Es ist das Jahr 2096: Alle Menschen leben gleichberechtigt bis ins hohe Alter, Armut und Krankheit sind besiegt, es herrscht Weltfrieden. Der Klimawandel wurde aufgehalten, unseren Urlaub verbringen wir nicht mehr auf Mallorca, sondern auf dem Mond und zur Arbeit kommen wir in Flugtaxis. Klingt utopisch? Ist es auch! Aber ist es deshalb auch unrealistisch? Wofür brauchen wir als Gesellschaft eigentlich Utopien und müssen sie unbedingt wahr werden? Wir haben nachgefragt beim Philosophen Bernd Villhauer und der angehenden Zukunftsforscherin Rosa Berndt.

Der Begriff ‚Utopie‘ stammt aus dem Griechischen und bedeutet „ohne Ort“ oder „Nicht-Ort“. Unter einer Utopie versteht man die Idee von einer besseren oder idealen Gesellschaft – diese ist allerdings noch „ohne Ort“, existiert also noch nicht in der realen Welt. Der Begriff wurde erstmals von Thomas Morus im Titel seines 1516 erschienenen Romans Utopia genutzt. Der Roman berichtet vom Inselstaat Utopia, in dem alle Menschen gleich gekleidet sind und ein Arbeitstag nur sechs Stunden dauert, Geld und Privateigentum existieren nicht. Klingt erstmal traumhaft, ist in Wahrheit aber eine scharfe zeitgenössische Gesellschaftskritik.

Utopien als solche gab es allerdings auch schon davor, denn die Menschheit träumte wahrscheinlich schon immer von einer besseren Welt. Der niederländische Journalist und Autor Rutger Bregman beginnt sein 2016 publiziertes, populäres Buch Utopien für Realisten mit dem Satz: „Früher war alles schlechter.“ Im ersten Kapitel zeichnet der Autor die Entwicklung der Welt der letzten 200 Jahre nach und kommt zu dem Ergebnis, dass unser heutiger Lebensstandard so ziemlich einer mittelalterlichen Utopie entspräche. Dies ist für Rutger Bregman aber auf keinen Fall eine Rechtfertigung dafür, in der heutigen Zeit auf Utopien zu verzichten. Er zitiert den Autor Oscar Wilde, der in seinem Werk Der Sozialismus und die Seele des Menschen schrieb:

„Eine Weltkarte, in der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient keinen Blick, denn sie lässt die eine Küste aus, wo die Menschheit ewig landen wird. Und wenn die Menschheit da angelangt ist, hält sie Umschau nach einem besseren Land und richtet ihre Segel dahin. Der Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien.“

Der Traum von einer besseren Welt

Wieso ist dieser Traum von einer besseren Welt so wichtig für uns Menschen? „Weil wir ohne Hoffnungen und ohne große Erzählungen über gute Entwicklungen gar nicht auskommen“, meint Bernd Villhauer, Philosoph und Geschäftsführer des Weltethos-Instituts in Tübingen. Seiner Meinung nach lassen uns Utopien die Realität besser begreifen, spenden Hoffnung und setzen Kräfte frei, um Veränderungen zu erwirken. Rosa Berndt studiert an der Freien Universität Berlin im Masterstudiengang Zukunftsforschung und forscht zum Thema Utopien. Sie sagt, Utopien führen dazu, „dass ein Ziel da ist, dass man nicht nur in der Gegenwart bleibt und gegen etwas auf die Straße geht, sondern dass wir wissen wofür, weil wir ein Bild davon haben, wie die Welt aussieht, wenn wir es schaffen, sie zu verändern.“

Das Bild zeigt das Schild einer Demonstrantin bei einer Fridays for Future Demo

Utopie kein Klimawandel oder Dystopie ‚Öko-Diktatur‘? Alles eine Frage der Perspektive. © Pixabay

Dies betont auch Rutger Bregman in Utopien für Realisten: „Wie Humor und Satire stößt auch die Utopie die Fenster des Geistes auf. Und das ist unerlässlich.“ Dies ist gerade in Krisenzeiten bemerkbar. Zwar entstehen Utopien laut Rosa Berndt unabhängig von der Situation in der Welt, dennoch steige das gesellschaftliche und mediale Interesse an Utopien, je mehr sich Krisensituation in der Welt zuspitzen. Hierzu schreibt Rutger Bregman: „Utopien verraten stets mehr über die Zeit, in der sie entwickelt werden, als über das, was uns in der Zukunft erwartet.“

Während die einen mittels Utopie von einer besseren Welt träumen, sehen allerdings andere einen völligen Alptraum auf sie zukommen. So träumen die einen aktuell von einer Zukunft ohne Klimawandel, während die anderen die Dystopie einer ‚Öko-Diktatur‘ fürchten. Für Bernd Villhauer können Utopie und Dystopie nicht getrennt voneinander existieren und sind auch keine Gegenkräfte, sondern eng miteinander verwandt. Für ihn ist das „Faszinierende an der Utopie, dass sie auch umkippen kann, dass sie sich dann auch in einer ganz furchtbaren Form verwirklichen kann.“ Und dies kann ganz einfach passieren: „Sie können jeden utopischen Entwurf nehmen und wenn Sie an bestimmten Rädern drehen, sind Sie sofort in einer ganz schrecklichen Gesellschaft.“

Utopien zum Realisieren?

Darüber, ob Utopien unbedingt wahr werden müssen, gibt es unterschiedliche Ansichten. Dies lässt sich bereits in unterschiedlichen Definitionen des Begriffes feststellen: Während der Duden die Utopie als einen „undurchführbar erscheinende[n] Plan; Idee ohne reale Grundlage“ versteht, definiert Wikipedia den Begriff ‚Utopie‘ als „Entwurf einer möglichen, zukünftigen, meist aber fiktiven Lebensform oder Gesellschaftsordnung, die nicht an zeitgenössische historisch-kulturelle Rahmenbedingungen gebunden ist“. Je nach Definition besteht also die Möglichkeit, eine Utopie zu verwirklichen – oder eben auch nicht. Für Bernd Villhauer sind Utopien „nicht deshalb wichtig, weil sie verwirklicht werden.“ Im Gegenteil – er bezweifelt sogar, dass sie grundsätzlich überhaupt realisierbar sind. Das müssen sie aber auch gar nicht, um zu Veränderungen zu führen. Interessant ist auch, wer laut ihm die Veränderungen schlussendlich herbeiführt:

„Oft sind es dann nicht die utopischen Denker, die die Veränderung bringen, sondern die kleinteiligen Leute, die an den Strukturen arbeiten. Die Reformer erreichen meist viel mehr als die Revolutionäre, aber man braucht eine große Erzählung, eine große Hoffnung, um überhaupt zum Reformer werden zu können.“

Für Rosa Berndt sind Utopien generell realisierbar: „Die genaue Definition von Utopien ist, dass sie ein Nicht-Ort sind, das heißt sie existieren noch nicht, aber dass sie nicht realistisch sind würde ich nicht sagen. An sich sind sie noch nicht existent, aber sie existieren ja in der Vorstellung und sind damit schon real. Ich glaube alles, was in der Vorstellung existiert kann auf die eine oder andere Weise auch Realität werden.“ Die Idee, dass Utopien gar nicht real werden müssen, findet sie sehr spannend. Allerdings hält sie fest, dass sogenannte ‚Real-Utopien‘, wie zum Beispiel das bedingungslose Grundeinkommen, eben nicht nur zu neuen Ideen anstoßen möchten, sondern das Ziel verfolgen, tatsächlich realisiert zu werden.

Dass Utopien verwirklicht werden können, erleben wir momentan tatsächlich: Lange Zeit waren Kreislaufwirtschaft und nachhaltige Ökonomie eine bloße Utopie, die nun in Teilen der Wirtschaft real wird – wir erleben also momentan eine ‚Utopie in-the-making‘, wie Bernd Villhauer es nennt. Übrigens können Utopien und utopisches Denken darüber hinaus auch durchaus reale Auswirkungen auf Menschen haben, wie ein Forschungsteam der University of Melbourne 2018 herausfand. So zeigte die Studie Functions of utopia: How utopian thinking motivates societal engagement, dass Menschen, die gegenüber Utopien positiver eingestellt sind, auch eine höhere Bereitschaft besitzen, die Welt durch gesellschaftliches Engagement zu verändern.

Zukunftsträume

Sticker mit der Aufschrift "The Future is unwritten"

Wie soll unsere Zukunft aussehen? Utopien können dafür Wegweiser sein. © Unsplash

Sind Utopien und Träume also ein und dasselbe? Nein, sagen Bernd Villhauer und Rosa Berndt. Eine Utopie sei konkreter formuliert und klarer als ein Traum. Rosa Berndt bezeichnet den Traum als „eine bloße Vorstellung im Unterbewusstsein“, die Utopie hingegen sei „das Bildnis des Traums“. Laut ihr sind Utopien konkreter, weil sie sich meistens nicht (mehr) auf die ganze Weltstruktur beziehen, sondern sich – wie beispielsweise das bedingungslose Grundeinkommen – auf einzelne Aspekte konzentrieren. Auch Visionen werden oft in Zusammenhang mit Utopien genannt. Diese sind Bernd Villhauer zufolge ebenfalls unkonkreter als Utopien, fungieren aber als Grundlage dafür, dass Utopien überhaupt entstehen können: „Keine gute und glaubwürdige Utopie ohne Vision.“

Von welchen Utopien wir aktuell träumen, ist sehr vielfältig. Am bekanntesten ist wohl die Utopie des bedingungslosen Grundeinkommens. Auch eine Reduzierung der Arbeitszeit, wie sie zum Beispiel in Island erfolgreich getestet wurde, oder die Vereinbarkeit von Beruf und Familie gehören beispielsweise dazu. Als zeitgenössische Utopien können außerdem das Aufhalten des Klimawandels, die Beseitigung von Diskriminierung und aufgrund der aktuellen Lage, das Leben ohne Einschränkung durch eine Pandemie oder Viren gelten.

Welche Utopien uns in der Zukunft beschäftigen werden, das können selbst Zukunftsforscher*innen heute noch nicht vorhersagen. Rosa Berndt prognostiziert aber, dass sich auch in Zukunft weiterhin viel darum drehen wird, „wie Wirtschaft und Nachhaltigkeit zusammen funktionieren“ oder wie Wachstum anders gedacht werden kann. Und auch wenn viele Utopien erstmal zu unrealistisch klingen, als dass es sich tatsächlich lohnen würde, weiter an sie zu glauben: Viele gesellschaftspolitische Utopien wie zum Beispiel das Ende der Apartheid oder das Frauenwahlrecht galten lange Zeit als absolut unrealistisch und sind doch für uns heute Normalität. Auch deshalb lohnt es sich für uns, weiter vom gesellschaftlichen Fortschritt zu träumen.

