Im März 1933 kommen Hitler und die Nationalsozialisten an die Macht. Wenig später beginnt Charlotte Beradt, die Träume ihrer Mitmenschen zu sammeln. Die deutsch-jüdische Journalistin spricht mit Verwandten, Nachbarn, mit einem Unternehmer, Schneiderinnen, Ärzten und mit dem Milchmann. Sechs Jahre lang dokumentiert sie, wie das totalitäre System zuerst die Träume und dann das Leben ausfüllt. 1939 muss sie fliehen, 1966 erscheint ihr Buch: Das Dritte Reich des Traums. Was leisten Träume als historische Quellen?
„Der einzige Mensch, der in Deutschland noch ein Privatleben führt, ist jemand, der schläft.“ So beschreibt NS-Reichsorganisationsleiter Robert Ley schon 1934 die totale Konsolidierung politischer und kultureller Macht durch das nationalsozialistische Regime. Zwischen staatlichem Terror, politischer Gleichschaltung und allgegenwärtiger Propaganda schufen die Nationalsozialisten** schon früh und in vollem Bewusstsein das Fundament für die Verbrechen des kommenden Jahrzehnts. Mit denselben Worten beginnt Charlotte Beradts Buch Das Dritte Reich des Traums – ein ungewöhnliches, fesselndes Werk, das völlig unverdient in Vergessenheit geraten ist. Heute fristet es ein Nischendasein zwischen Antiquariaten, FAZ-Literaturkritiken und fragwürdigen musikalischen Neuinterpretationen. Dabei ist die Entstehungsgeschichte des Werks mindestens so spannend wie die geschilderten Träume selbst.
Geheime Träume im Dritten Reich
Charlotte Beradt, damals 26, lebt in Berlin, als die Nationalsozialisten an die Macht kommen. Sie arbeitet als Journalistin, bis der Staat ihr noch im gleichen Jahr das Berufsverbot ausspricht. Im Zuge der Massenverhaftungen von Kommunist*innen und Sozialist*innen nach dem Reichstagsbrand wird sie gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Journalisten und Schriftsteller Heinz Pol, inhaftiert. Als sie wenig später freikommt, leidet Beradt unter Alpträumen und allgegenwärtigen Ängsten der Verfolgung. Sie beginnt, die Träume der Menschen in ihrem Umfeld zu sammeln: säkulare, jüdische Bürger*innen aus der Mittelklasse.
„Nutznießer des Systems oder begeisterte Jasager waren mir schwer zugänglich und ihre inneren Reaktionen (…) ohnehin nicht aufschlussreich. Ich fragte Schneiderin, Nachbar, Tante, Milchmann, Freund, fast immer ohne Preisgabe des Zweckes, denn ich wollte möglichst ungefärbte Antworten“, schreibt Beradt über ihr Vorhaben. Und so sammelt sie in den folgenden sechs Jahren im Geheimen die Träume von über dreihundert Menschen. Um sich selbst und die Befragten zu schützen, versteckt sie die Texte im Deckel anderer Bücher. Manche sendet sie getarnt als Briefe ins Ausland, in wieder anderen chiffriert sie die Namen von bedeutenden Nazis: Aus Hitler wird Onkel Hans, aus Goebbels Gerhard, und die Partei nennt sie Familie. Fünfzig dieser Träume veröffentlicht sie 1966 aus dem Exil in New York als Buch: Das Dritte Reich des Traums.
Der Traum des Herrn S.
Erster Impuls für ihr Vorhaben ist der Traum eines befreundeten Fabrikbesitzers, des Herrn S. Drei Tage nach der Machtübernahme träumt er, wie Goebbels persönlich in seine Fabrik kommt. Er lässt die Arbeiter*innen in zwei Reihen, rechts und links, antreten.
