Der Platz am Fenster. Ob im Zug, in der Universität, auf der Arbeit oder daheim – er lädt regelrecht zum Träumen ein. Der Blick gleitet nach draußen, bleibt irgendwo hängen und geht dann ins Leere. Was passiert mit uns, wenn wir in einer imaginären Traumwelt landen, sobald wir aus dem Fenster sehen und unsere Gedanken schweifen lassen?

Das Meer rauscht, die Sonne strahlt und der Sand unter den Füßen fühlt sich heiß an. Wir lachen mit unserem Crush, haben gerade erfolgreich unser Studium abgeschlossen und unseren Traumjob bekommen. Sekunden später finden wir uns in der Realität wieder und können im ersten Moment gar nicht einordnen, ob etwas davon vielleicht wirklich passiert ist. Sich in Gedanken zu verlieren und zu träumen muss erstmal nichts Negatives sein. Tagträume können uns verraten, was wir uns wirklich wünschen, und ein Ansporn sein, unseren Traum zur Realität zu machen. Sie können ein Portal zu unserem Unterbewusstsein sein und werden unter anderem als Fenster zur Seele beschrieben. Tagträume können uns dabei helfen, bestehende Konflikte besser zu verarbeiten. Beispielsweise kann so der Streit mit unseren Freund*innen in unserem Tagtraum verarbeitet werden.

Aus dem Fenster starren ist doch nur Zeitverschwendung

Aus dem Fenster starren und in Träumen zu versinken, wird oftmals mit Faulheit und Prokrastination gleichgesetzt. Stattdessen sollten wir lieber Dinge erledigen und unsere Aufgaben abarbeiten. Wir gönnen uns und vor allem unserem Gehirn selten eine Pause. Doch damit unser Verstand unsere Gedanken verarbeiten kann, benötigen wir ab und zu diese Auszeit – aus dem Fenster starren kann dabei helfen. „Window Daydreaming“ ist somit alles andere als eine Zeitverschwendung. Die Psychologen Matthew A. Killingsworth und Daniel T. Gilbert von der Harvard Universität fanden 2010 heraus, dass wir ca. 50 Prozent unserer Wachphase damit verbringen, unsere Gedanken schweifen zu lassen und tagzuträumen. Und anders als gedacht, macht unser Gehirn in diesen Momenten doch keine Pause. Wenn wir anfangen tagzuträumen, arbeitet unser Gehirn sogar aktiver und zudem kreativer.

Das Gitter vor dem Fenster

Obwohl Tagträume uns unser Innerstes zeigen können, unsere Kreativität ankurbeln und bei der Bewältigung von Problemen helfen können, bringen sie auch Schattenseiten mit sich. Manchmal sind Tagträume so realistisch, dass wir keinen Durchblick mehr haben, was real ist und was nicht. Wie realistisch Tagträume sein können, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Für manche sind sie nur kleine Fantasien und kurze abschweifende Gedanken. Andere leben regelrecht in einer imaginären Welt, mit der Gefahr, in ihr gefangen zu sein. Je mehr Gefühle sie wahrnehmen, desto häufiger gleiten sie in eine Fantasiewelt ab. Das Problem: Je realer die Tagträume sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, die eigenen Gefühle nicht mehr wirklich wahrnehmen zu können. Die Forscher*innen Stella-Marie Paradisis, Frederick Aardema und Kevin D. Wu fanden heraus, dass Personen, die ihre Tagträume nicht mehr von der Realität unterscheiden können, dazu neigen, Zwangsstörungen zu entwickeln. Tagträume können somit eine Art Dissoziation aus der realen Welt sein. Man trennt sich in diesen Momenten von seiner Umgebung und blendet sie vollkommen aus. Personen, denen es so ergeht, leben regelrecht in ihren Gedanken und versinken in den Zwangsvorstellungen. Dies kann so weit gehen, dass Tagträumen regelrecht zur Sucht werden kann. Betroffene schweifen eben mal nicht ab und zu ab, wenn sie aus dem Fenster sehen, sondern verbringen bewusst Zeit in ihrer Fantasiewelt. Der Forscher Eli Somer untersuchte das Phänomen weiter und fand einen Namen dafür: Maladaptives Tagträumen.