Titelbild: © Pixabay

 

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Kopf mit bunter Wolke Träume

Carl Gustav Jung Archetypen

Was passiert, wenn wir träumen – und warum? Die Theorien reichen von Spekulationen über Geisterwelten und parallele Dimensionen bis hin zur nüchternen Reduktion des Traums auf ein neuronales Nebenprodukt. Zwischen diesen Extremen stellt das Traumverständnis von Carl Gustav Jung eine interessante Alternative dar: Im Traum sieht der Begründer der analytischen Psychologie den Schlüssel zur Selbstverwirklichung. 

„Sex sells“ heißt es ja bekanntlich, und für Sigmund Freud ist diese Formel aufgegangen: Der Psychoanalytiker und seine libido-orientierten Theorien sind den meisten Menschen ein Begriff. Weniger bekannt, aber nicht minder bedeutsam für die moderne Psychologie ist ein ehemaliger Schüler und Vertrauter Freuds: Carl Gustav Jung. Besonders fasziniert war der Schweizer von Ausnahmezuständen des menschlichen Bewusstseins, wie sie sich in Psychosen, scheinbar paranormalen Erlebnissen oder eben im Traum ausdrücken. Im Gegensatz zu vielen Forschenden war es jedoch nicht sein Anliegen, diese Phänomene  als irrelevant oder unsinnig „abzustempeln“. Jung nahm das Rätselhafte ernst.

Kronprinz der Psychoanalyse

Sigmund Freud (vorne links) mit C.G. Jung (vorne rechts). (Quelle: Wikimedia Commons.)

Ein 13-stündiger Podcast: So kann man sich das erste Treffen zwischen Carl Gustav Jung und Sigmund Freud in Wien vorstellen. Auf das gesprächsintensive Kennenlernen im Jahr 1907 folgte ein reger intellektueller Austausch. In Jung sah Freud einen würdigen Nachfolger, bezeichnete ihn sogar als „Kronprinzen der Psychoanalyse“. Beide waren an der Erforschung des Unbewussten interessiert – also den Aspekten der Psyche, die dem Ich-Bewusstsein unzugänglich sind, aber dennoch sein Fühlen und Handeln mitbestimmen.

Doch allmählich kristallisieren sich Differenzen zwischen den beiden heraus: Jung kritisierte die Vorrangstellung des Sexualtriebs in Freuds Lehre, während Freud Jungs Faszination für das Paranormale ablehnte1913 führten diese Meinungsverschiedenheiten schließlich zum Bruch zwischen den Gelehrten. Jung entschied sich gegen das Erbe Freuds und begründete seine eigene Schule – die analytische Psychologie 

Traumdeutung bei Jung und Freud

Auch in der Traumdeutung gehen Freud und Jung von einem ähnlichen Ansatz aus, bewegen sich aber dann in verschiedene Richtungen. Beide sehen im Traum einen bedeutsamen Mechanismus des Unbewussten und glauben, dass die Traumanalyse zu positiven psychologischen Transformationen führen könnenWas aber die Funktion des Traumes ausmacht und wie sich  Traumbotschaften entfalten – darin scheiden sich die Geister Jungs und Freuds. Für Freud drücken Träume Wünsche aus – oftmals auch geheime Wünsche, die vom inneren „Zensor“ des Individuums unterdrückt werden. Um der Zensur zu entgehen, tauchen diese Wünsche versteckt in Träumen auf. Jung dagegen glaubt nicht an das Versteckspiel der Träume, im Gegenteil: Im Traum spricht für ihn das Unbewusste direkt zum Menschen.  

Botschaften aus dem Inneren

Stell dir vor, du fährst auf der Autobahn. Plötzlich leuchtet ein Warnsignal in deinem Wagen auf. Es ist nichts Schlimmes – das Kühlmittel muss nur wieder nachgefüllt werden. Trotzdem solltest du dieses Zeichen lieber nicht ignorieren. In ähnlicher Weise interpretiert Jung die Funktion des Traums: Träume sind ein Feedback der Psyche an das Ich-Bewusstsein. Dieser bewusste Teil der Persönlichkeit, auch Ego genannt, stellt nach Jung lediglich einen Teil des Individuums dar. Wie der Fahrer navigiert sich das Ego durch den Alltag, ist sich aber oft nicht der inneren Mechanismen des Körpers und Geistes bewusst – ebenso wie ein Fahrer nicht immer genau weiß, was sich unter der Motorhaube seines Autos abspielt.

Hier kommen die Träume ins Spiel: Wie Warn- und Fehlersignale machen sie den Menschen auf psychische Ungleichgewichte und Störfaktoren aufmerksam. Diese inneren Botschaften sind nicht zwangsläufig große Offenbarungen. Jung unterscheidet zwischen „kleinen Träumen“, die sich mit alltäglichen Problemen beschäftigen, und dem „großen Traum“, der an kritischen Wendepunkten im Leben auftaucht.  

Der Keller unter dem Keller: das kollektive Unbewusste

Carl Gustav Jung (Quelle: Wikimedia Commons)

Auch Jung selbst hatte solch einen „großen Traum“: Er träumte, er sei in einem mehrstöckigen Haus. Zunächst befand er sich in einem prachtvoll eingerichteten Salon im oberen Stockwerk. Als er ins Erdgeschoss hinunterging, schien dort alles dunkler und älter, die Wände und Möbel wirkten mittelalterlich. Neugierig beschloss er, den Rest des Hauses zu erkunden und stieg in den Keller hinab – wo sich uraltes römisches Gemäuer über ihm wölbte. Doch das war noch nicht alles: Auf dem Kellerboden entdeckte er eine Platte mit einem Ring. Er zog daran und enthüllte wiederum eine Treppe, die in eine noch tiefere Ebene des Hauses führte.

Dieser schicksalhafte Traum inspirierte Jung zu seiner zentralen These: Unterhalb des persönlichen Unbewussten gebe es noch eine tiefere, instinktive, archaische Ebene der Psyche – das kollektive Unbewusste. Diese Ebene existiert in jedem Menschen, unabhängig von seinem Charakter und seiner Herkunft. Träume können sowohl dem „ordentlichen Obergeschoss“ entspringen – also der individuellen Psyche – als auch dem „Keller im Keller“. In dieser Untiefe der Menschheitsseele werden die ewigen Probleme der eigenen Spezies aufgegriffen. Solche kollektiven Träume und Symbole bezeichnet Jung als „archetypisch“.  

Die Sprache der Träume lernen

Doch woher weiß ich, welche Botschaft mir der Traum vermitteln will? Wie kann ich herausfinden, ob ich im Traum die archetypische Angst vor dem Tod oder bloß die typisch studentische Angst vor Deadlines verarbeite? Warnsignale im Auto sind meist eindeutig, was man von Träumen nicht gerade behaupten kann. Wenn Träume also Mitteilungen sind, wieso sind sie so verworren? Nach Jung liegt es nicht daran, dass Träume etwas verbergen. Sie teilen dem Träumenden etwas laut und deutlich mit – nur eben in ihrer eigenen Sprache. Träume arbeiten in einem anderen Modus als das rationale Alltagsbewusstsein, ebenso wie Dichter*innen sich anders ausdrücken als Wissenschaftler*innen.  

Werde, wer du bist – die Individuation

Carl Gustav Jung zufolge sprechen im Traum die verborgenen Facetten der Psyche zum Menschen. Doch wieso sollte der Mensch überhaupt zuhören? Für Jung war der Traum vor allem als Hilfsmittel im Prozess der Individuation von Bedeutung. Individuation bedeutet „zu werden, wer man ist“ – also sein volles inneres Potenzial auszuschöpfen. Darin sah Jung das höchste Ziel des Menschen. Das Individuum erreicht dieses Optimum, indem es die Polarität innerhalb der eigenen Psyche – das Persönliche und das Kollektive, das Männliche und das Weibliche, das Licht und den Schatten – zu einem harmonischen und authentischen Ganzen vereint. Für Jung sind Träume also Wegweiser auf der Reise zum Selbst. Wann und ob man ans Ziel kommt, kann einem niemand verraten. Die letzte und wichtigste Medaille verleiht sich das Individuum selbst.  

Die Medaille der Individuation muss sich jeder selbst verleihen – in diesem Sinne ist dies ein sehr archetypisches Meme.  (Quelle: Knowyourmeme.com)

 

 

 

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Kopf mit bunter Wolke Träume

 

Man sieht sie im Hintergrund vieler Instagram-Posts an Wänden hängen, sie baumeln von Decken hipper Cafés oder sind am Rahmen von Kinderbetten befestigt: Traumfänger. Doch warum werden sie heute aufgehängt? Wie wird der Nutzen angepasst? Und bedeuten neue Kontexte automatisch kulturelle Aneignung oder harmlose Symbolik? Wir gehen diesen Fragen in diesem Beitrag nach und sprechen mit Jessica Richter, einer Workshop-Leiterin für Traumfängerherstellung.

Um die Herkunft und Entstehung von Traumfängern ranken sich verschiedene Legenden. Ihren Ursprung haben sie bei den Native Americans. Sie sollen unsere Alpträume wie Spinnennetze auffangen und uns so vor ihnen und schlechten Gedanken schützen. Viele, die diesen Artikel lesen, hatten vielleicht als Kind einen bunten Traumfänger über dem Bett hängen. Heute findet man die Netze vor allem auf Instagram als Wanddekor, am Rückspiegel in Autos oder auf Festivals. Warum werden sie heute aufgehängt und wo liegt die Grenze zur kulturellen Aneignung?

Schmaler Grat zwischen Interesse und Aneignung

Traumfänger als Dekoration der Wohnungen von Influencer*innen © Instagram / all_aboutdreams

Scrollt man durch Instagram oder Pinterest, fällt einem der Trend des Makramee ins Auge, eine Knüpftechnik, mit der Untersetzer, Teppiche, Anhänger und eben auch Traumfänger gebastelt werden. Diese zieren die Wände zahlreicher Influencer*innen oder hängen in ihren Autos. Wer einen Traumfänger selber machen will, kann dies in eigenen Workshops erlernen. Jessica Richter gibt solche Kurse und berichtet im Gespräch mit Zwischenbetrachtung von den Motivationen ihrer Workshop-Teilnehmer*innen: „Sie erzählen von intensiven Träumen, schlechtem Schlaf und wünschen sich dann mit dem Traumfänger Besserung. Manchmal bekomme ich Feedback, dass sie tatsächlich einen besseren Schlaf haben als zuvor. Andere basteln einen zur Dekoration und weil es einfach ein schöner Hingucker ist.“

Hier stellt sich die Frage, ob der Grund der Dekoration mit einer fehlenden Sensibilität für den Ursprung der Traumfänger einhergeht und Kontexte verletzt werden. Um dies zu verstehen, ist das Konzept der cultural appropriation, zu Deutsch der ‚kulturellen Aneignung‘ hilfreich. Ob Popsänger*innen Outfits oder Gesänge aus anderen Kulturen in ihren Werken verwenden, Kriegsbemalung auf dem Coachella Festival getragen oder ein gefederter Hut mit Fransen-Outfit zum Karneval präsentiert wird – stets übernehmen sie kreative oder künstlerische Formen, Themen oder Praktiken einer anderen Kultur. Dies beschreibt westliche Aneignungen nicht-westlicher oder nicht-weißer Formen von Symbolen, welche Konnotationen von Ausbeutung und Dominanz tragen.

