Es ist das Jahr 2096: Alle Menschen leben gleichberechtigt bis ins hohe Alter, Armut und Krankheit sind besiegt, es herrscht Weltfrieden. Der Klimawandel wurde aufgehalten, unseren Urlaub verbringen wir nicht mehr auf Mallorca, sondern auf dem Mond und zur Arbeit kommen wir in Flugtaxis. Klingt utopisch? Ist es auch! Aber ist es deshalb auch unrealistisch? Wofür brauchen wir als Gesellschaft eigentlich Utopien und müssen sie unbedingt wahr werden? Wir haben nachgefragt beim Philosophen Bernd Villhauer und der angehenden Zukunftsforscherin Rosa Berndt.

Der Begriff ‚Utopie‘ stammt aus dem Griechischen und bedeutet „ohne Ort“ oder „Nicht-Ort“. Unter einer Utopie versteht man die Idee von einer besseren oder idealen Gesellschaft – diese ist allerdings noch „ohne Ort“, existiert also noch nicht in der realen Welt. Der Begriff wurde erstmals von Thomas Morus im Titel seines 1516 erschienenen Romans Utopia genutzt. Der Roman berichtet vom Inselstaat Utopia, in dem alle Menschen gleich gekleidet sind und ein Arbeitstag nur sechs Stunden dauert, Geld und Privateigentum existieren nicht. Klingt erstmal traumhaft, ist in Wahrheit aber eine scharfe zeitgenössische Gesellschaftskritik.

Utopien als solche gab es allerdings auch schon davor, denn die Menschheit träumte wahrscheinlich schon immer von einer besseren Welt. Der niederländische Journalist und Autor Rutger Bregman beginnt sein 2016 publiziertes, populäres Buch Utopien für Realisten mit dem Satz: „Früher war alles schlechter.“ Im ersten Kapitel zeichnet der Autor die Entwicklung der Welt der letzten 200 Jahre nach und kommt zu dem Ergebnis, dass unser heutiger Lebensstandard so ziemlich einer mittelalterlichen Utopie entspräche. Dies ist für Rutger Bregman aber auf keinen Fall eine Rechtfertigung dafür, in der heutigen Zeit auf Utopien zu verzichten. Er zitiert den Autor Oscar Wilde, der in seinem Werk Der Sozialismus und die Seele des Menschen schrieb:

„Eine Weltkarte, in der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient keinen Blick, denn sie lässt die eine Küste aus, wo die Menschheit ewig landen wird. Und wenn die Menschheit da angelangt ist, hält sie Umschau nach einem besseren Land und richtet ihre Segel dahin. Der Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien.“

Der Traum von einer besseren Welt

Wieso ist dieser Traum von einer besseren Welt so wichtig für uns Menschen? „Weil wir ohne Hoffnungen und ohne große Erzählungen über gute Entwicklungen gar nicht auskommen“, meint Bernd Villhauer, Philosoph und Geschäftsführer des Weltethos-Instituts in Tübingen. Seiner Meinung nach lassen uns Utopien die Realität besser begreifen, spenden Hoffnung und setzen Kräfte frei, um Veränderungen zu erwirken. Rosa Berndt studiert an der Freien Universität Berlin im Masterstudiengang Zukunftsforschung und forscht zum Thema Utopien. Sie sagt, Utopien führen dazu, „dass ein Ziel da ist, dass man nicht nur in der Gegenwart bleibt und gegen etwas auf die Straße geht, sondern dass wir wissen wofür, weil wir ein Bild davon haben, wie die Welt aussieht, wenn wir es schaffen, sie zu verändern.“

Das Bild zeigt das Schild einer Demonstrantin bei einer Fridays for Future Demo

Utopie kein Klimawandel oder Dystopie ‚Öko-Diktatur‘? Alles eine Frage der Perspektive. © Pixabay

