Als Conchita Wurst 2014 den Eurovision Song Contest gewann, war sie für viele Zuschauer ein ungewöhnlicher Hingucker. Die Kunstfigur des Travestie-Künstlers Thomas Neuwirth performte auf der Bühne in schickem Kleid, mit wallenden Locken und – mit Bart. Conchita bricht bewusst mit dem stereotypen Aussehen der Geschlechter. Es gibt jedoch Frauen, die tatsächlich durch eine Hormonstörung eine eher männlich konnotierte Behaarung zeigen und darunter sehr leiden. Was hinter dieser Krankheit steckt und wie verschiedene Betroffene damit umgehen, wird hier genauer vorgestellt.
In diesem Blog konnte man schon einiges über die verschiedenen Schönheitsideale der Haare bei Männern und Frauen lesen. Auch die Probleme, die damit einhergehen, wenn man nicht in dieses Ideal passt, wurden schon in einigen Einträgen behandelt. Oft scheint es, als gäbe es einen starken Zusammenhang zwischen der Körperbehaarung und dem Selbstbewusstsein gibt. So ist es auch bei Frauen, die an Hirsutismus (lat. hirsutus: struppig, bärtig) erkranken.
Zu viel männliche Hormone
Dass manche Frauen einen leichten Damenbart haben, ist nichts Ungewöhnliches. Dass Frauen jedoch ein regelrechter Vollbart wächst und sie auch an anderen Stellen ihres Körpers deutlich stärker behaart sind, ist hingegen ungewöhnlich. Diese Frauen leiden unter einer Krankheit, die sich Hirsutismus nennt. Dabei sind diejenigen Körperstellen stärker behaart, die unter dem Einfluss von Geschlechtshormonen stehen, wie Gesicht, Brust, Bauch, Genitalregion und Oberschenkel. Der weibliche Körper produziert sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtshormone (Östrogen und Testosteron) an den Eierstöcken und an der Nebennierenrinde. Wenn diese in einem Ungleichgewicht vorliegen, also zu wenig Östrogen oder zu viel Testosteron produziert wird, macht sich das am Körper bemerkbar. Die Ursachen hierfür können sehr vielfältig sein. Einige Frauen leiden unter dem polyzystischen Ovarialsyndrom, einer Zystenbildung an den Eierstöcken, bei anderen kann eine Tumor-Erkrankung der Auslöser sein. Viele Ursachen können jedoch auch nicht genau diagnostiziert und daher auch nicht behandelt werden.
Da die Übergänge zwischen weiblicher und männlicher Behaarung sehr fließend sind, ist eine genaue Häufigkeit der Erkrankung schwer festzustellen. Bei vielen Frauen kann eine stärkere Behaarung an Gesicht und Körper auch genetisch bedingt sein oder an der ethnischen Zugehörigkeit liegen. Auch die Menopause kann sich auf die Körperbehaarung auswirken. Ab dem 40. Lebensjahr sinkt die Östrogen-Produktion ab, während gleichzeitig die Testosteron-Produktion gleichbleibt. Dadurch wird das Kopfhaar feiner, und das Körperhaar kann zunehmen.
Umgang mit den unerwünschten Haaren
Bei den meisten Formen des Hirsutismus kann die Hormonstörung selbst nicht behandelt werden. Zwar kann bei leichten Problemen die Einnahme von Hormonpräparaten wie der Antibabypille helfen, bei einem starken Hirsutismus jedoch kaum. Viele Betroffene schämen sich für ihr Erscheinungsbild und tun alles, um die starke Behaarung zu verstecken und loszuwerden. Es bleibt ihnen oft nur das Rasieren, Epilieren oder Lasern als Möglichkeit, die Haare zu entfernen. Sucht man im Internet nach natürlichen Mitteln der Hormonregulierung, findet man einige Tipps. So soll viel Pfefferminztee trinken den Testosteron-Spiegel senken und das Essen von Soja-Produkten den Östrogen-Spiegel erhöhen. Ob dies jedoch bei einer stärkeren Hormonstörung wirklich hilft, ist fraglich. Auch vorbeugende Maßnahmen, außer dem Verzicht auf Anabolika, gibt es nicht.
Das Problem des Hirsutismus ist oft nicht die Krankheit an sich, sondern die Folgen, die damit verbunden sind. In den meisten Fällen sind die zusätzlichen Haare für den Körper nicht schädlich. Die psychische Belastung, durch die starke Behaarung nicht in das Schönheitsideal zu passen, ist für viele betroffene Frauen jedoch das eigentliche Problem. Oft treten die ersten Anzeichen mit Beginn der Pubertät auf, wenn die Hormone anfangen, aktiv zu werden. Viele junge Mädchen trauen sich nicht, es den Eltern oder einem Arzt zu sagen und beginnen sich täglich zu rasieren, um nicht aufzufallen.
Rasur oder Vollbart?