Die Abgrenzung der kulturellen Aneignung vom bloßen Austausch ist letztlich eine Frage gesellschaftlicher Machtverhältnisse: Aneignung findet dann statt, wenn eine privilegierte Schicht wirtschaftlichen und persönlichen Nutzen aus den Symbolen und Objekten marginalisierter Gruppen zieht. Eben dieser Zusammenhang der Ungleichheit wird im Kontext von Traumfängern kritisiert. Zwischen Interesse und Aneignung verläuft dabei eine unscharfe Grenze.

Bewusstsein für Kultur und Tradition

Ein beliebtes Hobby: Traumfänger aus Makramee herstellen © Pixabay

Jessica Richter berichtet, wie sie in ihren Workshops die Geschichte des Traumfängers und seine Ursprünge thematisiert: „Mir ist es wichtig, dass meine Teilnehmer wissen, woher der Traumfänger kommt und was er bewirkt. Es gibt einige Legenden und nach meiner Recherche bin ich oft auf die Legende der Ojibwa-Indianer gestoßen. Die Legende erzähle ich meinen Teilnehmern, bevor sie anfangen zu kreieren.“ Darüber hinaus verwendet Jessica Richter natürliche Materialien und nicht vorgefertigte für die Herstellung ihrer Traumfänger.

Wie denken Anhänger*innen der tribes selbst über den Besitz eines Traumfängers? In einer anonymen Umfrage eines Reiseblogs, welcher kulturbewusstes Reisen thematisiert, wurden die Anhänger*innen unterschiedlicher tribes gefragt: „Gibt es eine unbedenkliche Möglichkeit für Nicht-Natives, einen Traumfänger zu besitzen?“ Die Antworten fielen unterschiedlich aus, viele waren sich aber einig: Der Kontext ist entscheidend. So werde es beispielsweise als respektlos empfunden, einen Traumfänger an einer Tankstelle zu erwerben oder bestimmte Stereotype in Filmen darzustellen. Oft werde dabei die Wichtigkeit der Traditionen zum Vorteil einer privilegierten Schicht vergessen. Ein*e Nutzer*in antwortet: „Ich habe den Eindruck, dass Nicht-Indigene auf der Suche nach einer mystischen Erfahrung in die Reservate kommen und Schmuckstücke mit nach Hause nehmen, um zu zeigen, dass sie unter Ureinwohnern waren. Viele der stereotypen Hollywood-Accessoires und Schmuckstücke verkaufen sich, also nutzen die Verkäufer der Ureinwohner dies zu ihrem Vorteil.“

Achtsame Herstellung, bewusster Besitz

Traumfänger findet man in vielen Läden und in verschiedenen Formen  © Unsplash

Es geht also weniger darum, dass man keinen Traumfänger besitzen darf, sondern um ein Bewusstsein für kulturelle Kontexte und Traditionen und den achtsamen Umgang mit der Symbolik. Auch die Herkunft ist wichtig: Aus welchen Materialien besteht der Traumfänger, gibt es Shops, welche indigene Reservate unterstützen? So könnte es vielleicht gelingen, den Alptraum der kulturellen Aneignung im Netz des Bewusstseins aufzufangen.

Titelbild: © Pixabay

 

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Traumfänger sind im alltäglichen Leben längst der breiten Masse bekannt. Doch woher kommen die aufwendig verzierten und gefiederten Kunsthandwerke? Auf dem fernen westlichen Kontinent verbinden die indigenen Völker sie mit spirituellem Glauben und Legenden. Welche Bedeutung hat der Traumfänger als Kulturgut, und was für Gedanken wurden darin eingewebt?

Rebecca Netzel ist promovierte Linguistin und Lektorin an der Universität Heidelberg. © Rebecca Netzel

Mit der Geschichte des Traumfängers kennt sich Rebecca Netzel von der Universität Heidelberg bestens aus. Sie arbeitet am Institut für Übersetzen und Dolmetschen als Dozentin, engagiert sich jedoch außerdem ehrenamtlich für die indigenen Völker. Als Sprachforscherin und Expertin zur Sprache und Kultur der Lakota hat sie mehrere Bücher verfasst und wurde zudem von einer Familie des Lakota-Stammes adoptiert.

Ihren Ursprung finden die Traumfänger bei den Native Americans. Träume haben für die indigenen Völker dort eine wichtige Bedeutung: Sie glauben, dass diese die Seelen der Träumenden aktiv beeinflussen. So könne ein Traum beispielsweise spirituelle Stärke vermitteln, aber auch negative Gedanken oder Geister einlassen. Um vor diesen bösen Träumen zu schützen, wird ein Traumfänger über das Bett gehängt, wo er die ersten Strahlen der Morgensonne einfangen kann. Die Native Americans glauben, dass das Sonnenlicht die nachts gefangenen, schlechten Gedanken neutralisiert. Laut Rebecca Netzel streiten die einzelnen Tribes scherzhaft darum, bei welchem Tribe die Traumfänger genau ihren Ursprung nehmen. Allerdings sei der genaue Ursprung mittlerweile wohl nicht mehr zu ermitteln, da die Kulturgedanken des Traumfänger immer wieder untereinander ausgetauscht und einzeln weiterentwickelt wurden. Es handelt sich also um ein intertribales Kulturgut der Native Americans.

„Traumfänger“ heißt wörtlich „Spinnennetz“

Für die Zierfedern am Traumfänger werden flaumige Konturfedern bevorzugt. © Couleur auf Pixabay

Die Materialien für einen originalen Traumfänger stammen dabei alle aus der Natur: Zweige, Sehnen und Federn. Beispielsweise ein runder Zweig der Red Willow (Glattblättrigen Weide) wird in Kreisform gezogen, getrocknet und mit Fasern einer großen Brennnessel oder Lederstreifen umwickelt. Sehnen werden so in die Mitte eingeflochten, dass es einem Spinnennetz gleicht. Verziert wird der Traumfänger mit flaumigen Naturfedern, welche die Verbindung zur Luft symbolisieren. In die Mitte des Netzes kommt nun noch eine Perle oder ein Halbedelstein. Eventuelle zusätzliche Materialien sind optionales Beiwerk und dienen der Dekoration. Rebecca Netzel zufolge lautet das Wort für „Traumfänger“ in der Sprache der Lakota übrigens „Iktómi tawókashke“, was wörtlich übersetzt „Spinnennetz“ bedeutet.

„Gerade von der ganzheitlich-ökologischen Denkweise der Native Americans können wir in Zeiten des Klimawandels und Artensterbens viel lernen.“ – Rebecca Netzel

Zwei verschiedene Ursprungs-Legenden

Um den Traumfänger ranken sich verschiedene Legenden, und viele der indigenen Völker haben ihre eigene Fassung. Eines haben sie jedoch gemeinsam: Es ist immer eine Spinne, die das Netz des ersten Traumfängers gewoben hat. Zwei Geschichten, die der Ojibwe und des Lakota Tribes, sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden.

Die Gestaltung des originalen Traumfängers basiert auf einem Spinnennetz. © Albrecht Fietz auf Pixabay

Die Sage der Ojibwe handelt von einer Göttin der Erde, die als „Spinnenfrau (oder „Asibikaashi“) bezeichnet wird. Die Spinnenfrau kümmert sich um alle Menschen und insbesondere um die Kinder. Als die Völker sich in alle Ecken des Landes ausbreiteten, wurde es jedoch für sie schwieriger, auf alle Kinder achtzugeben. Daher lehrte sie die Mütter und Großmütter, Spinnennetze aus Weidenreifen und Sehnen zu weben, um die Kinder an ihrer Stelle nachts zu beschützen.

Die Sage der Lakota erzählt hingegen von einem Treffen zwischen dem alten geistlichen Führer der Lakota und „Iktomi“, einem Trickster und Weisheitslehrer, der die Gestalt einer Spinne angenommen hat. Der Lakota-Führer begab sich auf einen hohen Berg und erhielt dort eine Vision von Iktomi. Die Spinne erzählte von dem Wandel des Kindes bis zum Greis, der sich wieder um neue Kinder kümmert – und dass sich dadurch ein Kreislauf bildet. Doch diese Harmonie der Natur und des Großen Geistes könne von guten und bösen Kräften beeinflusst werden. Wenn man auf die bösen Kräfte höre, so würde man in eine falsche Richtung gelenkt und könne Schaden nehmen. Während Iktomi sprach, nahm er sich den Weidenring des alten Lakota, welcher mit Perlen, Federn und vielem mehr geschmückt war, und spann in dessen Mitte ein Netz. Als er fertig damit war, gab er dem alten Mann den Ring zurück und erklärte ihm, dass er das Netz nutzen könne, um seinem Tribe zu helfen. Wenn er an den Großen Geist glaube, werde es die guten Kräfte auffangen und die schlechten durch das Loch in der Mitte des Netzes entweichen lassen.

Laut Rebecca Netzel herrscht übrigens innerhalb der indigenen Völker Uneinigkeit darüber, ob die Traumfänger nun die guten Gedanken einfangen und die schlechten passieren lassen oder ob sie die schlechten Träume einfangen und die guten Träume weiterziehen. Letztlich bleibt jedoch der gemeinsame Zweck der Traumfänger derselbe.

„Egal, wie man es betrachtet: Der Traumfänger filtert die guten Träume heraus und sorgt so für einen gesunden, entspannten Schlaf!“ – Rebecca Netzel

Zweckentfremdung wird belächelt

Heute sind Traumfänger in allen möglichen Varianten und Gestaltungen erhältlich. © Lela Cargill auf Pixabay

Auch wenn die Traumfänger den Geschichten nach hauptsächlich für Kinder gemacht sind, so werden sie im Grunde auch an Erwachsene verschenkt – gute Träume helfen schließlich in jedem Alter. Dem Glauben der Native Americans nach sollte man die Traumfänger immer im Schlafzimmer über der Schlafstelle aufhängen, wo das Morgenlicht auf sie trifft. Andere Platzierungen (wie zum Beispiel im Auto) seien weniger effektiv. Dass die Kunsthandwerke mittlerweile auf der ganzen Welt verbreitet sind und von anderen Kulturen sehr verschieden genutzt werden, stört die indigenen Völker aber laut Netzel wenig. Wenn die Traumfänger zweckentfremdet werden, so wird das nur belächelt – ein religiöses Tabu wird damit aber nicht gebrochen. In manchen indianischen Reservaten werden Traumfänger in unterschiedlichen Größen und Ausführungen sogar selbst zum Kauf angeboten. Beispiele wären der Onlineshop des Akta Lakota Museum & Cultural Center oder NativeAmericanVault.

