Der Platz am Fenster. Ob im Zug, in der Universität, auf der Arbeit oder daheim – er lädt regelrecht zum Träumen ein. Der Blick gleitet nach draußen, bleibt irgendwo hängen und geht dann ins Leere. Was passiert mit uns, wenn wir in einer imaginären Traumwelt landen, sobald wir aus dem Fenster sehen und unsere Gedanken schweifen lassen?
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Tagträume können uns dabei helfen, für einen Moment dem Alltag zu entfliehen, unser Hirn beim Finden von kreativen Lösungen zu schulen, uns mit dem eigenen Inneren auseinanderzusetzen oder Pläne für die Zukunft zu schmieden. Doch was, wenn Tagträumen vom netten Zeitvertreib zu einer ausgeprägten Sucht wird?
Als Superheld*in die Welt retten, dem umschwärmten Charakter der Lieblingsserie näherkommen oder einer Zombie-Apokalypse entrinnen – mit solchen Tagträumereien hat sicher jeder schon einmal dem Eskapismus gefrönt. Ob aus Langeweile, Alltagsflucht oder als spannendes Gedankenspiel, Tagträumen als solches ist eine normale Gehirnaktivität und vollkommen unbedenklich. Problematisch wird es erst, wenn man aus der eigenen Traumwelt keinen Ausweg mehr findet und das Fantasieren zur Sucht wird. Dann gilt das Tagträumen als fehlangepasst – oder maladaptiv.
Gleichzeitiges Konsumieren und Dealen
Viele Betroffene verbringen einen Großteil ihrer Zeit in der eigenen Fantasiewelt. Dabei vernachlässigen sie schulische und berufliche Aufgaben. Sie vergessen Mahlzeiten und Hygiene und isolieren sich von Freund*innen und Familie. Jeder Anreiz kann ein Auslöser für neue Geschichten sein, mit welchen sie sich vom täglichen Leben zurückziehen. Tagträume folgen oft Idealversionen der Träumer*innen und kompensieren damit Lebensaspekte, die ihnen selbst nicht vergönnt sind. Sie handeln von Freundschaften, Abenteuern, Ruhm und Liebe – häufig aber auch von Gewalt, Mord und Gefangenschaft. Dabei entstehen komplexe, detaillierte und lebendige Geschichten, die starke Emotionen bei den Tagträumer*innen hervorrufen.
Viele führen bei ihren Traumreisen repetitive Bewegungen aus, hören emotionsgeladene Musik oder sprechen und murmeln das Vorgestellte vor sich hin. Ähnlich wie bei anderen Süchten jagt das Beenden der Fantasien den Betroffenen oft Angst ein. Manche empfinden auch eine Art Zwang, die Geschichte bis zu einem befriedigenden Ende durchzuspielen. Und selbst wenn ein Weg aus der Traumwelt gefunden wird, gestaltet sich ein Wiederaufnehmen viel zu einfach: Schließlich ist man Konsument*in und Dealer*in in einer Person und benötigt dafür nicht einmal eine Substanz.
Das Phänomen bekommt einen Namen
2002 tritt der israelische Forscher Eli Somer mit den Ergebnissen einer Studie über dissoziative Verhaltensweisen an die Öffentlichkeit. Sechs der 24 Proband*innen berichten von einer geheimen, inneren Fantasiewelt, die ihren Alltag stark im Griff hat. Maladaptive Daydreaming tauft Somer das Leiden und plädiert für eine Aufnahme in das DSM-5, das dominierende Klassifikationssystem für psychische Erkrankungen in den USA. Die Forschungsgemeinde ist jedoch unbeeindruckt und Somer stellt seine Arbeit ein. Kurz darauf erreicht ihn eine Flut von Nachrichten Betroffener. Diese werden von ihren Ärzt*innen und Psycholog*innen nicht ernst genommen und rufen Somer dazu auf weiterzumachen. Somer und sein Team beschäftigen sich seither an der Universität Haifa mit den Ursachen, Strukturen und Funktionen des maladaptiven Tagträumens. Die neu entwickelte Maladaptive Daydreaming Scale soll die Störung diagnostizierbar machen und von anderen psychischen Erkrankungen abgrenzen.