Bei der Recherche nach Haltungen von Betroffenen findet man im Internet nur sehr wenige Frauen, die bereit sind, über ihre Krankheit zu sprechen. Eine davon ist Rose Geil, eine Amerikanerin, die seit ihrem 13. Lebensjahr an dem polyzystischen Ovarialsyndrom leidet. In verschiedenen Interviews berichtet sie, wie sie als Jugendliche sehr unter ihrem Aussehen litt. In die Schule ging sie nur ungern, trug ausschließlich lange Kleidung und traute sich nie, bei Freundinnen zu übernachten. Im Jahr 2015 beschloss die damals 38-Jährige, dass sie so nicht mehr leben kann und warf ihren Rasierer weg. Es dauerte eine Weile, bis sie sich an ihren Bart gewöhnte, doch sie fühlte sich besser als je zuvor. Auch die vielen positiven Rückmeldungen, die sie sowohl von Freunden als auch von Unbekannten bekam, halfen ihr, ein neues Selbstbewusstsein aufzubauen. Nun ist sie stolz auf ihren Bart und fühlt sich trotzdem weiblicher denn je.
Ungewöhnlicher Weltrekord
Auch die Engländerin Harnaam Kaur bekam mit 11 Jahren die Diagnose polyzystisches Ovarialsyndrom. Sie war damals froh, endlich zu wissen, warum sie so viel behaarter ist als ihre Freundinnen. Doch viele in ihrer Schule zeigten sich ihr gegenüber wenig offen. Sie wurde stark gehänselt, gemobbt und fing an sich zu verletzen und über Selbstmord nachzudenken. Mit 16 Jahren konvertierte sie zum Sikh-Glauben, einer Religion, die es verbietet sich die Haare zu schneiden. Zum ersten mal ließ sie ihren Bart wirklich wachsen und wurde dafür nicht ausgelacht, sondern akzeptiert und gut behandelt. Sie fand neues Selbstbewusstsein und beschloss auch ein Vorbild für weitere Frauen zu werden. Heute ist sie „Body Confidence“-Aktivistin, erfolgreiche Rednerin zum Thema Körperbewusstsein, Instagram-Star mit 113.000 Followern und Model auf der Londoner Fashion Week. 2016 kam sie sogar mit dem Titel „Jüngste Frau mit Vollbart“ in das Guinnessbuch der Rekorde und ist sehr stolz darauf.
Neben Rose Geil und Harnaam Kaur gibt es sicherlich auch viele betroffene Frauen, die sich nicht dazu durchringen können, mit ihrer Krankheit offen umzugehen. Vielleicht sollten wir nicht betroffenen Frauen auch das nächste Mal darüber nachdenken, ob uns unser kleiner Damenbart oder die leichten Stoppeln an den Beinen wirklich so sehr stören. Mehr dazu in debbleapples Blog-Eintrag: „Hauptsache glatt – Über das weibliche Schönheitsideal unserer Generation“. Sucht man bei Männern nach einer Form dieser Erkrankung, so findet man nicht viel. Bei ihnen äußern sich Störungen im Testosteron- und Östrogenspiegel eher durch Impotenz oder einem höheren Körperfettanteil. Dass ihnen aber der Bart ausfällt oder ihr Körper und Haar in sonst einer Weise „verweiblicht“, ist äußerst selten und deutlich schwächer.
Weiterlesen über Hirsutismus: https://www.endokrinologie.net/krankheiten-hirsutismus.php
Instagram: Rose Geil und Harnaam Kaur
Danke für Deinen gelungenen Beitrag! Es ist wirklich erstaunlich, wie viele Krankheiten es gibt, die unmittelbar das menschliche Haar, sei es auf dem Kopf oder am Körper, betreffen. Wenn man in Deinem Beitrag vom Schicksal der betroffenen Frauen liest, bringt einen das wirklich zum Nachdenken – wie Du auch selbst schon betonst: stören kleine Stoppeln am Bein oder ein leichter Damenbart wirklich so sehr? Nach Deinem und auch Debbies Beitrag werden sicher noch mehr LeserInnen zukünftig darüber nachdenken..
Man hört oder liest öfters von solchen Krankheiten, macht sich aber nie wirklich weitere Gedanken dazu. Umso spannender fand ich es daher, in deinem Beitrag mehr darüber zu lesen. Dass Betroffene trotz schwerer Kindheit inzwischen zu ihrem Aussehen stehen können und sich weiblich und selbstbewusst fühlen und auch zeigen, fand ich sehr schön. Daran kann man sich auf jedenfall ein Beispiel nehmen.
Ich finde den Beitrag auch sehr gelungen, weil du zunächst erklärst wie der Haarwuchs biologisch zustande kommt und anschließend Beispiele bringst, die das veranschaulichen. Dein Fazit gefällt mir auch sehr gut. Ich denke die meisten Frauen machen sich sehr viele Gedanken über ihren Haarwuchs, egal ob der nun stark ist oder nicht und da schließe ich mich nicht aus. Das liegt sicherlich auch daran, dass es gesellschaftlich vorgeschrieben ist, was als weiblich gilt. In den vermutlich meisten Gesellschaften ist eine Frau mit wenig oder keinen Haaren weiblicher. Frauen, die davon abweichen werden schräg angeschaut und im schlimmsten Fall dafür gehänselt, wie du bereits mit Rose Geil und Harnaam Kaur gezeigt hast. Ich hoffe, dass Frauen, die mit solchen Problemen zu kämpfen haben drüber stehen können und sich nicht von solchen gesellschaftlichen Zwängen unterkriegen oder verbiegen lassen.