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Kopf mit bunter Wolke Träume

 

Es macht müde, entspannt die Muskeln und mindert Schmerzen – gleichzeitig ist es weltweit die häufigste illegal konsumierte Droge: Cannabis. Schon seit Jahrhunderten wird die zur Gattung der Hanfgewächse gehörende Pflanze als Heilmittel in der Medizin eingesetzt. Andererseits genießen viele auch einfach den berauschenden Zustand der Droge. Wie sich Cannabis auf Schlaf und Träume auswirken kann, beschreiben Allgemeinmediziner Franjo Grotenhermen und Cannabis-Konsumenten*innen im Interview.

Einer von immer mehr Vertreter*innen, die Cannabis als Schlafmittel einsetzen: Franjo Grotenhermen. © Franjo Grotenhermen

Seit 25 Jahren beschäftigt sich Franjo Grotenhermen mit Cannabis und Cannabinoiden. Der Allgemeinmediziner arbeitete in der Inneren Medizin, der Chirurgie und zuletzt in einer Klinik für Naturheilverfahren. Heute setzt er sich stark für den Einsatz von Cannabis als Arzneimittel ein. Auch bei Patient*innen mit Schlafstörungen sieht der 64-Jährige Cannabis als Heilmittel, dessen psychoaktive Wirkstoffe als Betäubungs- und Beruhigungsmittel funktionieren. Bereits im 19. Jahrhundert gab es hierzu erste Untersuchungen in Deutschland. Grotenhermen berichtet von Bernhard Fronmüller, der 1869 eine Studie mit 1.000 Patient*innen durchführte, die unter Schlafstörungen litten. Er verabreichte ihnen verschiedene potentielle Schlafmittel, unter anderem Cannabis. Das Ergebnis zeigte, dass sich die Schlafsituation der Patient*innen mit Cannabis in über 50 Prozent der Fälle verbesserte.

Warum wirkt Cannabis schlaffördernd?

„Auch heute geht man noch davon aus, dass THC (‚Tetrahydrocannabinol‘, Anm. d. Red.), der psychoaktive, also berauschende Bestandteil von Cannabis, bei 50 Prozent der Fälle müde macht. Das kann zum einen störend sein, wenn man einfach müde wird und nicht möchte. Es kann aber erwünscht sein, wenn man Schlafstörungen hat und dann besser damit schlafen kann“, erklärt Grotenhermen. Bei dem zweiten Cannabis-Wirkstoff CBD (‚Cannabidiol‘, Anm. d. Red.) seien sowohl schlaffördernde als auch schlafhemmende Effekte beobachtet worden. Laut Franjo Grotenhermen gibt es Patienten*innen, die sagen, „wenn ich CBD nehme, hilft mir das beim Einschlafen“. Andere hingegen würden vom CBD wacher und könnten dann nicht mehr schlafen, wenn sie zu viel CBD konsumieren. „Das ist eine sehr individuelle Reaktion, das kann man nicht verallgemeinern, weder für THC noch für CBD“, sagt der Allgemeinmediziner.

Mehr Schlaf, weniger Träume

Bei regelmäßigem Cannabis-Konsum verändern sich der Schlaf und mit ihm auch die Träume der Patient*innen. Diese Veränderung variiert jedoch von Mensch zu Mensch. Grundsätzlich wirke THC eher lädierend, „das heißt die meisten Patient*innen haben einen schlaffördernden Effekt. Zudem unterdrückt es die Träume, es unterdrückt den REM-Schlaf, den Rapid-Eye-Movement-Schlaf. Dies kann je nach Patient*in erwünscht oder unerwünscht sein“, erklärt Grotenhermen. Beim normalen Schlaf sei dieser Wegfall der Träume nicht unbedingt wünschenswert. Wer hingegen an Alpträumen leide, empfände das Ausbleiben der Träume jedoch als willkommene Wirkung. „Diese Unterdrückung des REM-Schlafs macht sich auch bemerkbar, sobald der Cannabis-Konsum reduziert wird, da die Träume dann wieder lebhafter werden“, so Grotenhermen.

Cannabis wird als Schlafmittel in Tropfenform, als Kapseln oder zum Inhalieren verschrieben. © Pixabay

Cannabis als Medikament

Vor allem für Personen mit Schlafstörungen jeglicher Art nutzt Franjo Grotenhermen Cannabis als Schlafmittel. Allgemein sei Cannabis in der Medizin noch sehr ungebräuchlich. Es gelte immer noch der Mythos, dass Cannabis nicht bei psychischen Erkrankungen eingesetzt werden sollte, weil es genauso psychiatrische Probleme verursachen könne. Den meisten Ärzt*innen fehle hier die Erfahrung und das Wissen, wann Cannabis situationsverbessernd und wann es -verschlechternd wirke. Franjo Grotenhermen gehört zu einer größer werdenden Gruppe von Mediziner*innen, die auch in Deutschland Cannabis als Heilmittel einsetzen und die ausgelöste Müdigkeit und den beruhigenden Effekt zur Behandlung von Krankheiten nutzen.

Vor allem Patient*innen mit posttraumatischen Belastungsstörungen, die durch extreme Belastungen wie etwa Krieg oder Missbrauch als Kind ausgelöst werden, leiden häufig unter Alpträumen. Hier sei Cannabis ein sehr gutes Mittel, um diese Personen von ihrem nächtlichen Leiden zu befreien. Bei Patient*innen mit beispielsweise schizophrenen Psychosen beeinflusse Cannabis hingegen die Krankheit häufig ungünstig. Hier müsse man differenzieren. Grotenhermen berichtet: „Als ich vor 25 Jahren angefangen habe, mich mit Cannabis zu befassen, dachte ich auch, dass Cannabis bei psychiatrischen Belastungen nicht eingesetzt werden sollte, sondern nur bei körperlichen Belastungen, Schmerzen, Spastik. Doch das hat sich bei mir komplett verändert.“

Erholsamerer Schlaf durch Cannabis

Sein Einsatz von Cannabis als Schlafmittel zahlt sich aus. Grotenhermen berichtet von einem Patienten, der durch einen Aufenthalt im Schlaflabor die positive Wirkung von Cannabis bestätigte. Hier wurden Einschlafzeit und Schlafdauer einmal mit und einmal ohne Cannabis ermittelt. Die Schlafdauer unter Cannabis-Konsum war ungefähr zwei Stunden länger. Der Patient empfand seinen Schlaf zudem als erholsamer und fühlte sich ausgeschlafener. Bei anderen Schlafmitteln sei genau hier eine Schwachstelle, da viele Betroffene ihren Schlaf unter Schlafmitteln als nicht erholsam empfinden und sich nicht ausgeruht und fit fühlen, sogar noch eine gewisse Restmüdigkeit beschreiben.

„Ich schlafe ein, bin komplett weg und ich wache auch so wieder auf.“

Regelmäßige Cannabis-Konsument*innen bestätigen den schlaffördernden Effekt. Die 26-jährige Laura M. (Name ist der Redaktion bekannt), die an posttraumatischen Belastungsstörungen leidet und täglich Cannabis konsumiert, beschreibt ihren Schlaf sehr drastisch: „Ich rauche und werde müde, ich kann Sorgen quasi abschalten und bin dann, sobald ich eingeschlafen bin, was relativ zügig geht, sofort zack, weg, und im gleichen Atemzug bin ich genauso sofort wieder zack, wach, sobald der Wecker klingelt. Das ist quasi alles eine Masse in einem, es gibt also keine Einschlafphase oder, dass ich mal früher wach werde, sondern ich schlafe ein, bin komplett weg und ich wache auch so wieder auf.“ Auch der 24-jährige Paul H. (Name ist der Redaktion bekannt) konsumiert täglich und beschreibt seinen Schlaf als „bewusstlos, tief, fest und ohne langfristige Erinnerung an meine Träume“.

So einfach das Einschlafen mit Cannabis ist und so ruhig der Schlaf sein kann, genauso unangenehm wird es für Konsument*innen jedoch, wenn sie weniger kiffen: „Dann ist es so, dass sich das Einschlafen wirklich wahnsinnig zieht. Dass ich viel unruhiger schlafe, dass ich nachts wach werde, dass ich zum Beispiel auch so etwas wie Harndrang verspüre, wenn ich mal müsste, was sonst alles komplett verschoben wird. Und dass die Träume so extrem sind, dass ich über den Schlaf hinweg auch öfters aufwache. Morgens in den ersten Tagen bin ich völlig gerädert, erst ab der fünften Nacht merke ich, dass ich wesentlich erholter bin“, so Laura M. „Es ist mehr Schlaf als Koma“, so Paul H.

Vom leeren Nichts zu lebhaften Träumen

Wenn sie täglich Cannabis konsumieren, träumen die Befragten überhaupt nichts, können sich an keine Träume erinnern. Die Betroffenen berichten, dass sie aufgrund der Symptome spüren, wenn sie einen Alptraum haben, sie wachen etwa verschwitzt auf – die Inhalte sind jedoch nicht mehr da, denn „alles geht unter, weil es nicht genug Nachdruck hat“. Umso stärker kehren die Träume dann zurück, sobald der Cannabis-Konsum reduziert oder abgesetzt wird. Bereits drei bis vier Tage nach komplettem Absetzen des Cannabis‘ beginnen sich bei Laura M. und Paul H. Schlaf und Träume wieder umzustellen. Vor allem die ersten Nächte ohne Cannabis seien dann schrecklich. Ohne Cannabis binden sie vor allem ihren Alltag in ihre Träume ein.

Der Inhalt ist dann „viel mehr darauf basierend, worüber ich mir Sorgen mache und was ich mit dem Cannabiskonsum sonst eher etwas verniedliche sozusagen. Da kommen dann tatsächlich auf wahnsinnig extreme Art und Weise die Dinge, die im Alltag Relevanz haben und Sorgen bereiten. Da wird alles viel realistischer und man wird in viel mehr Schwachstellen sozusagen getroffen. Ich träume dann die krassesten Szenarien“, erklärt die 26-Jährige. Gleichzeitig beschreibt der 24-Jährige seinen Schlaf ohne Cannabis als „erholsamer, bewusster, mehr Träume, es ist mehr Schlaf als Koma“. Vor allem die Erinnerung an die Träume kehrt durch den Entzug zurück, die REM-Schlafphase wird nicht unterdrückt. Paul H. erläutert: „Wenn ich nicht kiffe, dann ist es auf jeden Fall so, dass ich, wenn ich aufwache, eigentlich immer noch weiß, was ich geträumt habe.“

Der Grat zwischen wünschenswerten und nachteiligen Effekten ist bei Cannabis-Konsum also sehr schmal, worauf Allgemeinmediziner Franjo Grotenhermen, Verfechter von Cannabis als Schlafmittel, hinweist. Vor allem der Schlaf wird durch Cannabis sehr individuell beeinflusst.  Für Menschen mit Schlafproblemen oder psychischen Erkrankungen kann erholsamer Schlaf mithilfe von Cannabis ein Segen sein – traumreiche Nächte bleiben hier jedoch auf der Strecke.