Kindheitstrauma, Dopaminmangel oder Veranlagung?
Die Ursachen und Auslöser des maladaptiven Tagträumens sind noch nicht vollständig geklärt. Bei allen von Somer und seinem Team bisher untersuchten Proband*innen begann das intensive Tagträumen bereits im Kindesalter und war häufig mit unangenehmen Kindheitserfahrungen verbunden. Bis ins Erwachsenalter wiederholen sich oft die gleichen Motive. Ganz nach freudscher Deutung könnte das mit der Verarbeitung von Kindheitstraumata oder unausgesprochenen Wünschen und Bedürfnissen einhergehen. Somer berichtet beispielsweise von Missbrauchsopfern, welche davon träumen, als Superheld*innen die Welt zu retten. Dabei geht es häufig um eine Kompensation der eigenen Hilflosigkeit im Angesicht ihrer Vergangenheit.
Doch nicht immer sind die Tagträume von eigenen Heldentaten bestimmt: Viele Betroffene inszenieren gedanklich ihren eigenen Tod oder würzen ihre Tagträume mit anderen Tragödien. Somer vermutet dahinter eine innere Traurigkeit, welche – insbesondere für Menschen mit Traumata oder Schwierigkeiten in der Emotionsregulation – zu bedrohlich wirkt, um sie im realen Leben im selben Maß zu empfinden. Im Tagtraum wird dann ein sicherer Rahmen geschaffen, in welchem die Intensität des Schmerzes reguliert werden kann.
Doch auch fehlerhafte neurologische Abläufe im Gehirn werden als Ursache für maladaptives Tagträumen vermutet. Somer und sein Team fanden heraus, dass die häufigste parallel auftretende Erkrankung die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zu sein scheint. Die erhöhte Häufigkeit von Tagträumen bei ADHS-Betroffenen ist bereits erforscht: Die neuronalen Aktivitäten Betroffener laufen zwar ständig auf Hochtouren, die Fähigkeit zur Konzentration ermüdet jedoch durch einen Dopaminmangel enorm schnell. Das unaufhörlich weiter ratternde Hirn liefert so immer wieder neuen Input für Tagträume. Zusätzlich schüttet das Tagträumen hohe Mengen an Dopamin aus – ein gefundenes Fressen für das beeinträchtigte Belohnungszentrum des ADHS-Hirns.
Weitere Zusammenhänge wurden insbesondere mit Zwangsstörungen, Depressionen und dissoziativen Störungen festgestellt. Annehmbar ist also, dass einem krankhaften Tagträumen vor allem zunächst andere Probleme zugrunde liegen. Somer und sein Team ziehen jedoch auch eine generelle Veranlagung zu immersiven und lebhaften Tagträumen in Betracht. Einige maladaptive Tagträumer*innen stellen schon früh fest, dass sie ihre Fantasien dem echten Leben gegenüber bevorzugen, und beginnen nach und nach letzteres zu vernachlässigen. Der dadurch entstandene Stress lässt Betroffenen oft keine andere Wahl als eine erneute Flucht in die Traumwelt: ein Teufelskreis.
Die Sensibilisierung für ein Störungsbild
Trotz zahlreicher Bemühungen haben es die Forscher*innen um Eli Somer bis heute nicht geschafft, einen Eintrag des Maladaptiven Tagträumens in das DSM-5 zu erwirken. Das Phänomen sei viel zu schwer von anderen psychischen Erkrankungen abzugrenzen und ginge nicht immer eindeutig mit einem Leidensdruck einher. Doch ihre Arbeit ist keineswegs umsonst: MDler*innen – wie sich Betroffene selbst bezeichnen – organisieren sich in zahlreichen Internetforen, schreiben auf persönlichen Blogs über ihre Erfahrungen oder tauschen sich in Subreddits, also Unterforen auf der Plattform reddit, untereinander aus. Mit „Wild Minds Network“ ist sogar eine eigene Support-Website entstanden. Betroffene finden sich dort weltweit zusammen, sammeln Informationen und unterstützen sich gegenseitig bei der Bewältigung. Eli Somer und sein Team haben es in jedem Fall geschafft, den Startschuss für eine Sensibilisierung zu setzen, und der hat selbst uns in diesem Blog erreicht.