„Dazwischen muss ich stehen, und meinen Arm zum Hitlergruß heben. Es kostet mich eine halbe Stunde, den Arm, millimeterweise, hochzubekommen. Goebbels sieht meinen Anstrengungen wie einem Schauspiel zu, ohne Beifalls-, ohne Mißfallensäußerung. Aber als ich den Arm endlich oben habe, sagt er fünf Worte: ‚Ich wünsche Ihren Gruß nicht‘, dreht sich um und geht zur Tür. So stehe ich in meinem eigenen Betrieb, zwischen meinen eigenen Leuten, am Pranger, mit gehobenem Arm. Ich bin körperlich dazu nur imstande, indem ich meine Augen auf seinen Klumpfuß hefte, während er hinaushinkt. Bis ich aufwache, stehe ich so.“
Das Bild handlungsunfähiger Träumender, die zum passiven Objekt, zum Opfer der Willkür eines totalitären Staates werden, ist in den gesammelten Träumen omnipräsent. Beradt betont: Was Herrn S. zustieß, sei zwar traurig, aber eben keine Tragödie. Es sei vielmehr das typische und gewollte Geschehen im Zuge des Umwandlungsprozesses, den das System an ihm vornehme. „Er ist nicht einmal zum Nicht-Helden, er ist zur Nicht-Person geworden.“ In späteren Briefen erläutert sie, weshalb diese erste Erzählung sie so bewegte: „Der Traum des Fabrikbesitzers, der direkt aus der Werkstatt des totalen Regimes zu kommen schien, wo der Mechanismus seines Funktionierens erzeugt wird, festigte in mir einen Gedanken, den ich schon flüchtig gehabt hatte: daß Träume wie dieser nicht verlorengehen sollten. (…) Ich fing also an, von der Diktatur diktierte Träume zu sammeln“.
Zwischen Repräsentativität und Authentizität
Teils kollektives Traumtagebuch, teils literarisches Werk, bewegt Beradts Buch sich in einem Spannungsfeld zwischen Repräsentativität und Authentizität. Einerseits fehlen die objektiven Standards und die methodische Nachvollziehbarkeit, die für jegliche Form der Verallgemeinerbarkeit notwendig wären. Das ist gewiss dem Entstehungskontext geschuldet: Alle Erzählungen beruhen auf schriftlichen und mündlichen Erinnerungen der rund dreihundert Befragten, alle Subjekte eines totalitären Regimes. Ob eine Verzerrung der Traumberichte stattfand, sei es in den ursprünglichen Schilderungen der Träumenden selbst oder durch die Autorin in zweiter Instanz, ist nicht mehr nachzuvollziehen.
Andererseits sind die Träume in ihrer Klarheit auf beängstigende Weise authentisch, geradezu prophetisch. Selten reflektieren Beradts Subjekte bloß das Erlebte. Oft schildern sie stattdessen in Deutlichkeit das, was bevorsteht. Da ist etwa der jüdische Anwalt, der 1935 im Traum durch Lappland flieht, auf der Suche nach dem „letzten Land der Welt, wo Juden noch gelitten sind“. Der Zollbeamte, ein Deutscher, lässt ihn nicht durch. „Du bist Jude“, schreit er, und wirft seinen Pass zurück aufs Eis. Beradt bemerkt, dass sich „die Träume aus dem Jahr 1933 nicht sehr von denen aus späteren Jahren“ unterschieden: „Meine aufschlussreichsten stammen aber aus den ersten Jahren des noch leise tretenden Regimes in seinem Urzustand.“ Während das öffentliche Leben vielerorts noch unberührt ist, wird das totalitäre System in den Träumen der frühen Dreißiger bereits manifest. Isolation, Kontrolle in allen Bereichen des Lebens, Auslöschung des Individuums.
Im Kapitel „Das wandlose Leben“ berichtet ein Arzt von einem Traum, den er im Winter 1933 hat.
„Während ich mich nach der Sprechstunde, etwa gegen neun Uhr abends, mit einem Buch über Matthias Grünewald friedlich auf dem Sofa ausstrecken will, wird mein Zimmer, meine Wohnung plötzlich wandlos. Ich sehe mich entsetzt um, alle Wohnungen, soweit das Auge reicht, haben keine Wände mehr. Ich höre einen Lautsprecher brüllen: ‚Laut Erlaß zur Abschaffung von Wänden vom 17. des Monats.’“
Beeindruckt von seinem Traum, hält er ihn am kommenden Morgen schriftlich fest. In der Folgenacht träumt er, er werde beschuldigt, Träume aufzuschreiben. So kündigt sich ihm der kommende Totalitarismus im Schlaf an. Eine Nacht später träumt er: „Ich lebe auf dem Meeresgrund, um unsichtbar zu bleiben, nachdem die Wohnungen öffentlich geworden sind.“
Nähe und Abgrenzung zur Traumdeutung
Wer in Beradts Werk Bezüge zur Traumdeutung und zur Psychoanalyse nach Jung sieht, liegt nicht falsch. Mehrmals beschreibt Beradt, wenn auch nie explizit, was man als das kollektive Unbewusste verstehen könnte: „Träume scheinen zwar die Wirkung äußeren politischen Geschehens im menschlichen Innern minuziös aufzuzeichnen wie ein Seismograph, doch sie stammen aus einer unwillentlichen psychischen Tätigkeit. Sie scheinen voller Aufschlüsse über die Affekte und Motive von Menschen während ihrer Einschaltung als Rädchen in den totalen Mechanismus“.