Titelbild: © Pixabay

 

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Kopf mit bunter Wolke Träume

„Träum weiter“ – mit diesem dumpfen Gefühl, uns etwas Unrealistisches und Irreales in den Kopf gesetzt zu haben, bleiben wir oft zurück und verwerfen unsere Ideen. Dagegen wendet sich Regisseur Valentin Thurn mit seinem Dokumentarfilm Träum weiter! Sehnsucht nach Veränderung, der im September 2021 in die deutschen Kinos kommt. Er gibt der Redewendung eine ganz neue Bedeutung und ermutigt die Zuschauer*innen, zu neuen Ufern aufzubrechen.

Ein One-way-Ticket auf den Mars – diese Idee halten die meisten wahrscheinlich für eine skurrile Spinnerei. Günther Golob nicht. Er träumt davon, bei der ersten Mars-Kolonialisierung dabei zu sein und hat dafür sogar die Leitung einer Kulturagentur in Graz aufgegeben. Seither konzentriert er sich ausschließlich auf seine Bewerbung für die sogenannte Mars-One-Mission und erklärt: „Sicherheit, das war mit 40-Stunden-Job, Familie – ja alles gut, recht und schön, aber nur für mich war es zu wenig, ich musste ausbrechen aus meinem Leben.“ Und tatsächlich, die erste Prüfung hat er bestanden: Von über 200 000 Bewerber*innen wurde er mit 99 anderen für die letzte Runde ausgewählt. Der Marsflug ohne Rückkehr ist von einer privaten Investoren-Gruppe für 2026 geplant. Im Anschluss sollen weitere Flüge weitere Menschen zu dem fernen Planeten bringen.

„Das ist für mich ein riesengroßes Abenteuer. Wahrscheinlich das größte in meinem Leben und als einer der Ersten da zu sein, der sowas erleben darf, sprengt eigentlich jegliche Vorstellungskraft, aber das ist genau das, was ich will“, so Golob.

Fünf unterschiedliche Lebensträume

Van Bo Le-Mentzel in einem seiner Tiny-Häuser. © AlmodeFilm

Neben ihm sind es noch vier weitere Protagonist*innen, die der 58-jährige Regisseur Valentin Thurn über drei Jahre lang auf ihrem Weg, ihre ganz individuellen Träume zu verwirklichen, begleitet hat. Van Bo Le-Mentzel, der früher Planer eindrucksvoller Shoppingmalls und Museen war, hat seinen gut bezahlten Job während der Schwangerschaft seiner Frau an den Nagel gehängt. „Ich habe viele Dinge gemacht, die eigentlich nichts bedeuten“, sagt der Architekt. „Ich wusste, ich muss irgendwas tun, was anderen Menschen auch hilft.“ Jetzt entwirft und baut er Tiny-Häuser, schafft dadurch öffentliche Begegnungsstätten, und träumt von Wohnraum für alle und mietfreiem Wohnen – mitten in Berlin.

Carl-Heinrich von Gablenz träumt von nachhaltigen Luftschiffen. © AlmodeFilm

Auch Carl-Heinrich von Gablenz hat sein Job als erfolgreicher Manager in einem Maschinenbau-Konzern nicht mehr erfüllt. Stattdessen hat er die Idee entwickelt, Schwerlasten mit Ballons schweben und transportieren zu lassen. Hierfür kämpft er immer weiter. Obwohl er während der Finanzkrise schon einmal mit seiner Erfindung Pleite gegangen ist, hält er daran fest und gibt die umweltfreundliche Alternative zum Flugzeug nicht auf.

Ein Symbol gegen den Klimawandel setzt auch der Designer Joy Lohmann. Er träumt davon, schwimmende Recycling-Inseln aus Müll zu bauen, um so beispielsweise Menschen vor der Überschwemmung zu retten und aufzunehmen. In eine ganz andere Richtung geht der Wunsch von Line Fuks: Sie und ihre Partnerin Katja wandern gemeinsam mit den Kindern nach Portugal aus, damit diese nie mehr in die Schule müssen und ihnen das Freilernen in Eigenregie ermöglicht werden kann.

Joy Lohmanns Recycling-Inseln mit Symbolkraft. © AlmodeFilm

Line Fuks‘ Kinder lernen auf einem Bauernhof in Portugal in Eigenregie – ganz ohne Schulpflicht. © AlmodeFilm

„Nur wer träumt, kann auch wirklich Zukunft erfinden“

Dokumentarregisseur Valentin Thurn ©ThurnFilm

„Wir haben hinter den Filmtitel bewusst ein Ausrufezeichen gesetzt“, erklärt Valentin Thurn im Interview mit Zwischenbetrachtung. „Wohlwissend, dass es diese negative Konnotation gibt, denn da kann man natürlich nicht dran vorbeigehen, dass Träumer oder Visionäre in dieser Gesellschaft oft nicht ernst genommen werden. Wir meinen das aber affirmativ, denn nur wer träumt, kann auch wirklich Zukunft erfinden.“ Bei Kino-Diskussionen um seine beiden mehrfach ausgezeichneten Filme Taste the Waste und 10 Milliarden – wie werden wir alle satt?, in denen er sich mit den Themen Welternährung und Lebensmittelverschwendung beschäftigt hat, habe er beobachtet, dass vor allem die jüngere Generation nach grundlegenden Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft strebe und auf der Suche nach echten Alternativen sei. In einer Zeit des andauernden Produzierens und Konsumierens, der fehlenden Ruhe und Überreiztheit der Sinne bleibe häufig keine Zeit zum Reflektieren und Träumen. Die Folge: keine Zukunftsentwürfe und -visionen, keine Alternativen zum Bestehenden.

„Ich will dazu beitragen, diese Lähmung zu überwinden, indem ich zeige, wie Menschen neue Visionen und Utopien entwerfen und auch versuchen, diese zu realisieren. Manches davon ist handfest, anderes vielleicht eher unrealistisch. Aber das ist nicht entscheidend: Wichtig ist, dass wir uns wieder darauf fokussieren, das eigene Potential zu erkunden und etwas zu wagen“, so Thurn.

Momente des Nichtstuns und sinnfreien Auswohnens

Auch er selbst habe sich lange Zeit in einem Hamsterrad befunden, in dem ihm die Momente gefehlt hätten, die er im Sinne seines Films als Träume definiert: „Ich meine damit nicht das Träumen in der Nacht, sondern ich meine die schöpferischen Momente, die Momente sinnfreien Auswohnens. Gedanken, die manchmal aus dem Nichtstun oder bei Routinetätigkeiten, sei es beim Fahrradfahren, Laufen, Aus-dem-Fenster-Starren oder Duschen jenseits der Arbeit entstehen. Wenn man das zulässt, entsteht Neues. Das sind die Träume, die ich meine.“ Dabei gehe es zunächst einmal nicht um gewinnbringende Projekte, betont Thurn. Sie seien oftmals vielmehr jenseits des Geldverdienens angesiedelt – „man macht etwas, weil man es für richtig erachtet.“ Und zwei Eigenschaften dürfen dabei nicht fehlen, weiß der Regisseur nach den drei Jahren: Selbstliebe und eine Portion Größenwahn.

Der Film läuft ab dem 30. September 2021 in den deutschen Kinos. © AlmodeFilm

Titelbild: © AlmodeFilm

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Kopf mit bunter Wolke Träume

Eine Stadt voller Bücher – der größte Wunschtraum für die leidenschaftlichen Leser*innen unter uns. Wohl auch für Walter Moers. Sein Buch Die Stadt der Träumenden Bücher ist eine große Liebeserklärung an das Medium Buch, auch wenn er mit der Verlagsbranche nicht ganz gnädig umgeht.

Hildegunst von Mythenmetz – der Name der Hauptfigur spricht schon für die Komik des gesamten Buches – lebt in einer Traumwelt auf dem Fantasie-Kontinent Zamonien. Der Lindwurm erzählt seine Abenteuergeschichte aus der Stadt der träumenden Bücher – einer Stadt voller antiquarischer Bücher, die sich in einem Dämmerzustand zwischen Leben und Tod befinden und davon träumen, wiederentdeckt und gelesen zu werden. Bevor Hildegunst seine Abenteuergeschichte erzählt, wobei sich Autor Walter Moers ganz bescheiden als Übersetzer ausgibt, müssen die Leser*innen erst einmal gewarnt werden: „Es ist keine Geschichte für Leute mit dünner Haut und schwachen Nerven – welchen ich auch gleich empfehlen möchte, dieses Buch wieder zurück auf den Stapel zu legen und sich in die Kinderbuch-Abteilung zu verkrümeln. Husch, husch, verschwindet, ihr Kamillenteetrinker und Heulsusen, ihr Waschlappen und Schmiegehäschen“. Ja, der Lindwurm – ein Nachkomme der Dinosaurier – schwingt große Töne über seine eigene Geschichte. Und die werden auch erfüllt.

Ein junger Autor auf der Suche nach Vollkommenheit

Autor Hildegunst von Mythenmetz alias Walter Moers.

Autor Hildegunst von Mythenmetz alias Walter Moers. © Walter Moers / Penguin Random House Verlagsgruppe

Als Lindwurm ist Hildegunst von Mythenmetz zum Dichter geboren. Doch bevor er etwas veröffentlicht, überreicht ihm sein ‚Dichtpate‘, eine Art Lehrer und Mentor zugleich, ein Manuskript, das von solch einer Perfektion und Vollkommenheit ist, dass es sämtliche Emotionen – von Weinen über Lachen bis zu zustimmender Euphorie – in jedem auslöst, der etwas von Literatur versteht. Hildegunst möchte den geheimnisvollen Autor unbedingt finden, um von ihm zu lernen. Er bricht auf nach Buchhaim, der Stadt der träumenden Bücher, in der sich Antiquariat an Antiquariat reiht und hinterhältige Verleger*innen, Händler*innen sowie die schlimmste Sorte – unfaire Literaturkritiker*innen – zusammenfinden. Doch Bücher können nicht nur träumen, sie können auch gefährlich werden. Hildegunst von Mythenmetz erlebt vergiftete, explodierende und sogar bissige Bücher, die durch die Katakomben der Stadt geistern, in denen die Geschichte zu großen Teilen spielt.