Der schmale Grat zwischen Traum und Alptraum

Das ewige Schwelgen in Tagträumen und Abdriften, sobald sich der Blick dem Fenster zuwendet, kann weitere negative Folgen mit sich bringen. Es ist leicht, sich in seinen Gedanken zu verlieren und sich die schönsten Ereignisse vorzustellen, die womöglich nie passieren werden. Fantasien, die die Zukunft betreffen, können diese aber langfristig negativ beeinflussen. Die Forscher*innen Gabriele Oettingen, Doris Mayer und Sam Portnow untersuchten 2016 in einer Studie den Zusammenhang zwischen positiven Fantasien/Tagträumen und depressiven Symptomen. Über sieben Monate hinweg wurden Erwachsene und Kinder zu ihren Tagträumen und den damit einhergehenden depressiven Symptomen befragt. Zur Messung der depressiven Symptome wurde die 1977 entwickelte Center for Epidemiological Studies Depression Scale (CES-D) benutzt. Dieser Fragebogen beinhaltet ein Punktesystem mit 20 Symptomen, die mit Depressionen in Verbindung gebracht werden, wie beispielsweise Einsamkeit, Appetitsverlust oder unruhiger Schlaf. Zum Zeitpunkt der Messung zeigten Proband*innen, die positivere Fantasien hatten, weniger depressive Symptome. Einen Monat später, zum Zeitpunkt der zweiten Messung, zeigten sie jedoch umso mehr depressive Symptome. Auch der akademische Erfolg kann durch Tagträume beeinflusst werden. Positive Fantasien können zu einem geringeren Erfolg führen, was wiederum mehr depressive Symptome mit sich bringt, so die Forscher*innen.

Frau, die verträumt aus dem Fenster sieht

„Wer am Tag träumt, wird sich vieler Dinge bewusst, die dem entgehen, der nur nachts träumt.“ (Edgar Allan Poe)         ©Unsplash/Bruno van der Kraan

Die Psychologen Matthew A. Killingsworth und Daniel T. Gilbert schrieben in ihrer Studie: „Der menschliche Geist ist ein wandernder Geist und ein wandernder Geist ist ein unglücklicher Geist. Die Fähigkeit, über etwas nachzudenken, was nicht geschieht, ist eine kognitive Leistung, die mit einem emotionalen Preis verbunden ist.“ Es ist also ein schmaler Grat zwischen positiven Tagträumen und negativen Konsequenzen. So positiv  der Traum und das Leben einem vielleicht am Anfang vorkommen mögen, langfristig können umso mehr depressive Symptome entstehen und die psychische Gesundheit negativ beeinflussen. Tagträume können zu geringerer Energie und Anstrengung führen, wenn Träume und Erfolg schon in den Gedanken erreicht wurden.

Sich ein wenig in Tagträumen zu verlieren und künftige Szenarien auszumalen, muss nichts Schlechtes sein. Wenn diese Gedanken aber überhandnehmen und wir dazu neigen, uns nur noch in Traumwelten wiederzufinden, sollte dies ein Warnzeichen sein. Doch bis dahin ist es okay ab und zu aus dem Fenster zu starren und die Tiefen unseres Verstands zu ergründen. Schließlich sind Tagträume das Fenster zu unserer Seele.

Titelbild ©Unsplash/drown_in_city

 

Ihr habt noch nicht genug von unseren Fenster-Beiträgen? Dann folgt uns auf Instagram (look outside)! Mehr zum Thema lest ihr außerdem hier (look inside).Logo look inside look outside

 

2 Kommentare
  1. Michelle Uzoh
    Michelle Uzoh sagte:

    Spannender Artikel! Bestärkt mich darin, dass meine Träumerei vollkommen in Ordnung ist. 🙂

Trackbacks & Pingbacks

  1. […] Klausurenphase vom Lernen ablenken will, aber auch nicht „klassisch“ prokrastinieren möchte, indem ich stundenlang vor meinen aufgeschlagenen Büchern aus dem Fenster schaue und die Zeit totsch…. Ich möchte mir zumindest vorgaukeln, produktiv zu sein, also mache ich mich ans Ausmisten. Zwei […]

Kommentare sind deaktiviert.