Dies betont auch Rutger Bregman in Utopien für Realisten: „Wie Humor und Satire stößt auch die Utopie die Fenster des Geistes auf. Und das ist unerlässlich.“ Dies ist gerade in Krisenzeiten bemerkbar. Zwar entstehen Utopien laut Rosa Berndt unabhängig von der Situation in der Welt, dennoch steige das gesellschaftliche und mediale Interesse an Utopien, je mehr sich Krisensituation in der Welt zuspitzen. Hierzu schreibt Rutger Bregman: „Utopien verraten stets mehr über die Zeit, in der sie entwickelt werden, als über das, was uns in der Zukunft erwartet.“

Während die einen mittels Utopie von einer besseren Welt träumen, sehen allerdings andere einen völligen Alptraum auf sie zukommen. So träumen die einen aktuell von einer Zukunft ohne Klimawandel, während die anderen die Dystopie einer ‚Öko-Diktatur‘ fürchten. Für Bernd Villhauer können Utopie und Dystopie nicht getrennt voneinander existieren und sind auch keine Gegenkräfte, sondern eng miteinander verwandt. Für ihn ist das „Faszinierende an der Utopie, dass sie auch umkippen kann, dass sie sich dann auch in einer ganz furchtbaren Form verwirklichen kann.“ Und dies kann ganz einfach passieren: „Sie können jeden utopischen Entwurf nehmen und wenn Sie an bestimmten Rädern drehen, sind Sie sofort in einer ganz schrecklichen Gesellschaft.“

Utopien zum Realisieren?

Darüber, ob Utopien unbedingt wahr werden müssen, gibt es unterschiedliche Ansichten. Dies lässt sich bereits in unterschiedlichen Definitionen des Begriffes feststellen: Während der Duden die Utopie als einen „undurchführbar erscheinende[n] Plan; Idee ohne reale Grundlage“ versteht, definiert Wikipedia den Begriff ‚Utopie‘ als „Entwurf einer möglichen, zukünftigen, meist aber fiktiven Lebensform oder Gesellschaftsordnung, die nicht an zeitgenössische historisch-kulturelle Rahmenbedingungen gebunden ist“. Je nach Definition besteht also die Möglichkeit, eine Utopie zu verwirklichen – oder eben auch nicht. Für Bernd Villhauer sind Utopien „nicht deshalb wichtig, weil sie verwirklicht werden.“ Im Gegenteil – er bezweifelt sogar, dass sie grundsätzlich überhaupt realisierbar sind. Das müssen sie aber auch gar nicht, um zu Veränderungen zu führen. Interessant ist auch, wer laut ihm die Veränderungen schlussendlich herbeiführt:

„Oft sind es dann nicht die utopischen Denker, die die Veränderung bringen, sondern die kleinteiligen Leute, die an den Strukturen arbeiten. Die Reformer erreichen meist viel mehr als die Revolutionäre, aber man braucht eine große Erzählung, eine große Hoffnung, um überhaupt zum Reformer werden zu können.“

Für Rosa Berndt sind Utopien generell realisierbar: „Die genaue Definition von Utopien ist, dass sie ein Nicht-Ort sind, das heißt sie existieren noch nicht, aber dass sie nicht realistisch sind würde ich nicht sagen. An sich sind sie noch nicht existent, aber sie existieren ja in der Vorstellung und sind damit schon real. Ich glaube alles, was in der Vorstellung existiert kann auf die eine oder andere Weise auch Realität werden.“ Die Idee, dass Utopien gar nicht real werden müssen, findet sie sehr spannend. Allerdings hält sie fest, dass sogenannte ‚Real-Utopien‘, wie zum Beispiel das bedingungslose Grundeinkommen, eben nicht nur zu neuen Ideen anstoßen möchten, sondern das Ziel verfolgen, tatsächlich realisiert zu werden.

