Ob im Film, in der Literatur oder in der Musik – traumhafte, romantische Beziehungen sind überall. Aber was ist eigentlich mit denen, die eher Alpträumen gleichen? Über die wird nicht so gern gesprochen. Carmen Maria Machado hat es in ihrem autobiografischen Roman In the Dream House dennoch getan. Willkommen im Traumhaus…

2017 gelang der damals dreißigjährigen Carmen Maria Machado, einer US-Amerikanerin mit kubanischen und österreichischen Wurzeln, der große literarische Durchbruch. Ihr Debüt, eine Kurzgeschichtensammlung, die in Deutschland unter dem Titel Ihr Körper und andere Teilhaber veröffentlicht worden ist, gewann zahlreiche Preise. 2019 erschien ihr ebenfalls vielfach ausgezeichneter, autobiografischer Roman In the Dream House, der im Oktober diesen Jahres in der deutschen Übersetzung unter dem Titel Das Archiv der Träume erscheinen wird. Im Roman berichtet die Autorin mit einer größeren zeitlichen Distanz von ihrer ersten Beziehung mit einer Frau, welche wie ein Traum beginnt. Zusammen ziehen die beiden in das titelgebende „Dream House“, ein kleines, idyllisches Haus in Bloomington, Indiana. Dort wandelt sich die Beziehung allerdings zu einem echten Alptraum, denn die Protagonistin leidet zunehmend unter dem Missbrauch ihrer namenlosen Partnerin, bis sie es schließlich schafft, sich von dieser loszulösen.

Ein (Alp-)Traum, viele Darstellungsformen

Ihren Themen widmet sich die Autorin im Roman in meist nur ein bis zwei Seiten langen Kapiteln. Sie experimentiert dabei mit verschiedenen Genres und betrachtet ihre Beziehung mittels unterschiedlicher Darstellungsmittel, vom Märchen über die Soap Opera bis hin zum Sci-Fi-Thriller. Jedes Kapitel ist nach (s)einem Darstellungsmittel benannt, wobei der Kapiteltitel immer nach dem Schema „Dream House as ____“ gefolgt vom jeweiligen Begriff aufgebaut ist. Auch popkulturelle Einflüsse wie Star Trek und A Nightmare on Elm Street sowie abstrakte Themen, beispielsweise die Apokalypse, werden als Darstellungsmittel eingesetzt.

Den Höhepunkt erreicht der Roman im interaktiven Kapitel Dream House as Choose Your Own Adventure, bei dem sich die Lesenden für verschiedene Szenarien entscheiden und zu einer bestimmten Seite springen können. Hierbei gibt es allerdings keine richtige Antwort, weder für die Lesenden, noch für die Protagonistin im Versuch, einen Streit mit ihrer Partnerin zu schlichten. Durch diese Art der Darstellung sowie die Verwendung der zweiten Person Singular lässt die Autorin die Leserschaft direkt am Alptraum teilhaben.

Das „Dream House“, das Traumhaus, ist keine Metapher, wie die Autorin bereits mit dem ersten Kapitel Dream House as Not a Metaphor feststellt. Das Traumhaus ist ein reales Haus. Es ist ein gemütliches Haus, kann sich aber jederzeit in ein Horrorhaus verwandeln, wenn die Partnerin einen plötzlichen Gewaltausbruch hat. Gleichzeitig ist es auch ein Schutzraum für Machado, die sich dann über Nacht im Badezimmer einsperrt, während ihre Partnerin versucht, die Tür einzutreten. In einem Interview mit der BBC geht Machado auf die Bedeutung von Träumen ein, welche für sie stark mit Idealisierung und Utopien einhergingen. Der „romantische Traum“, der ihr am Anfang ihrer Beziehung vorspielte, dass alles „perfekt“ oder „magisch“ sei und eine „Fantasie“ einer perfekten, idealen Beziehung kreierte, war mit dafür verantwortlich, dass es ihr schwerfiel, später den Missbrauch in der Beziehung als solchen zu benennen.

