Beiträge

Geister suchen wir in dunklen Ecken, schaurigen Ruinen oder auf dem Friedhof – doch was ist eigentlich mit den lebenden und analysierenden Geistern zwischen den Bücherregalen der Bibliotheken? Die Geisteswissenschaften werden genau wie ihre untoten Verwandten gefürchtet oder belächelt. Ein Plädoyer für den Mut, sich seines Geistes zu bedienen.

Das Abitur in der Tasche und voller großer Ideen und Fragen, was die Welt zusammenhält. Was ich werden will? Das weiß ich noch nicht so genau – mich interessieren Menschen und Literatur, ich mag Sprachen und fremde Kulturen. Ich entscheide mich gegen die Vernunft in meinem Kopf und folge meinem Herzen: Anglistik soll es sein. Meine Eltern sind nicht sonderlich überrascht – „Das passt zu dir!“ Was „Das“ ist, wissen wir zu dem Zeitpunkt alle nicht so genau.

An der Universität erfahre ich, dass ich nun zu den sogenannten Geisteswissenschaftler*innen gehöre. Dass Anglistik nur ein kleiner Teil im riesigen Becken der verschiedenen Disziplinen der Geisteswissenschaften ist, begreife ich anfangs noch nicht. Allein an der Universität Tübingen zählen über 25 Institute zur Philosophischen Fakultät, von der Geschichtswissenschaft über die Kunstwissenschaft bis hin zu den Philologien, in denen ich mein Zuhause gefunden habe. Schnell wird klar, die Geisteswissenschaft lebt vom interdisziplinären Austausch. Ich fühle mich wohl zwischen Geschichte-Nerds und Literaturliebhaber*innen und es dauert nicht lange, bis ich mich selbst auch zu dem abstrakten Feld der Geisteswissenschaftler*innen zähle.

„Und was macht man dann damit?“

Laut des Statistischen Bundesamtes entschieden sich im Wintersemester 2017/18 12 Prozent aller Studienanfänger*innen für ein geisteswissenschaftliches Studium an einer deutschen Hochschule. Die Geisteswissenschaften zählen damit zu den großen Universitätswissenschaften und reihen sich neben den Natur- und Sozialwissenschaften ein. Auch wenn 12 Prozent sich nach eher wenig anhören, hat sich die Zahl der Einschreibungen für Geisteswissenschaften seit dem Wintersemester 2015/16 immerhin um 3.000 Studierende in ganz Deutschland erhöht.

Geisteswissenschaftler*innen vergraben sich gerne in Bibliotheken – Vorurteil mit wahrem Kern? (Bildquelle: CC0, pexels.com)

Das Studium beginnt. Endlich bin ich umringt von gleichgesinnten Jane-Austen-Freaks und besuche Seminare zu Theater- und Kulturwissenschaft. Ich lerne alles über Literaturanalyse, den weiten Kulturbegriff und darüber, wie man in kürzester Zeit drei Bücher parallel liest. Lesen ist so ziemlich das einzige, was ich tue, doch das stört mich nicht.

Die Semester fliegen nur so dahin, bis ich das erste Mal auf die Frage aller Fragen antworten muss: „Und was macht man dann damit?“ Ich werfe mit Fachbegriffen um mich und versuche möglichst schlau zu klingen. Schnell merke ich jedoch, dass das mein Gegenüber nicht zufriedenstellt. Von da an wechsle ich zwischen Selbstironie und einem selbstbewussten „Nichts!“, bis hin zu ansatzweise greifbaren Berufen wie Lektorin oder Kulturreferentin. Beides sind Berufe, in denen ich mich eigentlich nicht sehe.

Geisteswissenschaftlerin oder Geisterjägerin?

Langsam realisiere ich, dass außerhalb des universitären Lebens niemand so wirklich weiß, was Geisteswissenschaften genau sind – und vor allem, warum es sie gibt. Selbst ratlos über die Wissenschaft, mit der ich meine Zwanziger verbringe, beginne ich das zu tun, was die Geisteswissenschaftler*innen am besten können – recherchieren.

Der Philosoph Wilhelm Dilthey (1833-1911) sieht den Hauptcharakter der Geisteswissenschaften in dem Versuch, menschliches Handeln zu verstehen. Damit konnte er sie von den Naturwissenschaften abgrenzen, die allgemein gesprochen das Ziel des Erklärens von Naturphänomenen anstreben. Das Einzelne verstehen kann aber nur derjenige, der das Ganze im Blick hat – das Ganze ergibt sich wiederum durch das Einzelne. Es entsteht eine Art Kreislauf – der sogenannte hermeneutische Zirkel. Man merkt, wir machen uns das Leben gerne selber schwer.

Geisteswissenschaftler*innen bedienen sich ihres kritischen Geistes. (Bildquelle: Mystic Art Design, pixabay.com)

Wahrscheinlich könnte die Gesellschaft mit einer Ausbildung zur Geisterjägerin mehr anfangen, wäre zwar schräg, aber immerhin konkret. Nein, wir Geisteswissenschaftler*innen denken abstrakt und deswegen sind unsere Forschungsfelder es nun mal auch. Es geht nicht darum, zu versuchen das Tonndorfer Schlossgespenst zu fangen, sondern zu hinterfragen, wie diese Legende der weißen Frau überhaupt an Popularität gewinnen konnte.

In dem Sammelband „Geisteswissenschaft heute – Die Sicht der Fächer“ verteidigt Julia Aparicio Vogel die Existenz meines Studiengangs:

„In einer Welt, die zunehmend von Informationsüberfluss und Laienwissen dominiert wird, ist ein solcher kritischer Zugang, das Wissen um die Subjektivität jeglicher Meinung, aber auch das Expertenwissen, das die Geisteswissenschaften sehr wohl vermitteln, wichtiger denn je.“

Was G’scheits

Dieser Satz kann auch nur von einer Geisteswissenschaftlerin geschrieben sein – aber wie Recht sie damit hat. Geisteswissenschaften lehren nicht über Steuererklärungen, Kochrezepte oder Businesspläne. Es geht nicht darum, etwas „G’scheits“ zu lernen, wie man in Baden-Württemberg so schön sagt, sondern darum, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen (um Immanuel Kant hier nebenbei mal einfließen zu lassen und zu zeigen, dass sich mein Studium doch im Alltag einbringen lässt!).

Die Geisteswissenschaften beobachten mit einem differenzierten Blick gesellschaftliche Phänomene anhand verschiedener Methoden, immer darauf bedacht, das Ganze im Blick zu haben. Ich beende mein Bachelorstudium und bin zufrieden. Mein Interesse ist geweckt, am Alltäglichen und an Dingen, die Menschen bewegen. Ich habe gelernt zu hinterfragen, warum wir unser Handeln mit „Das macht man halt so“ erklären.

Im Master entscheide ich mich für die Medienwissenschaft und bleibe damit den Geisteswissenschaften treu. Ich freue mich, die lästige Fragerei nach dem Sinn meines Studiums endlich los zu sein – unter Medienwissenschaft kann sich die Allgemeinheit ja vielleicht doch etwas vorstellen. Auf die Frage aller Fragen antworte ich nun voller Zuversicht, als Antwort bekomme ich: „Aah irgendwas mit Medien“. Ist zwar nicht besser, aber immerhin antworte ich jetzt ganz konkret auf die Berufsfrage mit: „Total viel!“ – Gelogen ist das nicht.