Titelbild: © Annette Linnik
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Tagträume sind verpönt. Abschweifen tut man besser heimlich, still und leise. Sollten wir aber nicht, findet zumindest unser Autor. Warum wir unseren Tagträumen guten Gewissens eine Chance geben dürfen.
35,3 Milliarden Dollar. Stell dir vor, du verfügst bereits mit 38 Jahren über so viel Geld. Du hast nach deinem Studium 15 Jahre gearbeitet, blickst auf einige berufliche Erfolge zurück. Und doch hast du nun beschlossen, dass du dieses Leben erstmal hinter dir lassen möchtest. Was nun? Nimm dir ein wenig Zeit und lass deine Gedanken schweifen. An was denkst du? Würdest du mit dem Geld reisen, dir ein tolles Haus kaufen, es spenden oder möglichst gewinnbringend anlegen? Vielleicht bist du froh, dass du diese Frage nicht beantworten musst. Mit großer Sicherheit aber schweifen deine Gedanken bei solchen Summen ab. Du beginnst zu träumen, verlierst dich im sogenannten Tagtraum. Das möchte übrigens auch der junge Mann tun, der diese 35,3 Milliarden Dollar laut der US-Zeitschrift Forbes auf seinem Konto hat. Yiming Zhang, ein chinesischer IT-Unternehmer, der unter anderem die Plattform TikTok gründete. Mit noch nicht einmal 40 Jahren gehört er zu den reichsten Männern seines Landes. Sein Unternehmen Byte Dance zählt mittlerweile etwa 100.000 Mitarbeiter*innen. Zeit aufzuhören. Oder zumindest kürzer zu treten. Nach eigener Aussage möchte Zhang wieder mehr Zeit ins Tagträumen investieren.
Freud würde schmunzeln
Wie kann sich ein so erfolgreicher Geschäftsmann nun dem Rumphantasieren verschreiben? Ein zufriedener Mensch würde das nicht tun. Womöglich könnte Sigmund Freud so über Zhang urteilen. Der wohl bekannteste Traumforscher sah Tagträume als Korrekturen einer unbefriedigenden Wirklichkeit, als unerfüllte Erfolgsphantasien, für die insbesondere jüngere Menschen anfällig seien. Ein wunschlos glücklicher Mensch, so Freud in seinem Aufsatz Der Dichter und das Phantasieren, brauche sich keinen Tagträumen hinzugeben.
Macht Tagträumen unglücklich?
Über diese Frage wird in zahlreichen Online-Foren eifrig diskutiert. Wenn man sich dieser Kontroverse wissenschaftlich nähert, landet man schnell bei dem Begriff des ‚maladaptiven‘ Tagträumens. Darunter verstehen etwa die israelischen Forscher*innen Nirit Soffer-Dudek und Eli Somer stundenlanges, fantasievolles Tagträumen, was mit dem Vernachlässigen realer Beziehungen und Verantwortlichkeiten einhergeht und zu funktioneller Beeinträchtigung führt. Ihre Studie Trapped in a Daydream sollte im Jahre 2018 Aufschluss darüber geben, welche Menschen für exzessives Tagträumen besonders anfällig sind. Es zeigte sich, dass zwei Drittel der Proband*innen bereits in psychotherapeutischer Behandlung waren und etwa die Hälfte dieser Menschen keine Arbeit hatte. Darüber hinaus war das Phänomen häufig mit anderen, psychopathologischen Krankheitsbildern verknüpft. Maladaptives Tagträumen, das bestätigt diese Studie, ist die Ausnahme. Und doch legen auch Erkenntnisse der Konsumforschung nahe, dass Tagträumen nicht immer ein guter Ratgeber ist. Der Soziologie Mark Lutter untersuchte den Zusammenhang von Tagträumen und Konsum am Beispiel von Lotterien. Seine Befragungsstudie zeigte, dass Spieler*innen, die intensiv in Form von Tagträumen über den scheinbar so greifbaren Lottogewinn nachdenken, häufiger und mit höherem Einsatz Lotto spielen. Warum dann also bewusst Tagträumen und eins werden mit den Glücksspiel-Romantiker*innen?