Nur psychischer Missbrauch?

Das Kapitel Dream House as Epiphany – eine Epiphanie ist eine Offenbarung – enthält nur einen einzigen Satz: „Die meisten Arten von häuslicher Gewalt sind komplett legal.“ Da psychische Gewalt für andere unsichtbar ist, wurde Machado in der Vergangenheit abgesprochen, dass sie wirklich Missbrauch erlebt hat, wie sie dem Magazin Vulture berichtete. In den Kapiteln Dream House as Myth und Dream House as Death Wish greift die Autorin diese Aberkennung psychischer Gewalt auf.

Im ersteren beschreibt sie die Reaktionen anderer, die gezwungen sind, ihren Erzählungen ohne physischen Beweis zu glauben, und ihre Erzählungen herunterspielen: „Wir wissen nicht sicher, ob es so schlimm ist, wie sie sagt. Die Frau aus dem Traumhaus scheint völlig in Ordnung zu sein, sogar nett… Liebe ist kompliziert.“ Im Kapitel Dream House as Death Wish beschreibt sie ihre „abgefuckte Fantasie“, ihren regelrechten Wunsch danach, körperlich geschlagen worden zu sein und Verletzungen davongetragen zu haben – allein um einen Beweis zu haben, für die Polizei, für die anderen, aber auch für sich selbst.

„Klarheit ist eine berauschende Droge, und du hast fast zwei Jahre ohne sie verbracht, hast geglaubt, du würdest den Verstand verlieren, hast geglaubt, du wärst das Monster, und du willst etwas Schwarz-Weißes mehr, als du je etwas auf dieser Welt gewollt hast.“

Queere Bösewichte: The Danger of a Single Story

Der zentrale Punkt des Romans ist, dass der psychische Missbrauch in einer lesbischen Beziehung stattfindet. Wie Machado selbst nach dem Ende ihrer Beziehung merkte, gibt es kaum Literatur über Missbrauch in queeren Beziehungen – dabei ist der Autorin zufolge gerade dies der spannendste Punkt. In einem Interview mit Poets and Writers sagte sie: „Es ist etwas so Interessantes an diesem Element, was es bedeutet, wenn die Person, die dich missbraucht, eine andere Frau ist, und dir wurde beigebracht, dass lesbische Beziehungen egalitär und eine Art Paradies sind.“ In den Fußnoten eines Kapitels merkt Machado an, dass Homophobie in queeren Beziehungen die gleiche „Funktion“ erfüllt wie Sexismus in heterosexuellen Beziehungen, wenn es um die Legitimation von Gewalt durch Täter*innen geht: „Ich tue das, weil ich damit durchkommen kann; ich kann damit durchkommen, weil du an einem kulturellen Rand, einer gesellschaftlichen Peripherie existierst.“

Gleichzeitig ist ihr der Erzählerin bewusst, dass queere Charaktere in Mainstreamliteratur und -filmen oft die Rolle des Bösewichts einnehmen. Machado bezeichnet dies im Roman als „Queer Villainy“ und greift hierbei den Grundgedanken aus Chimamanda Ngozi Adichies TED-Talk The Danger of a Single Story auf, der besagt, dass eine einseitige Darstellung Stereotype schafft und somit schädlich ist. Laut Machado ist diese einseitige Repräsentation queerer Menschen gefährlich, da sie „reale Assoziationen von Bösem“ schaffe. Daher plädiert sie dafür, weiterhin queere Bösewichte zu zeigen, allerdings müssten queere Charaktere dann auch in positiven Rollen zu sehen sein.