Doch in der entscheidenden Sache trennt sich Beradt dann von der Tradition der großen Traumtheorien. Freud und Jung wollen die Wirklichkeit interpretativ erschließen. Sie wollen verstehen, was Träume für das Individuum bedeuten. Damit sind sie unausweichlich angewiesen auf einen „Versteher“ – einen, der wach ist, während andere träumen. Beradt beansprucht keine solche Sonderstellung für sich. Ihr Verständnisinteresse ist stets politisch motiviert, stets kollektiv und immer im Kontext des nationalsozialistischen Regimes. Den praktischen Nutzen ihrer Traumsammlung definiert sie gleich zu Beginn: „So könnten Traumbilder die Struktur einer Wirklichkeit deuten helfen, die sich gerade anschickte, zum Alptraum zu werden.“
Doch Beradt sieht nicht mehr und nicht weniger als ihre Befragten. Gerade weil die Theorie verstummt, haben die Träume hier Raum zum Sprechen. Beradt bewegt sich ohne Urteil, ohne Interpretation zwischen den Traumerzählungen. Sie wird Zeugin von Angst, von Ohnmacht und vom daraus resultierenden Schamgefühl. „Die meisten wollten ihre quälenden Träume vergessen, jedenfalls sprachen sie nicht gern darüber.“
„Aber wir haben nichts mehr“
Das letzte Kapitel widmet Charlotte Beradt ihren jüdischen Mitbürger*innen und denen, die Widerstand leisten. Wenn auch nur im Traum. Da ist etwa der wiederkehrende Traum einer älteren jüdischen Frau.
„Mein Mann und ich waren in ein weit entferntes Land emigriert. Wir waren ganz allein, niemand half uns. ‚Warum heben wir kein Geld vom Sparbuch ab?‘ fragte ich meinen Mann. ‚Da ist nichts mehr drauf.‘ ‚Dann hol doch Geld bei der Bank.‘ ‚Wir haben nichts mehr.‘ ‚Dann hol was aus dem Safe.‘ ‚Da ist auch nichts mehr drin.‘ ‚Dann nimms aus Deinem Portemonnaie.‘ ‚Aber wir haben nichts mehr.‘ Die Alpträume ihres Mannes gingen noch weiter: Als ihm Hitler – wie im Märchen – die Erfüllung eines Wunschs gewährt, antwortet er ohne zu zögern: ‚Ein Paß für mich und meine Frau.‘ „
Es folgt der einzige Tyrannenmord im Buch.
„Ich träume oft, ich fliege über Nürnberg, fische mit einem Lasso Hitler mitten aus dem Parteitage heraus und versenke ihn zwischen England und Deutschland im Meer. Manchmal fliege ich weiter nach England und erzähle der Regierung, zuweilen Churchill selbst, wo Hitler geblieben ist und daß ich es getan habe.“
Träume im Vordergrund
Die Träume in Das Dritte Reich des Traums sind kein illustrierendes Beiwerk zum Buch – sie sind das Buch. Und gerade weil Charlotte Beradt sie so prominent in den Vordergrund stellt, sprechen sie lauter als jede Interpretation. Beradt gelingt es, die Perfidität der nationalsozialistischen Diktatur ganz abseits von Zahlen und Ereignissen auf besondere Art bloßzustellen: Der autoritäre Staat, nachdem er bis in die letzten Fasern des sozialen und privaten Lebens vorgedrungen ist, erhebt den ultimativen Anspruch: die Gedanken und Träume seiner Subjekte zu bestimmen. „Der einzige Mensch, der in Deutschland noch ein Privatleben führt, ist jemand, der schläft.“ Und so mag es sein, dass am Ende auch Robert Ley, der 1945 Suizid beging, die eigens gebaute Tyrannei unterschätzte. Charlotte Beradt aber sollte Recht behalten. Und während die Verbrechen der Nationalsozialisten immer weiter von der Welt des Erlebten in die Welt des Erzählten rücken, ist ihr Werk aktueller denn je:
„Es festigte sich in mir der Gedanke, den ich schon flüchtig gehabt hatte: daß Träume wie dieser nicht verlorengehen sollten. Sie könnten zur Evidenz gehören, wenn dem Regime als Zeitphänomen einmal der Prozeß gemacht würde.“
** Da die zentralen Machtpositionen im Nationalsozialismus von Männern besetzt waren, wurde in diesem Beitrag an wenigen Stellen bewusst auf gendersensible Sprache verzichtet. Das heißt nicht, dass andere Geschlechter aus der Verantwortung genommen werden, sondern soll lediglich eine Diskussion über die Frage anregen, wie angesichts historischer Stoffe angemessen gegendert werden kann.
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