Der autobiographische Film „Heute bin ich blond“ erzählt die Geschichte von Sophie. Sie ist 21, feiert, lebt und lacht gerne. Als sie erfährt, dass sie eine seltene Krebsart mit schlechten Heilungschancen hat, beschließt sie, der Krankheit auf eine ungewöhnliche Weise den Kampf anzusagen.
10, 9, 8… Die letzten Sekunden des Jahres werden heruntergezählt. 3,2,1 – Raketen schießen in die Luft und bringen den Himmel in allen Farben zum Leuchten, Sektkorken knallen. Zwischen all dem Getummel begießen Sophie (Lisa Tomaschewsky) und Bella (Karoline Teska) Arm in Arm ihre Wünsche für das neue Jahr. Männer stehen auf der Liste ganz oben – für Bella bitte was Langfristiges, Sophie nimmt den Rest. Zu den unbeschwerten Klängen von Leslie Clios „I couldn’t care less“ fiebert die 21-Jährige dem gemeinsamen WG-Leben mit ihrer besten Freundin und dem Start an der Uni entgegen. Ihre Fächerwahl hat sie noch nicht festgelegt, erstmal möglichst alles ausprobieren.
Aus dieser Phase voller Heißhunger aufs Leben wird sie plötzlich und ohne Vorwarnung herauskatapultiert. Eine seltene Krebserkrankung des Brustfells ist der Grund für den Husten, der sie seit Wochen plagt. Die Heilungschancen stehen schlecht. Gerade hat sie noch auf wilden Partys getanzt, jetzt fesselt die Chemotherapie sie ans Krankenhausbett. Als Sophie morgens nach dem Aufwachen die ersten ausgefallenen Haarsträhnen auf ihrem Kopfkissen entdeckt, entschließt sie, kurzen Prozess mit dem Unvermeidlichen zu machen. Sie schneidet ihren langen, geflochtenen Zopf ab und rasiert sich die restlichen Haare. „Jetzt kann’s jeder sehen. Jetzt weiß jeder, von welcher Station ich komme und was ich habe“, schreibt sie auf ihrem Blog über den ersten Gang mit Glatze durchs Krankenhaus.
Lisa Tomaschewsky stark und authentisch in der Rolle der Sophie
Der Film, der auf dem autobiographischen Roman der Niederländerin Sophie van der Stap beruht, erfüllt nicht die mit dem Thema verbundene klischeehafte Traurigkeit, sondern ist so trotzig wie seine Protagonistin. Lisa Tomaschewsky bringt Sophies Gefühlsspanne, die von Angst und Einsamkeit bis hin zu rauschhafter Lebensfreude reicht, authentisch rüber. Vor allem aber transportiert sie das, worum es van der Stap auch schon in ihrem Roman geht und was jede*r Betroffene*r braucht: Mut. Gleichzeitig liefert der Film eine Anleitung, oder eher eine Inspiration zum Umgang mit der Krankheit – besonders mit dem durch die Chemotherapie verursachten Haarausfall, unter dem viele Betroffene leiden.
Ihre Haare und der Verlust dieser spielt für Sophie eine wichtige Rolle – und so auch die Perücken, die sie sich mit Hilfe ihrer besten Freundin Bella zulegt. In der Szene im Perückengeschäft wird deutlich, wie schwer es ihr fällt, selbst vor ihrer besten Freundin die Perücke abzuziehen. Haare sind für Sophie essentiell, um sich trotz des Leidens und der Traurigkeit wieder lebendig zu fühlen. Denn sie will mitmachen, mitleben. Trotz Krebs. „Perücken sind mehr als nur Haare. Sie machen etwas mit mir“, schreibt sie im Film weiter auf ihrem Blog.
Auch ihrem besten Freund vertraut sie sich an: „Meinste, mich will noch irgendein Typ?“ fragt sie ihn im Hinblick auf ihre Glatze. Nur eine von vielen Situationen, in denen Sophie ihre fehlenden Haare mit der Unsicherheit verbindet, anderen zu gefallen, dazuzugehören. Dieser Fokus auf die Haare, der den gesamten Film dominiert, wirft die Frage auf: Inwiefern bestimmen Haare unsere Identität? Und er liefert eine Antwort: „Dass ich anders aussehe bewirkt, dass ich mich anders fühle“, lauten Sophies Worte, nachdem sie die ersten Perücken ausprobiert hat.