„Manche Toxine verursachten tödliche Lachanfälle oder Gedächtnisverlust, Delirium oder Schüttelsucht. Von anderen fielen einem alle Haare und Zähne aus, oder die Zunge verdorrte. Es gab ein Gift, das, wenn man mit ihm in Berührung kam, einem dünne Stimmen eingab, die so lange in den Ohren sangen, bis man freiwillig aus dem Fenster sprang.“

Moers lässt sich für seine Traumwelt aber noch viel mehr einfallen: Buchlinge, die sich vom Lesen ernähren, Bücherjäger, die auf der Jagd nach wertvollen Büchern vor keinem Mord zurückschrecken, und schließlich den sagenumwobenen Schattenkönig. Dass der Lindwurm in der Geschichte noch ausgesprochen hypochondrisch, ein bisschen tollpatschig und naiv angelegt ist, verleiht ihr noch mehr Komik. Aber die Vorsicht bei seinem mehr oder weniger schiefgehenden Abenteuer ist für Hildegunst ganz wichtig:

„Ich würde nicht hineingehen. Ich war gebrannt und fallengeprüft durch schmerzliche Erfahrung, ich war kein stupider Held, der zur Befriedigung niedriger Unterhaltungsbedürfnisse sein Leben riskierte! Nein, ich würde nicht wirklich hineingehen – ich würde nur ein bisschen hineingehen.“

Wenn der Alptraum zur Komik wird

Walter Moers, der Erfinder der Figur des Käpt’n Blaubär, geht auf eine einzigartige Weise mit Sprache um. Seine Sätze und Wortspiele scheinen einfach, doch sind sie so durchdacht, dass sie regelmäßig für ein Schmunzeln sorgen. Und sogar noch mehr: Die Stadt der Träumenden Bücher löst beim Lesen tatsächlich Lachanfälle aus. Dafür sorgt aber auch die Selbstironie des Autors, wobei Kapitel auch mal Titel tragen wie „Ein sehr kurzes Kapitel, in dem herzlich wenig passiert“.

Auch wenn Hildegunst so sympathisch ist, dass man eigentlich nur Empathie empfinden kann, so ist sein Leid doch auch ein witziger roter Faden, der sich durch das Buch zieht.

„Komisch war, dass inmitten eines Wirklichkeit gewordenen Alptraums, in einem unterirdischen Schloss ohne Ausgang mir schon der Anblick von lesbarer Schrift ein Gefühl von Geborgenheit geben konnte. Deshalb musste ich lachen, oh meine Freunde, schallend und anhaltend. Dann riss ich mich wieder zusammen, auch weil eine einsam lachende Person etwas Verzweifeltes an sich hat.“

Das Buch, das uns zum Träumen bringt

Die Stadt der Träumenden Bücher ist es auf jeden Fall wert, gelesen zu werden. Wer sich von Fantasy-Romanen nicht sofort abschrecken lässt, der erlebt mit Hildegunst von Mythenmetz eine Geschichte, die durch solch eine Phantasie und Tragik geprägt ist, dass man sich manchmal nicht entscheiden kann, ob man weinen oder lachen soll. Die fantasievollen Details, wie beispielsweise Autorennamen wie Ohjann Golgo van Fontheweg (ein Anagramm von Johann Wolfgang von Goethe, aber das habt ihr natürlich sofort bemerkt), wie auch die verrücktesten Wesen mit noch verrückteren Fähigkeiten machen das Buch besonders. Oder habt ihr vorher schon mal von lebendigen und träumenden Büchern gehört?

Moers wurde beim Schreiben des Buches wohl eindeutig vom Orm – der Kraft, die im Buch Kreativität hervorbringt und Schriftsteller wie im Rausch schreiben lässt – durchströmt. Passend dazu sagte der medienscheue Moers im Interview mit der Augsburger Allgemeinen: „Das Schreiben war eigentlich eine Form von regelmäßiger Psychotherapie, ich lag bei mir selber auf der Couch. Das Buch hat sich fast von selbst geschrieben – was ich wirklich nicht von all meinen Büchern behaupten kann.“ Und noch etwas verrät er über seine Branche: Die Bibliothek des Orm, die im Buch voll von unbekannten, aber grandiosen Werken ist, gibt es so ähnlich wohl auch bei ihm Zuhause. Denn gute Bücher schafften es laut Moers oft nicht auf die großen Bestsellerlisten.

Können Bücher träumen?

Und um die eingangs gestellte Frage zu beantworten: Ob Bücher in unserer Welt träumen können, das kann wohl niemand wirklich sagen. Oder habt Ihr schon mal mit einem gesprochen? Aber durch das Buch von Walter Moers, oder besser gesagt von Hildegunst von Mythenmetz, kommen wir auf jeden Fall ins Träumen – von einer Welt in Zamonien mit vielen Abenteuern und noch mehr Büchern. Denn in seinem Buch konnte Moers wohl einen großen Wunschtraum zum Leben erwecken: Eine Stadt voller Bücher und Figuren, die nur für die Literatur leben. Wobei Moers auch deutlich macht, dass die Welt als Schriftsteller*in nicht nur traumhaft ist, sondern durch die falschen Verleger*innen durchaus zum Alptraum werden kann.

Titelbild: © Penguin Random House Verlagsgruppe

 

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„Wenn wir träumen, betreten wir eine Welt, die ganz und gar uns gehört. Vielleicht durchschwimmt er gerade den tiefsten Ozean oder gleitet über die höchste Wolke“, flüstert Hogwarts-Schulleiter Albus Dumbledore im dritten Harry-Potter-Film über den vermeintlich schlafenden Harry gebeugt. Wenn Dumbledore nur wüsste, dass Fans der Buchreihe vermuten, Harry hätte ihn, Hogwarts und die gesamte Zauberwelt nur erträumt. Wir schauen uns eine der verrücktesten Harry-Potter-Theorien genauer an.

Kuriose Fantheorien gibt es nahezu über jedes bekannte Franchise: Fans interpretieren gern Zweideutiges, rätseln über ungelöste Geheimnisse oder rücken mal eben die gesamte Geschichte in ein anderes Licht. Davon bleibt auch die von der britischen Schriftstellering J.K. Rowling erschaffene Harry-Potter-Welt nicht verschont. Theorien wie solche, dass Harrys bester Freund Ron in Wahrheit ein zeitreisender Dumbledore sei, kursieren in zahlreichen Foren und werden heiß diskutiert. Eine dieser Theorien sticht jedoch besonders heraus: Harry sei eigentlich gar kein Zauberer, sondern hätte sich seine Abenteuer nur erträumt. Die miserable Erziehung durch Tante und Onkel Dursley, seinen Zieheltern, hätte Harry dazu veranlasst, sich in eine andere Welt zu fantasieren – in eine, in der er selbst der Held ist und die Macht hat, das Böse zu bekämpfen. Was soll man auch anderes tun, wenn man Zeit seines Lebens in einem Schrank unter der Treppe eingesperrt ist?

Die Theorie stellt Harry als einen psychisch hochgradig belasteten Jugendlichen vor, welcher als Bewältigungsstrategie gleich eine ganze Welt erträumt. Demnach seien Harrys Eltern auch gar nicht von dessen Erzfeind Lord Voldemort getötet worden, sondern tatsächlich bei einem Autounfall gestorben. Ganz so, wie die Dursleys es Harry auch beigebracht haben, um ihn so fern wie möglich von seinem Schicksal als Zauberer zu halten. Das Aufwachsen ohne Eltern und die schlechte Behandlung durch die Dursleys führten schließlich zu seinem psychisch labilen Zustand. So erschütternd diese Theorie auch klingt, die originellen Ausschmückungen der Fans erlauben es unserer Meinung nach, zur genaueren Betrachtung ein klein wenig Galgenhumor in den Gerüchtekessel zu streuen.

Ein Ausraster bringt Harry geradewegs in die Psychiatrie

Der Fantheorie zufolge hatte Harry die miese Erziehung und die Sticheleien seines Cousins und Ziehbruders Dudley satt und beendete den Aufenthalt bei Onkel und Tante mit einem gewaltigen Knall. Im ersten Teil Harry Potter und der Stein der Weisen ist es der Halbriese Hagrid, welcher Harry aus den Fängen der Dursleys befreit, Dudley als Strafe ein Schweineschwänzchen ans Gesäß zaubert und den kleinen Zauberer dorthin bringt, wo er eigentlich hingehört: Nach Hogwarts, der Schule für Hexerei und Zauberei. In ‚Wahrheit‘ soll es Harry selbst gewesen sein, der in einem wilden Anfall den wehrlosen Dudley angegriffen und gefährlich verletzt hat. Das Resultat: der direkte Weg in die Psychiatrie. Bye, Harry.

„Harry, du bist ein Zauberer“, heißt es im ersten Teil an dieser Stelle. Was Hagrid laut Fantheorie wohl eigentlich sagen wollte: „Harry, du bist psychisch krank.“
© Runa Marold

Hogwarts ist gar keine Schule

An dieser Stelle öffnet sich erstmals die Tür zu Harrys fantastischer Traumwelt. Anstatt einer Psychiatrie hat der vermeintliche Zauberer plötzlich ein sagenumwobenes Schloss voller Magie, Wunder und jeder Menge Obskuritäten vor sich. Geister tauchen aus Esstischen hervor, Treppen verschieben sich nach eigenem Willen, Kinder bringen Federn mit Zauberformeln zum Schweben, und in einer geheimen Kammer haust ein gefährlicher dreiköpfiger Hund. Klingt ziemlich irre, oder? Dachten sich auch die Vertreter*innen der Fantheorie und fühlten sich sofort an abstruse Bilder aus anderen filmischen Interpretationen von Psychiatrien erinnert. Harry soll sich demnach von den verrückten Machenschaften anderer Anstaltbewohner*innen inspirieren lassen und darauf aufbauend seine Fantasie-Zauberwelt ersonnen haben. Dumbledore und die anderen Lehrer*innen seien eigentlich die angestellten Ärzt*innen, welche ihr Bestes versuchen um die psychisch kranken Insassen zu behandeln. Und der dreiköpfige Hund? Vielleicht nur eins der von Harry gehassten Therapie-Kuscheltiere. Wer nennt so ein Monstrum schließlich Fluffy?

Hogwarts, die Schule für Hexerei und Zauberei – ist in Wahrheit gar nicht so magisch? Wilkommen in der Psychiatrie, Harry.
© Runa Marold

Harry ist der Star seiner eigenen Welt

Zauberer-Dasein hin oder her, Harrys Identität besteht bei weitem nicht nur aus der Fähigkeit, mit Zaubertricks zu begeistern. Er ist obendrein auch noch der berühmteste Junge der ganzen Zauberwelt. Ein weiteres Indiz für die Fans: Ein vernachlässigter Junge ohne feste Bindungen stellt sich vor, als Auserwählter heldenhaft gegen das Böse zu kämpfen und plötzlich Freunde zu finden, die ihm kopfüber in jede Gefahr folgen. Im auf Besen ausgetragenen Schulsport Quidditch zeigt Harry unvergleichbares Talent, Dumbledore höchstpersönlich ist an ihm interessiert wie an keinem anderen, und der Oberbösewicht Lord Voldemort hat es nur auf ihn abgesehen. Geht es noch klischeehafter?

