale Erfahrung handele. Die verschiedenen Methoden des Reality Shifting auf sozialen Medien nutzten alle den halbwachen Zustand vor dem Einschlafen als Ausgangspunkt, da der Geist dann in einem empfänglicheren Zustand ist. Von da an erfolgen meditative oder hypnotisierende Handlungen wie Rückwärtszählen, was diesen Effekt verstärkt. Die Nutzer*innen bringen sich also selbst in eine Art Traumzustand. Durch die starke Fixierung und Konzentration auf den gewünschten Zustand vor dem Einschlafen bildet der Traum diesen Zustand dann vermutlich nicht selten ab. Wissenschaftliche Untersuchungen des Phänomens gibt es bisher noch nicht, jedoch wäre eine Ähnlichkeit zu anderen Traumzuständen denkbar: Auch in luziden Träumen und Traumreisen kann man seine Erlebnisse nach den eigenen Vorstellungen beeinflussen.

Ist also alles harmlose Träumerei?

Die meisten Reality Shifter*innen berichten von positiven Erfahrungen, aber der Trend ist trotzdem nicht ganz ungefährlich: Therapeutin Warwick warnt davor, dass es im verletzlichen psychischen Zustand zu Angstzuständen oder zu ungewollten Realitätswechseln außerhalb der geplanten Sitzungen kommen kann. In diesen Fällen sollten Betroffene psychotherapeutische Unterstützung suchen. Außerdem handelt es sich bei den meisten Anhänger*innen des Trends um Kinder und Jugendliche, welche solche Gefahren weniger einschätzen können. Darüber hinaus gibt es sogar innerhalb der Reality-Shifting-Community Stimmen, die behaupten, dass viele Influencer*innen und User*innen dem Trend nur folgen, weil sie sich davon größere Reichweiten versprechen. Es ist also fraglich, wie viele Nutzer*innen tatsächlich Traumerlebnisse hatten, und wer den Trend nur für sich ausnutzt.

Beitragsbild: © Pixabay

Post: © TikTok @maskedshifter

Ihr habt noch nicht genug von unseren Traum-haften Beiträgen? Dann folgt uns für einen Blick hinter die Kulissen, spannende Fun-Facts oder Musik-Inspirationen auf Instagram und Twitter! 

Mehr zum Thema und weitere interessante Beiträge findet ihr außerdem hier – oder abonniert unseren Newsletter! 

Kopf mit bunter Wolke Träume

Wir verwenden das Substantiv ‚Traum‘ heute in vielen Situationen: Wir erzählen von einem schlechten Traum in der Nacht oder von unserem Lebenstraum. Wir verwenden das Adjektiv ‚traumhaft‘, um auszudrücken, wie unbeschreiblich schön etwas ist. Aber dabei ist den meisten von uns nicht bewusst, woher das Wort ‚Traum‘ eigentlich kommt, welche Bedeutung es früher hatte und wie es sich entwickelt hat.

Die ersten Überlieferungen des Wortes ‚Traum‘ stammen aus den frühen indoeuropäischen Sprachen, welche Vorstufen des Deutschen sind. Zu den indoeuropäischen Einzelsprachen gehören zum Beispiel Altindisch (ab 1200 v. Chr.) oder Altgriechisch (ab 800 v. Chr.). Wie der Sprachwissenschaftler Gunthard Müller in einem Handbuch-Artikel über Sprachgeschichte und Semantik erklärt, ist einer der ältesten überlieferten Begriffe für Schlaf im altgriechischen Wortpaar ὄναρ τε καὶ ὕπαρ (ónar te kaì hýpar) enthalten: Es bedeutet ‚Schlafen und Wachen‘, kann aber auch ‚Nacht und Tag‘ oder ‚Traum und Realität‘ bedeuten. Dabei lautet die Grundbedeutung von ὄναρ etwa ‚unten liegen‘; die von ὕπαρ ‚auf sein‘. Tatsächlich finden wir diese Bedeutungen auch in unserer heutigen Sprache noch. So sprechen wir davon, ‚auf zu sein‘, wenn wir wach sind. Genauso sagen wir: ‚Ich lege mich hin‘, wenn wir schlafen gehen. Im Indoeuropäischen wurden Begriffe nach dem Konkreten gebildet, das heißt Phänomene wurden so benannt, wie sie in der Realität sichtbar waren.

