Ob im Film, in der Literatur oder in der Musik – traumhafte, romantische Beziehungen sind überall. Aber was ist eigentlich mit denen, die eher Alpträumen gleichen? Über die wird nicht so gern gesprochen. Carmen Maria Machado hat es in ihrem autobiografischen Roman In the Dream House dennoch getan. Willkommen im Traumhaus…
2017 gelang der damals dreißigjährigen Carmen Maria Machado, einer US-Amerikanerin mit kubanischen und österreichischen Wurzeln, der große literarische Durchbruch. Ihr Debüt, eine Kurzgeschichtensammlung, die in Deutschland unter dem Titel Ihr Körper und andere Teilhaber veröffentlicht worden ist, gewann zahlreiche Preise. 2019 erschien ihr ebenfalls vielfach ausgezeichneter, autobiografischer Roman In the Dream House, der im Oktober diesen Jahres in der deutschen Übersetzung unter dem Titel Das Archiv der Träume erscheinen wird. Im Roman berichtet die Autorin mit einer größeren zeitlichen Distanz von ihrer ersten Beziehung mit einer Frau, welche wie ein Traum beginnt. Zusammen ziehen die beiden in das titelgebende „Dream House“, ein kleines, idyllisches Haus in Bloomington, Indiana. Dort wandelt sich die Beziehung allerdings zu einem echten Alptraum, denn die Protagonistin leidet zunehmend unter dem Missbrauch ihrer namenlosen Partnerin, bis sie es schließlich schafft, sich von dieser loszulösen.
Ein (Alp-)Traum, viele Darstellungsformen
Ihren Themen widmet sich die Autorin im Roman in meist nur ein bis zwei Seiten langen Kapiteln. Sie experimentiert dabei mit verschiedenen Genres und betrachtet ihre Beziehung mittels unterschiedlicher Darstellungsmittel, vom Märchen über die Soap Opera bis hin zum Sci-Fi-Thriller. Jedes Kapitel ist nach (s)einem Darstellungsmittel benannt, wobei der Kapiteltitel immer nach dem Schema „Dream House as ____“ gefolgt vom jeweiligen Begriff aufgebaut ist. Auch popkulturelle Einflüsse wie Star Trek und A Nightmare on Elm Street sowie abstrakte Themen, beispielsweise die Apokalypse, werden als Darstellungsmittel eingesetzt.
Den Höhepunkt erreicht der Roman im interaktiven Kapitel Dream House as Choose Your Own Adventure, bei dem sich die Lesenden für verschiedene Szenarien entscheiden und zu einer bestimmten Seite springen können. Hierbei gibt es allerdings keine richtige Antwort, weder für die Lesenden, noch für die Protagonistin im Versuch, einen Streit mit ihrer Partnerin zu schlichten. Durch diese Art der Darstellung sowie die Verwendung der zweiten Person Singular lässt die Autorin die Leserschaft direkt am Alptraum teilhaben.
Das „Dream House“, das Traumhaus, ist keine Metapher, wie die Autorin bereits mit dem ersten Kapitel Dream House as Not a Metaphor feststellt. Das Traumhaus ist ein reales Haus. Es ist ein gemütliches Haus, kann sich aber jederzeit in ein Horrorhaus verwandeln, wenn die Partnerin einen plötzlichen Gewaltausbruch hat. Gleichzeitig ist es auch ein Schutzraum für Machado, die sich dann über Nacht im Badezimmer einsperrt, während ihre Partnerin versucht, die Tür einzutreten. In einem Interview mit der BBC geht Machado auf die Bedeutung von Träumen ein, welche für sie stark mit Idealisierung und Utopien einhergingen. Der „romantische Traum“, der ihr am Anfang ihrer Beziehung vorspielte, dass alles „perfekt“ oder „magisch“ sei und eine „Fantasie“ einer perfekten, idealen Beziehung kreierte, war mit dafür verantwortlich, dass es ihr schwerfiel, später den Missbrauch in der Beziehung als solchen zu benennen.
‚Nur‘ psychischer Missbrauch?
Das Kapitel Dream House as Epiphany – eine Epiphanie ist eine Offenbarung – enthält nur einen einzigen Satz: „Die meisten Arten von häuslicher Gewalt sind komplett legal.“ Da psychische Gewalt für andere unsichtbar ist, wurde Machado in der Vergangenheit abgesprochen, dass sie wirklich Missbrauch erlebt hat, wie sie dem Magazin Vulture berichtete. In den Kapiteln Dream House as Myth und Dream House as Death Wish greift die Autorin diese Aberkennung psychischer Gewalt auf.