Harry, der Held aller Zauberer und Hexen? Wer’s glaubt.
© Runa Marold

Dumledore ist Harrys persönlicher Therapeut

Dumbledores Interesse an Harry begründet sich in den Büchern über das wundersame Triumphieren von Baby-Harry über Lord Voldemort. Zahlreiche Gespräche finden über die Jahre hinweg zwischen Harry und Dumbledore statt, alle von ihnen sind von den weisen Ratschlägen des Schulleiters geprägt. Tiefgründige Gespräche über Harrys Dasein? Moment, das klingt doch ganz nach Therapie – denken sich die Verfechter*innen der Theorie und sehen Dumbledore in Wahrheit in der Rolle eines Psychiaters. Anhaltspunkt für diese Interpretation bietet eine im ersten Buch stattfindende Unterhaltung der beiden über den Spiegel Nerhegeb, welcher seinen Betrachter*innen ihre sehnlichsten Wünsche zu offenbaren vermag. Dumbledore warnt Harry davor, dass es Menschen gäbe, die bei seiner Betrachtung wahnsinnig geworden wären. Sie wüssten nicht mehr, ob ihnen der Spiegel etwas Wirkliches oder etwas Wünschenswertes zeige. Hat Harry hier die offene Warnung vor dem Abdriften in seine Traumwelt verarbeitet? Wer weiß. Im Buch erklärt Dumbledore daraufhin, dass er beim Blick in Nerhegeb sich selbst mit einem Paar dicker Wollsocken sehe. Vorausgesetzt, dieses Gespräch entspringe auch nur Harrys Fantasie: Was würde Freud wohl dazu sagen?

Lieber Harry, neigst du etwa in Wahrheit auch zur Gerontophilie? Dumbledore ist zumindest nicht gerade in deinem Alter.
© Runa Marold

Die augenscheinlich Verrückten in Harrys Welt

Wäre Hogwarts eine Psychiatrie, würde das bedeuten, dass Harrys Mitschüler*innen in Wahrheit seine Mitpatient*innen sind. Die Fantheorie begründet diese Behauptung damit, dass einige von ihnen offenbar auch in Harrys Traumwelt nicht mehr alle Tassen im Schrank hätten. Allen voran hüpft die schrullige Luna Lovegood mit ihrem Glauben an Wesen, welche sogar in der Zaubererwelt nur als Hirngespinste belächelt werden. Ihr Name Luna erinnert an lunacy, das englische Wort für Wahnsinn, was diese Deutung unterstützen soll. Ein weiteres Indiz soll der unter Verfolgungswahn leidende Alastor „Mad-Eye“ Moody darstellen. Er tritt im vierten Teil der Reihe zunächst als neuer Lehrer auf, wird am Ende des Schuljahrs jedoch durch die Täuschung über seine wahre Identität selbst zur Gefahr. Sein Nachname bedeutet so viel wie launisch oder unausgeglichen. „Immer wachsam“, poltert Moody stets seinen Schüler*innen entgegen, und die Fantheorie heißt damit die Paranoia in der Hogwarts-Psychiatrie willkommen.

Alastor „Mad-Eye“ Moody und Luna „Loony“ Lovegood: als wäre Harrys eigener Wahnsinn noch nicht genug. © Runa Marold

Lord Voldemort ist Harrys dunkle Seite

Zu guter Letzt vermutet die Fantheorie hinter dem gefährlichen Hauptantagonisten Lord Voldemort eine Projektion von Harrys innerem Wahnsinn. Zwischen beiden Figuren existieren tatsächlich viele Parallelen: Beide sind als Waisen aufgewachsen, gelten in der Zauberwelt als Halbblüter und ihre Zauberstäbe tragen mit den Federn desselben Phönix’ den gleichen Kern. Im Laufe der Geschichte hat Harry immer wieder Visionen und Träume von Voldemort, später teilen sie sogar ihre Gedanken. Der sich durch alle Bücher ziehende Kampf der beiden soll Harrys Bemühungen verarbeiten, Herr über seine psychischen Probleme zu werden. Ein weiteres Indiz sei außerdem der Mord an Harrys Mitschüler Cedric Diggory. Dieser stelle, so die Vermutung, Harrys Wunsch-Ich dar: ein glücklicher, überall beliebter und gut behüteter Junge. Zu perfekt um wahr zu sein, denkt sich Fantheorie-Harry und benutzt sein Alter-Ego Voldemort um Cedric in seiner Traumwelt zu töten. Böser Harry.

Harrys stillschweigende Gedanken: „Tod den Muggeln, Tod den Schlammblütern! Weltherschafft, muhahaha.“ Dream big, Harry.
© Runa Marold

Ein Fünkchen Wahrheit?

Den Galgenhumor beiseite genommen, erscheint die Fantheorie je nach Betrachtungsweise sogar durchaus plausibel. J.K. Rowling erwähnte bereits in einem Interview, dass sie auch selbst mehr als einmal daran gedacht habe, dass Harry im Schrank tatsächlich verrückt geworden sei und ein Fantasieleben entwickelt habe. Auch wenn es denkbarer erscheint, dass die eigentliche Intention für den Kinder- und Jugendroman eine andere war – eines steht fest: Harry Potter ist zu Zaubereien fähig, von denen unsereins nur zu träumen wagt. Und das kann wahrlich neidisch machen. Den heldenhaften Zauberer zu einem Fall für die Psychatrie zu degradieren, wirkt also durchaus menschlich. Es zeigt das Bedürfnis, diese magische und fantastische Welt mit der eigenen Realität in Einklang zu bringen. Wenn wir von einem Leben als Zauberer oder Hexe träumen können, wieso sollte es Harry in unserer Welt nicht genauso ergehen? So oder so ist es stets spannend zu beobachten, welche wundersamen gedanklichen Abzweigungen sich uns dank der Träumereien von Fans eröffnen können. Oder wer ist hier eigentlich am Träumen?

 

Vielen Dank an Zwischenbetrachtung-Autorin Runa Marold für die visuellen Pointen!

Titelbild: ©unsplash

 

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Kopf mit bunter Wolke Träume

Schlaf und Traum hängen biologisch gesehen eng zusammen. Doch während wir nachts friedlich schlummern und der Körper nahezu regungslos daliegt, arbeitet das Gehirn mehr, als wir je zu träumen wagten. Warum die REM-Phase dabei eine entscheidende Rolle spielt, erklären wir euch im folgenden Beitrag.

Bei Menschen unterscheidet man zwischen fünf Schlafstadien, wie im Werk Biologische Psychologie von Rainer Schandry erläutert wird. Dabei werden vier als sogenannte Non-REM Stadien und die fünfte als REM-Stadium bezeichnet. Das erste ist das Wachstadium, also das Stadium, in dem wir uns unmittelbar vor dem Einschlafen befinden. Stadium eins umfasst schließlich eine gewisse Übergangsphase zwischen dem Wachzustand und unserem Schlaf. Dabei schaltet der Körper zunehmend in den Ruhemodus. Beim Schlafen verbringen wir die meiste Zeit in Stadium zwei, welches man als sogenanntes Leichtschlafstadium bezeichnet. Die Schlafstadien drei und vier, die auch als Slow Wave Sleep bekannt sind, stehen schließlich für den mittleren bis Tiefschlaf.

Der Mensch durchläuft fünf Schlafstadien, bei denen das REM-Stadium hier rot dargestellt ist und Stadium eins ähnelt.

Wann träumen wir genau?

Ein wichtiges Schlafstadium in Bezug auf unsere Träume ist das fünfte, sogenannte REM-Stadium, auch REM-Schlaf genannt. Die Abkürzung REM steht für Rapid Eye Movement, da in der Forschung, während des menschlichen Schlafes untypische, schnelle Augenbewegungen festgestellt wurden. Eine dabei registrierte Gehirnaktivität ist sonst nur im Wachzustand üblich. Aus wissenschaftlichen Beobachtungen in den 1950er Jahren ging schließlich hervor, dass unsere Träume meistens im REM-Stadium ablaufen.

John P. J. Pinel und Paul Pauli schreiben in ihrem Lehrbuch Biopsychologie, dass der REM-Schlaf im Jahr 1953 von dem Schlafforscher Nathaniel Kleitman und seinem Studenten Eugene Aserinsky entdeckt wurde. 80 Prozent der aus dem REM-Schlaf geweckten Proband*innen berichteten anschließend von einem Traum. Währenddessen waren es beim Aufwecken aus dem Non-REM Stadium gerade mal sieben Prozent.

Bis wir einmal alle Schlafstadien durchlaufen haben, vergehen nach dem Lehrbuch Biopsychologie von Thomas Köhler wiederum circa 90 Minuten. Danach geht der gleiche Zyklus wieder von vorne los – und das ungefähr fünfmal pro Nacht. Dabei nehmen die Tiefschlafstadien zunehmend ab, während der Anteil an REM-Schlaf zunimmt. Übrigens findet der REM-Schlaf nicht ausschließlich beim Menschen, sondern auch bei Säugetieren jeder Art statt. Neben dem Non-REM Schlaf und unserem Wachzustand wird der REM-Schlaf als dritter Bewusstseinszustand betitelt.

Was zeichnet den REM-Schlaf aus?

Als auffälliges, körperliches Merkmal gilt, laut Schandry, im REM-Stadium die schnelle Augenbewegung. Diese kann man aber nicht kontinuierlich beobachten, sondern sie treten in gewissen Schüben auf, den sogenannten REM-Bursts. Grob entspricht das ein bis vier Rollbewegungen der Augen pro Sekunde, welche sich auch unter geschlossenen Augenlidern erkennen lassen. Diese sind doch nicht zwingend mit dem jeweiligen Trauminhalt in Verbindung zu bringen. Die erhöhten Genitaldurchblutungen, die ebenfalls typisch für den REM-Schlaf sind, lassen sich auf eine zunehmende Durchblutung zurückführen. Ein weiteres Merkmal dieses Schlafstadiums ist die muskuläre Inaktivierung. Die Muskeln werden dabei deswegen so gehemmt, um das intensive Ausleben des Traums nicht durch unkontrollierte Bewegungen zu unterbrechen.

Der REM-Schlaf wird auch oft als paradoxer Schlaf bezeichnet, da er einerseits dem Wachzustand eines Menschen sehr ähnelt, es andererseits jedoch schwer ist, jemanden aus diesem Schlafstadium aufzuwecken. In der Schlafforschung würde man sagen, dass die Weckschwelle sehr hoch ist, also ein sehr starker Reiz ausgelöst werden muss, um eine schlafende Person daraus zu wecken. Der REM-Schlaf macht in einer herkömmlichen Nacht bei einem erwachsenen Menschen ca. 20 Prozent dessen Schlafes aus. Um zwischen Non-REM und dem REM-Stadium zu wechseln, finden in unserem Gehirn einige komplexe Vorgänge statt, an denen verschiedene Neuronen und Zellen beteiligt sind.