Kein eigenes Wort für Träume

Da man Träume nicht beobachten kann, gab es in den frühindoeuropäischen Sprachen vorerst keinen eigenen Begriff für Traum. Es gab nur Begriffe für Schlaf, die auch Traum meinen konnten: Denn ‚unten liegen‘ bzw. Schlafen konnte beobachtet werden. Daraus schließt Gunthard Müller, dass Träume in der frühindoeuropäischen Kultur nur im Zusammenhang mit Schlaf betrachtet wurden und ihnen keine eigene Bedeutung zukam, die von der des Schlafs losgelöst war. Im Indoeuropäischen waren Begriffe für ‚unten‘ eher mit etwas Schlechtem verbunden, sodass auch die verwandten Wörter für Schlaf und Traum negativ konnotiert waren: Schlaf galt als Schwäche und Traum als Zustand der Inaktivität. Ein Traum war etwas, das in Menschen passierte, wenn sie ‚unten liegen‘. Dass dem Traum im Indoeuropäischen keine wesentliche Bedeutung zukam, kann man auch daran sehen, dass das Traum-Motiv in der Literatur nur sehr selten behandelt wurde. Und wenn es vorkam, dann in einem negativen Kontext.

Der altindische Text ‚Rigveda‘ kennt nur den Begriff des Alptraums. © Wikimedia Commons

So führt beispielsweise ein früher indoeuropäischer Text, der altindische Rigveda (ca. 1700–1100 v. Chr.), das Wort ‚Traum‘ nur in Verbindung mit einer negativen Vorsilbe auf, sodass es etwa mit ’schlechter Traum‘ übersetzt werden kann. Es kommt im Kontext von Abendgebeten im Rigveda vor, in denen die Menschen ihre Gottheit(en) bitten, sie vor ’schlechten Träumen‘ – vor Alpträumen – zu bewahren.

Träume als trügende Bilder

Im Althochdeutschen lautete das Wort für Traum troum. Es leitet sich vom germanischen Begriff *drauma- ab, der wiederum auf das indoeuropäische *drauǥma- zurückgeht, was so viel wie ‚Trugbild‘ oder ’nicht wirkliches/reales Bild‘ bedeutet. Bei dem germanischen Wort *drauma- muss man unwillkürlich an unseren heutigen Begriff ‚Trauma‘ denken. Im E-Mail-Interview mit Zwischenbetrachtung beantwortet die Germanistin Elisabeth De Felip-Jaud von der Universität Innsbruck die Frage, ob eine Verbindung zwischen den beiden Begriffen besteht, so: „Sprachetymologisch gibt es keine Verbindung zum heutigen Wort ‚Trauma‘, welches aus dem Griechischen τραῦμα kommt und ‚Wunde‘ bedeutet. Das Wort ‚Trauma‘ wird in der Medizin (Schädel-Hirn-Trauma) und auch in der Psychologie (seelischer Schock) verwendet. Gemeinsam haben die beiden Phänomene wohl, dass ‚Gedächtnis‘ und ‚Erinnerung‘ eine zentrale Rolle spielen. Das Wort ‚Trauma‘ ist erst im 19. Jahrhundert ins Deutsche übernommen worden.“

Nach dem etymologischen Wörterbuch von Wolfgang Pfeifer leitet sich aus dem indoeuropäischen Begriff *drauǥma- nicht nur das germanische Wort *drauma- ab, aus dem unser heutiges Wort ‚Traum‘ wurde. Aus *drauǥma- ist außerdem das indoeuropäische Wort *dhreugh- (‚trügen‘ oder ‚listig schädigen‘) hervorgegangen. Dieses hat sich weiterentwickelt zum althochdeutschen Wort triogan, zum mittelhochdeutschen triegen und schlussendlich zum heutigen Begriff ‚trügen‘.