Mit Tagträumen schneller ans Ziel
Ob Albert Einstein, Woody Allen oder J. K. Rowling wohl auch Lotto gespielt haben? Diese Persönlichkeiten sind nämlich allesamt bekennende Tagträumer*innen. Und bei einem Blick auf deren Lebensläufe liegt die Vermutung nahe, dass aus bewussten Tagträumen geniale Ideen erwachsen können. Etwa 70 Jahre nach Freud setzte der amerikanische Psychologe Jerome L. Singer neue Schwerpunkte. So ist in seinem Buch The inner world of daydreaming zu lesen:
„Daydreaming is perhaps best viewed simply as a kind of capacity or skill in us that is part of our overall repertory of behaviors.“
Tagträumen als Fähigkeit. Diese modernere Sicht auf das gedankliche Umherschweifen wurde in zahlreichen Studien bekräftigt. So zeigt beispielsweise eine Arbeit unter der Leitung von Christine Godwin vom Georgia Institute of Technology, dass Tagträumer*innen ihren gedanklichen Fokus besser steuern können. Zahlreiche Tests im Rahmen ihrer Studie zeigten, dass bei Proband*innen, die zum Tagträumen neigen, Gehirnareale besser miteinander vernetzt sind. Dies wirkte sich wiederum positiv auf gemessene Intelligenz und Kreativität aus. Und mehr noch: Tagträumer*innen kommen schneller ans Ziel. Zumindest behalten sie ihre Wünsche für die Zukunft besser im Blick, wie eine Arbeit des Max-Planck-Instituts in Leipzig offenbart.
Tagträumen als Therapie
Ein Blick über die Berge ins schweizerische Will im Kanton Sankt Gallen zeigt, dass Tagträumen auch eine heilende Wirkung entfalten kann. Bis zum Sommer diesen Jahres gibt es dort im städtischen Museum unter dem Titel Durch die Linse Werke von Künstler*innen des Living Museum zu sehen. Im Living Museum arbeiten Menschen während oder nach ihres Aufenthalts in einer der psychiatrischen Einrichtungen des Kantons. Durch ein einzigartiges Konzept aus Kunst und Kreativität erfahren Patient*innen wichtige Impulse für ihre Regeneration.
Die aktuelle Ausstellung möchte zeigen, wie es den Künstler*innen gelingt, während des Pandemiealltags dem Alltag zu entfliehen. Einmal mehr lautet die Antwort: Tagträumen. Da existieren nämlich „weder Regeln noch Grenzen. Die Gedanken sind nicht nur frei, sie können auch befreien“, gibt Museumsleiterin Rose Ehmann anlässlich der Vernissage dem schweizerischen Tagblatt zu Protokoll. Und diese Befreiung schlägt sich sowohl in knallig-bunten Gemälden wie auch in bisweilen eher düsteren Fotografien nieder. Das interaktive Kunstobjekt „Auf Träumen gebettet“ lädt die Besucher*innen der Ausstellung darüber hinaus dazu ein, ihre Träume auf Notizzetteln festzuhalten und sie auf ein weißes Bettgestell zu kleben. Bereits nach den ersten Wochen der Ausstellung ist dieses Objekt mit Zetteln übersät. Sie haben sich mittlerweile auch rund um das Bett angehäuft. Gewiss kein großer Aufwand.
Jetzt bist du dran!
Was würdest du auf einen solchen Zettel schreiben? Mit Sicherheit sind dir seit Beginn des Textes noch ein paar Tagträume in den Sinn gekommen. Für welchen Tagtraum würdest du dich entscheiden? Vielleicht hast du einen Zettel in greifbarer Nähe und schreibst diesen Traum einfach mal auf ein Blatt Papier. Fühlt es sich gut an, diese Phantasie nun schwarz auf weiß zu lesen? Wenn du noch unentschlossen bist, seien dir die Worte eines weiteren, bekennenden Tagträumers mitgegeben.
„Was man sich nicht vorstellen kann, kann man nicht tun“.
Und wer weiß, vielleicht hat dich bereits dieser Gedanke des Filmemachers George Lucas deinem Tagtraum ein kleines Stückchen näher gebracht.
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