Die Theorien von Freud und Hobson

Der amerikanische Professor für Psychiatrie, Allan Hobson, erklärt den Zusammenhang zwischen dem REM-Stadium und dem bevorzugten Auftreten von Träumen folgendermaßen: Träume seien das Endprodukt mehrerer inkohärenter, also zusammenhangsloser, Informationen aus verschiedenen Hirnregionen. Dabei versuchten die Assoziationsregionen, also die Bereiche der Hirnrinde, die zur Informationsverarbeitung von Sinneseindrücken zuständig sind, sozusagen ‚das Beste daraus zu machen‘, nämlich unseren Traum.

Aus Sigmund Freuds Traumtheorie haben sich viele Menschen die Meinung gebildet, dass Träume unsere versteckten Wünsche und Gedanken wiedergeben. Ein weiterer Ansatz aus dem Werk Biopsychologie von Pinel und Pauli, der sich hingegen spezifischer auf den REM-Schlaf bezieht, ist die Aktivierungs-Synthese-Theorie von Hobson aus dem Jahre 1989. Diese besagt, dass während des REM-Schlafs unserem Cortex, also unserer äußeren Schicht des Großhirns, beliebige Informationen zukommen. Diese werden versucht in etwas Sinnvolles umzuwandeln, was dann unseren Traum ergibt.

Im Vergleich zu Freud, bei dem der Fokus eher auf unterdrückten Gedanken liegt, ergibt sich bei Hobsons Theorie die Bedeutung unserer Träume also daraus, was unser Gehirn, neben den zufälligen Informationen, mit gespeicherten Erinnerungen verbindet.

Die wichtigsten Erkenntnisse auf einen Blick

Aus dem Zusammenhang zwischen dem REM-Stadium und Träumen haben sich viele Annahmen entwickelt, die empirisch überprüft wurden. Beispielsweise vertreten viele Menschen die Ansicht, dass Träume von äußeren Reizen beeinflusst werden können. Der Versuch der Schlafforscher Dement und Wolpert 1958 zeigte, dass von 33 Personen, die sie während des REM-Schlafs mit Wasser bespritzten, 14 nach dem Aufwachen von tropfendem Wasser oder ähnlichem in ihrem Traum berichteten.

Dass jeder Mensch träumt, hat die Traumforschung bereits herausgefunden, wie aus unserem Interview mit Michael Schredl hervorging. Bei Personen, die dennoch behaupten, sie würden nicht träumen, konnten bei Untersuchungen jedoch ebenfalls Traumberichte während des REM-Stadiums festgestellt werden. Dass Schlafwandeln und Sprechen im Schlaf hingegen mit unseren Träumen zusammenhängen, wie vielleicht viele denken, ist nicht der Fall. Im Gegenteil – beides tritt während der REM-Phase am wenigsten auf, sondern eher im Schlafstadium 4 und somit im Tiefschlaf.

Falls bei euch also bald der nächste Traum folgt, denkt daran: Es ist sehr wahrscheinlich, dass ihr euch dabei in dem REM-Stadium befunden habt und euer Gehirn versucht, für euch etwas Sinnvolles zusammenzureimen.

Titelbild: © Pixabay

 

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Kopf mit bunter Wolke Träume

 

Eine nebelverhangene Berglandschaft, unheimliche Dämonen, die ihre schlafenden Opfer heimsuchen, märchenhafte Erzählungen und eine geheimnisvolle blaue Blume – die Epoche der Romantik fasziniert auch heute noch mit ihrer Vorliebe für das Fantastische und Unerklärliche. Auch dem Traum kommt in der Romantik eine bedeutende Rolle zu, denn hier vereinen sich Realitätsflucht, unbewusste Wünsche, Sehnsüchte und die tiefen Abgründe der menschlichen Seele. 

Die Epoche der Romantik wird auf den Zeitraum zwischen 1789 und 1848 dateiert. Revolutionen, Kriege, der Beginn der Industrialisierung und die Errungenschaften der Aufklärung prägten den Zeitgeist. Vertreter*innen der Aufklärung appellierten an den menschlichen Verstand und die Vernunft, mit deren Hilfe sich die Welt vollständig erklären lassen sollte. Die Romantik entstand als Gegenantwort auf das rationalistische Weltbild der Aufklärung. Denn für Romantiker*innen war die Welt eben nicht einzig durch den menschlichen Verstand erklärbar. Sie sehnten sich nach dem Unerklärlichen, Fantastischen, wollten aus der Realität ausbrechen und zur Naturverbundenheit zurückkehren. Vertreter*innen der Romantik stellten den Menschen als fühlendes, emotionales Wesen wieder in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Sie interessierten sich für das Verborgene der menschlichen Gefühlswelt und die subjektive Wahrnehmung des Einzelnen. 

Es ist also nicht verwunderlich, dass der Traum ein wiederkehrendes Motiv der Romantik ist. Sowohl in der Musik als auch in der Literatur und Malerei der Epoche beschäftigte das Traummotiv die Romantiker*innen intensiv. Dabei waren Querverbindungen zwischen den verschiedenen Gattungen der Kunst nicht unüblich. Vertreter*innen der Romantik inspirierten sich gegenseitig, nahmen aufeinander Bezug und legten sich dabei selbst oft nicht nur auf eine Kunstgattung fest.  

Realitätsflucht, die Abgründe und das Verborgene der menschlichen Seele, der Ausdruck von Fantasie, Prophezeiungen der Zukunft – all das wurde für Romantiker*innen im Traum sichtbar und möglich. Jedoch kam dem Traum dabei keinesfalls eine einheitliche Funktion zu.  

 Traumhafte Landschaften

Für Romantiker*innen wie Caspar David Friedrich, einen der bekanntesten Vertreter der romantischen Landschaftsmalerei, war der Rückbezug des Menschen zur Natur ein leitendes Motiv. Hierin verbirgt sich sowohl der Wunsch, der sich verändernden, zunehmend industrialisierten Welt zu entfliehen, als auch die Sehnsucht, fremde Welten und Landschaften zu erleben.  

„Kreidefelsen auf Rügen“ (Caspar David Friedrich, 1818)
© Wikimedia Commons

Friedrichs Werke sind Sinnbild für das Streben unbekannte Orte zu bereisen und der Realität zu entfliehen. Seine unwirklich schönen Szenerien wirken dabei, als wären sie selbst einem Traum entsprungen. Fast schon einsam wirken die Figuren im Bild, wie sie die atemberaubende Landschaft betrachten, die sich ihnen bietet. Sie scheinen ganz im Anblick der Natur versunken, frei von allen sonstigen Einflüssen. Die für Friedrich typischen Rückenfiguren laden Betrachter*innen dazu ein, den Blick ebenfalls in die Ferne der Gemälde schweifen zu lassen und so die Wirklichkeit auch für einen Augenblick zu verlassen.

Der Wanderer über dem Nebelmeer“ (Caspar David Friedrich, 1818)
© Wikimedia Commons

Die blaue Blume und das Tor zur menschlichen Seele

Für Romantiker*innen galt der Traum als essentielle menschliche Erfahrung und bot einen Zugang zu verborgenen Gefühlswelten. Auch in Novalis Roman Heinrich von Ofterdingen nimmt der Traum eine wichtige Rolle im Entwicklungsprozess des Protagonisten Heinrich ein. Dieser sammelt im Erleben seiner Traumwelten entscheidende Erfahrungen, die zu seiner Charakterbildung beitragen. Sie ermöglichen ihm außerdem Einblicke in seine eigenen Wünsche und Sehnsüchte. Durch eine Erzählung erfährt Heinrich von einer geheimnisvollen und wertvollen blauen Blume. Von da an ist er fasziniert von dieser Blume und wünscht sich nichts sehnlicher, als diese zu finden. Im Traum erscheint ihm die blaue Blume, welche sich im Laufe der Handlung als Sinnbild seiner unbewussten Wünsche und seinem Bedürfnis nach neuen Lebenserfahrungen herauskristallisiert. Die blaue Blume wurde so zum leitenden Symbol der Romantik und von zahlreichen Vertreter*innen der Epoche aufgegriffen. 

„Die blaue Blume“ (Fritz von Wille, 1906/07)
© Wikimedia Commons

Der Schrecken im Traum

Alptraumhafte, dämonische Gestalten, Wahnsinn und schaurige Geschichten – die Strömung der Schwarzen Romantik ist nichts für schwache Nerven. Vertreter*innen, zu denen unter anderem E.T.A Hoffmann und Johann Heinrich Füssli zählten, sorgten bei ihrem Publikum für Schrecken und Faszination. Geisterhafte Dämonen, die sich im Schlaf der Seele ihrer Opfer bemächtigen und von Alpträumen geplagte Protagonist*innen lassen in die tiefen Abgründe der menschlichen Psyche blicken und machen verborgene Ängste und Sehnsüchte erkennbar. So offenbaren sich dem Protagonisten in Hoffmanns Schauerroman Der Sandmann, im Traum traumatische Erlebnisse aus seiner Kindheit. Seine immer wirrer, erschreckender und realer wirkenden Träume zeichnen außerdem auf, wie der Protagonist zunehmend seinen eigenen Wahnvorstellungen verfällt. Füsslis Figur des Schäfers wird dagegen im Schlaf von geisterhaften Wesen heimgesucht, die in seine Träume einzudringen versuchen. Die koboldhaften Gestalten umzingeln den Schlafenden geradezu, und halten ihn in ihrem Bann gefangen. Das Traummotiv wird hier mit dem Übergang in eine phantastische Zwischenwelt verknüpft, in welcher wir auch vor unheimlichen Dämonen nicht sicher sind – am allerwenigsten vor unseren eigenen. Als Inspirationsquelle diente Füssli dabei John Miltons Gedicht Paradise Lost.

„Der Traum des Schäfers“ (Johann Heinrich Füssli, 1793) ©Wikimedia Commons

 

Romantik – mehr als nur eine Epoche 

Ansichten, Gedanken und Fragen der Romantik sind längst nicht mehr an den zeitlichen Rahmen der Epoche gebunden, sondern vielmehr als Weltanschauung zu verstehen, die auch heute noch einflussreich ist. Träume werden auch in zeitgenössischer Literatur, im Film und in der Kunst als Einblicke in die innere Gefühlswelt des Menschen und als Offenbarung des tief Verborgenen interpretiert. Ebenso fasziniert das Unerklärliche und Fantastische, das von unseren Traumwelten ausgeht, noch immer. Der Traum der Romantik hat sich damit also noch lange nicht ausgeträumt.