„Wer sich Träumen zukehrt, der ist wohl genarrt“

Das mittelhochdeutsche Wort troum bedeutet zum einen ‚Traum‘, zum anderen aber auch ‚Täuschung‘ und ‚Verstellung‘. Auf die Fragen, ob Träume zu dieser Zeit als Täuschung betrachtet wurden und welche Rolle Träume im Leben der Menschen spielten, antwortet Elisabeth De Felip-Jaud, dass diese Fragen für das Mittelalter schwer zu beantworten sind: „Wir wissen leider nicht Bescheid, welche Rolle Träume generell im Leben der Menschen damals spielten. Wir haben zwar Reflexe in der Literatur, wie z.B. im Artusroman Iwein, in Parzival oder bei Walther von der Vogelweide. Aber das ist bereits wieder gebildete Stilisierung durch einen Autor.“ So weist Gunthard Müller darauf hin, dass beispielsweise Hartmann von Aue im 12. Jahrhundert in seinem Iwein schreibt: „swer sich an tröume kêret, der ist wol genêret“, was bedeutet: „Wer sich Träumen zukehrt, der ist wohl genarrt“. Elisabeth De Felip-Jaud erklärt weiter: „Aber da man sich vermutlich im Mittelalter das Entstehen von Träumen noch nicht erklären konnte, sah man Träume wohl auch als Täuschungen, Wirrungen etc. an.“ Aber eben nicht nur: Nach dem Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm glaubten die Menschen „in alter Zeit“ auch schon fest an die Erfüllung eines Traumes, wodurch der Traum eine wichtige Rolle für die Wirklichkeit einnahm.

Die Erfüllung geheimer Wünsche

Das mittelhochdeutsche Wort troum entwickelte sich weiter zu frühneuhochdeutsch troum/traum und dann zu unserem heutigen ‚Traum‘. In der Sprachwissenschaft, so erklärt Elisabeth De Felip-Jaud, spricht man hier von einer Diphthongöffnung, bei der unter dem Einfluss bairischer und schwäbischer Dialekte ‚ou‘ in ‚troum‘ zu ‚au‘ wird. So entstand das Wort ‚Traum‘.

Heute kann ein Traum eine Geschichte oder ein Erlebnis sein, das uns im Schlaf erscheint. Oder ein ’sehnlicher, unerfüllter Wunsch‘, ‚etwas traumhaft Schönes‘ oder eine ‚Sache, die wie die Erfüllung geheimer Wünsche erscheint‘. So wird das Wort ‚Traum‘ im Duden definiert. Wir verbinden mit dem Wort ‚Traum‘ also häufig etwas Positives und Schönes: So setzen wir ‚Traum-‚ nicht selten vor andere Substantive, um auszudrücken, wie perfekt und ideal etwas ist und unseren Wünschen vollkommen entspricht, wie zum Beispiel ‚Traummann‘, ‚Traumjob‘ oder ‚Traumauto‘. Aber auch negative Bedeutungen können mit dem Wort ‚Traum‘ einhergehen, wenn beispielsweise ‚Traum‘ im Sinne von ‚Illusion‘ verwendet wird, zum Beispiel ‚Das ist nur ein Traum‘. Das Wort ‚Illusion‘ kommt aus dem lateinischen und bedeutet ‚Täuschung‘ oder ‚irrige Vorstellung‘, wodurch auch in unserer heutigen Sprache noch die alt- und mittelhochdeutsche Bedeutung von Traum als Täuschung vorhanden ist.

 

Titelbild: © Lena Köhler

 

Ihr habt noch nicht genug von unseren Traum-haften Beiträgen? Dann folgt uns für einen Blick hinter die Kulissen, spannende Fun-Facts oder Musik-Inspirationen auf Instagram und Twitter! 

Mehr zum Thema und weitere interessante Beiträge findet ihr außerdem hier – oder abonniert unseren Newsletter! 

 

Kopf mit bunter Wolke Träume