Dass Utopien verwirklicht werden können, erleben wir momentan tatsächlich: Lange Zeit waren Kreislaufwirtschaft und nachhaltige Ökonomie eine bloße Utopie, die nun in Teilen der Wirtschaft real wird – wir erleben also momentan eine ‚Utopie in-the-making‘, wie Bernd Villhauer es nennt. Übrigens können Utopien und utopisches Denken darüber hinaus auch durchaus reale Auswirkungen auf Menschen haben, wie ein Forschungsteam der University of Melbourne 2018 herausfand. So zeigte die Studie Functions of utopia: How utopian thinking motivates societal engagement, dass Menschen, die gegenüber Utopien positiver eingestellt sind, auch eine höhere Bereitschaft besitzen, die Welt durch gesellschaftliches Engagement zu verändern.

Zukunftsträume

Sticker mit der Aufschrift "The Future is unwritten"

Wie soll unsere Zukunft aussehen? Utopien können dafür Wegweiser sein. © Unsplash

Sind Utopien und Träume also ein und dasselbe? Nein, sagen Bernd Villhauer und Rosa Berndt. Eine Utopie sei konkreter formuliert und klarer als ein Traum. Rosa Berndt bezeichnet den Traum als „eine bloße Vorstellung im Unterbewusstsein“, die Utopie hingegen sei „das Bildnis des Traums“. Laut ihr sind Utopien konkreter, weil sie sich meistens nicht (mehr) auf die ganze Weltstruktur beziehen, sondern sich – wie beispielsweise das bedingungslose Grundeinkommen – auf einzelne Aspekte konzentrieren. Auch Visionen werden oft in Zusammenhang mit Utopien genannt. Diese sind Bernd Villhauer zufolge ebenfalls unkonkreter als Utopien, fungieren aber als Grundlage dafür, dass Utopien überhaupt entstehen können: „Keine gute und glaubwürdige Utopie ohne Vision.“

Von welchen Utopien wir aktuell träumen, ist sehr vielfältig. Am bekanntesten ist wohl die Utopie des bedingungslosen Grundeinkommens. Auch eine Reduzierung der Arbeitszeit, wie sie zum Beispiel in Island erfolgreich getestet wurde, oder die Vereinbarkeit von Beruf und Familie gehören beispielsweise dazu. Als zeitgenössische Utopien können außerdem das Aufhalten des Klimawandels, die Beseitigung von Diskriminierung und aufgrund der aktuellen Lage, das Leben ohne Einschränkung durch eine Pandemie oder Viren gelten.

Welche Utopien uns in der Zukunft beschäftigen werden, das können selbst Zukunftsforscher*innen heute noch nicht vorhersagen. Rosa Berndt prognostiziert aber, dass sich auch in Zukunft weiterhin viel darum drehen wird, „wie Wirtschaft und Nachhaltigkeit zusammen funktionieren“ oder wie Wachstum anders gedacht werden kann. Und auch wenn viele Utopien erstmal zu unrealistisch klingen, als dass es sich tatsächlich lohnen würde, weiter an sie zu glauben: Viele gesellschaftspolitische Utopien wie zum Beispiel das Ende der Apartheid oder das Frauenwahlrecht galten lange Zeit als absolut unrealistisch und sind doch für uns heute Normalität. Auch deshalb lohnt es sich für uns, weiter vom gesellschaftlichen Fortschritt zu träumen.

Titelbild: © Pixabay

 

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Kopf mit bunter Wolke Träume

1 Antwort
  1. Hannah Braun
    Hannah Braun sagte:

    Die Idee der Utopie finde ich richtig spannend! Gerade die Unterscheidung zwischen Denkern und Reformern macht für mich total Sinn. Ich glaube es gibt immer Menschen, die große Visionen haben und andere, die diese schließlich durch kleine, realisierbare Schritte in die Tat umsetzen. Ich frage mich aber auch, ob Utopie immer mit Entwicklung gleichzusetzen ist… Ich habe da beispielsweise an die (post)koloniale Entwicklungshilfe gedacht, die für die betroffenen Länder ja nicht unbedingt utopische Folgen mit sich bringt.

Kommentare sind deaktiviert.