Im ersteren beschreibt sie die Reaktionen anderer, die gezwungen sind, ihren Erzählungen ohne physischen Beweis zu glauben, und ihre Erzählungen herunterspielen: „Wir wissen nicht sicher, ob es so schlimm ist, wie sie sagt. Die Frau aus dem Traumhaus scheint völlig in Ordnung zu sein, sogar nett… Liebe ist kompliziert.“ Im Kapitel Dream House as Death Wish beschreibt sie ihre „abgefuckte Fantasie“, ihren regelrechten Wunsch danach, körperlich geschlagen worden zu sein und Verletzungen davongetragen zu haben – allein um einen Beweis zu haben, für die Polizei, für die anderen, aber auch für sich selbst.
„Klarheit ist eine berauschende Droge, und du hast fast zwei Jahre ohne sie verbracht, hast geglaubt, du würdest den Verstand verlieren, hast geglaubt, du wärst das Monster, und du willst etwas Schwarz-Weißes mehr, als du je etwas auf dieser Welt gewollt hast.“
Queere Bösewichte: The Danger of a Single Story
Der zentrale Punkt des Romans ist, dass der psychische Missbrauch in einer lesbischen Beziehung stattfindet. Wie Machado selbst nach dem Ende ihrer Beziehung merkte, gibt es kaum Literatur über Missbrauch in queeren Beziehungen – dabei ist der Autorin zufolge gerade dies der spannendste Punkt. In einem Interview mit Poets and Writers sagte sie: „Es ist etwas so Interessantes an diesem Element, was es bedeutet, wenn die Person, die dich missbraucht, eine andere Frau ist, und dir wurde beigebracht, dass lesbische Beziehungen egalitär und eine Art Paradies sind.“ In den Fußnoten eines Kapitels merkt Machado an, dass Homophobie in queeren Beziehungen die gleiche „Funktion“ erfüllt wie Sexismus in heterosexuellen Beziehungen, wenn es um die Legitimation von Gewalt durch Täter*innen geht: „Ich tue das, weil ich damit durchkommen kann; ich kann damit durchkommen, weil du an einem kulturellen Rand, einer gesellschaftlichen Peripherie existierst.“
Gleichzeitig ist ihr der Erzählerin bewusst, dass queere Charaktere in Mainstreamliteratur und -filmen oft die Rolle des Bösewichts einnehmen. Machado bezeichnet dies im Roman als „Queer Villainy“ und greift hierbei den Grundgedanken aus Chimamanda Ngozi Adichies TED-Talk The Danger of a Single Story auf, der besagt, dass eine einseitige Darstellung Stereotype schafft und somit schädlich ist. Laut Machado ist diese einseitige Repräsentation queerer Menschen gefährlich, da sie „reale Assoziationen von Bösem“ schaffe. Daher plädiert sie dafür, weiterhin queere Bösewichte zu zeigen, allerdings müssten queere Charaktere dann auch in positiven Rollen zu sehen sein.
Laut der Autorin tragen Künstler*innen eine Verantwortung, wen sie als Bösewicht auswählen – daher hatte sie selbst Angst, dass In the Dream House zu dieser Bösewicht-Darstellung queerer Menschen beitragen und Stereotypien über lesbische Frauen verstärken könnte, wie sie im genannten Interview mit der BBC verriet. Das Dilemma beschreibt die Autorin selbst im Roman wie folgt: „Queere Leute brauchen diese gute PR; um für Rechte zu kämpfen, die wir nicht haben, um die zu behalten, die wir haben. Aber haben wir nicht die ganze Zeit versucht zu sagen, dass wir genau wie ihr sind?“
In the Dream House als ein Archiv der Träume
Carmen Maria Machados Roman ist – passend zum Titel der deutschsprachigen Ausgabe – ein wahres Archiv der Träume. So merkt Anna-Nina Kroll, die kürzlich den Roman ins Deutsche übersetzt hat, zum Traum-Motiv an:
„Träume kommen im Buch in allen Formen und Farben vor. Als Déjà-vus, als Alpträume, als Tagträume, als Zukunftsträume, als Träume von einer lesbischen Utopie und vor allem als (im Original) titelgebende Metapher, die besondere Kraft entwickelt, indem sie ins Gegenteil verkehrt wird.“
Durch seine besondere Form, Sprache und Thematik ist In the Dream House ein absolut einzigartiger Roman und eine nachdrückliche Lektüre, die zwar nicht immer einfach zu lesen ist, dadurch aber auch unvergesslich wird. Eine absolute Leseempfehlung – nicht nur für Träumer*innen.
Titelbild: © Graywolf Press
Die Übersetzungen im Text stammen von Julia Faißt.
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