„Daisy kann flirten. Sue kann kämpfen. Aber Sophie hat eine scheiß Angst“
Insgesamt hat sie neun unterschiedliche Perücken, die sie gegen das triste Standardmodell aus dem Krankenhaus austauscht: Sue, Daisy, Stella, Blondie, Bébé, Platina, Oema, Pam und Lydia. Denn wenn Sophie eine der Perücken trägt, ist sie nicht länger Sophie. Die unechten Haare erlauben es ihr, aus der Rolle des Mädchens mit Krebs auszubrechen und ihre Krankheit und Schwäche für kurze Zeit zu vergessen. So kann sie sich als blonde Daisy genau das nehmen, was sie will, als schwarzhaarige Pam so wild feiern wie nie und sich mit der ihrem Naturhaar sehr ähnlichen Lydia ein Stück verloren gegangener Normalität zurückholen. Eine besonders wichtige Rolle spielt jedoch die rothaarige Sue: Mit den kurzen, fransig geschnittenen Haaren fühlt sie sich mutig und stark – kein Wunder also, dass es Sue ist, die sich bei den Zwischenuntersuchungen ins MRT legt, und die zu den Bestrahlungen und Arztgesprächen geht. „Daisy kann flirten. Sue kann kämpfen. Aber Sophie hat eine scheiß Angst“, fasst sie es auf ihrem Blog zusammen.
Hierbei spielt der Film mit der Symbolik von Farben und Frisuren. Laut der Wissens-Reihe der ARD spiegelt blond eine „naive Erotik“ wider – die hat Sophie mit Blondie intus und muss damit keinen Mann lange überreden. Rote Haare hingegen werden eher mit Gefahr und Abenteuerlust verbunden. Bloggerin Katharina, die sich auf Shadesofhair mit den Voruteilen gegenüber rotem Haar auseinandersetzt, bestätigt: „Rothaarige Frauen gelten als leidenschaftlich, temperamentvoll, selbstbewusst, wild, frech und sexuell besonders aktiv.“ Das erklärt die stärkende Wirkung von Sues leuchtend roten Haaren auf Sophies Selbstbewusstsein.
Natürlich ist der Haarverlust nur eine von vielen Begleiterscheinungen einer Chemotherapie – und vielleicht neben Übelkeit, Durchfall, Erschöpfung und Schleimhautentzündungen noch eine der am wenigsten schmerzhaften. Da wirkt der Fokus auf die Haare zeitweise sehr stark, schon fast übertrieben. So lässt beispielsweise Sophies ältere Schwester folgenden Kommentar los, als sie Sophie das erste Mal mit Perücke statt Glatze sieht: „Da ist meine schöne Schwester wieder.“ Zunächst wirken solch unsensible und taktlose Worte aus dem engsten Kreis der Familie unrealistisch. Vielleicht zeigen sie aber auch, welch starken Einfluss Haare tatsächlich auf unser Erscheinungsbild und damit auch auf unsere Identität haben.
Fest steht: Für Sophie sind die Haare, wenn auch unecht, eine enorme Hilfe, um jeden Tag auf’s Neue gegen ihren Tumor zu kämpfen. Trotz der ernsten Thematik erzählt der Film eine Geschichte, die Mut macht und bei der gleichermaßen gelacht und geweint werden darf. Die Geschichte der „echten“ Sophie van der Stap, die den Kampf gegen den Krebs überwunden hat und momentan als Journalistin in New York lebt.
Zum Weiterlesen:
Homepage von Sophie van der Stap
Ted-Talk von Sophie van der Stap
Eine wirklich gelungene Rezension! Ich habe einen guten Überblick bekommen und finde, du hast gut herausgearbeitet, welche Rolle die Haare für Sophies Identität spielen. Bisher habe ich den Film noch nicht gesehen, werde ihn mir jetzt aber bestimmt anschauen.
Ich habe den Film vor einigen Jahren gesehen und die Szene, in der sie sich die Haare abrasiert, ist mir total im Kopf geblieben. Richtig gut, wie du herausgearbeitet hast, welche Bedeutung Haare für die eigene Identität oder hier – den Identitätswechsel – haben können.