Laut der Autorin tragen Künstler*innen eine Verantwortung, wen sie als Bösewicht auswählen – daher hatte sie selbst Angst, dass In the Dream House zu dieser Bösewicht-Darstellung queerer Menschen beitragen und Stereotypien über lesbische Frauen verstärken könnte, wie sie im genannten Interview mit der BBC verriet. Das Dilemma beschreibt die Autorin selbst im Roman wie folgt: „Queere Leute brauchen diese gute PR; um für Rechte zu kämpfen, die wir nicht haben, um die zu behalten, die wir haben. Aber haben wir nicht die ganze Zeit versucht zu sagen, dass wir genau wie ihr sind?“

In the Dream House als ein Archiv der Träume

Carmen Maria Machados Roman ist – passend zum Titel der deutschsprachigen Ausgabe – ein wahres Archiv der Träume. So merkt Anna-Nina Kroll, die kürzlich den Roman ins Deutsche übersetzt hat, zum Traum-Motiv an:

„Träume kommen im Buch in allen Formen und Farben vor. Als Déjà-vus, als Alpträume, als Tagträume, als Zukunftsträume, als Träume von einer lesbischen Utopie und vor allem als (im Original) titelgebende Metapher, die besondere Kraft entwickelt, indem sie ins Gegenteil verkehrt wird.“

Durch seine besondere Form, Sprache und Thematik ist In the Dream House ein absolut einzigartiger Roman und eine nachdrückliche Lektüre, die zwar nicht immer einfach zu lesen ist, dadurch aber auch unvergesslich wird. Eine absolute Leseempfehlung – nicht nur für Träumer*innen.

 

Titelbild: © Graywolf Press 

Die Übersetzungen im Text stammen von Julia Faißt.

 

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Kopf mit bunter Wolke Träume

Grüne Käfer, rote Schuhe oder gelbe Blumen. Farben in Träumen faszinieren uns und regen nicht selten zur Traumdeutung an. Aber was ist, wenn wir in Schwarzweiß träumen? Wie das mit unseren Medienerfahrungen zusammenhängen könnte, klärt ein Blick in die ‚Traumfarbforschung‘ der letzten hundert Jahre.  

Ein Kind sitzt auf einem Dreirad. Die Räder quietschen, das Lenkrad wackelt und der Blick nach vorne offenbart eine menschenverlassene Stadt. Unzählige Wolkenkratzer machen ihrem Namen alle Ehre und verschwinden im Grau des Himmels. Die Gassen dazwischen engen auf den ersten Blick ein. Sobald das Dreirad um die Ecke quietscht, breitet sich die Entfernung zwischen den Betonfassaden jedoch ins Unendliche aus. Eine Unendlichkeit von Schwarz-, Weiß- und Grautönen. Kein Fensterrahmen, kein Straßenschild, keine Dreiradpedale in dieser Stadt sind in Farbe getaucht. Alles ist schwarzweiß. An diesen Traum kann ich mich erinnern, seit ich Dreirad fahren kann. Zumindest glaube ich mich daran erinnern zu können. Ein Traum ganz ohne Farbe – kann das überhaupt sein?  

Traum oder Film?

Die Traumforschung ist sich darin einig, dass Sorgen, Tätigkeiten und Erfahrungen aus dem Alltag den Inhalt eines Traums beeinflussen. Meine Dreiradfahrt durch den schwarzweißen Großstadtdschungel erinnert jedoch eher an eine Szene aus einem Film Noir. In der nächsten Sequenz könnte sich ein graugekleideter Ermittler, an eine Betonwand gelehnt, seine Zigarette anzünden. Eine in Schatten getauchte Frau würde derweil in eines der Hochhäuser stöckeln, den Blick des Ermittlers auf ihrem Rücken…

Bereits 1926 sprach der Regisseur René Clair von einer besonderen Nähe zwischen Zuschauer*innen eines Kinofilms und Träumenden, die in den Bann ihres Traums gezogen werden. Der klinische Psychologe Robert Van de Castle beschreibt in seinem Buch Our Dreaming Mind tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Mediennutzung und Trauminhalten. Vor allem emotionale Szenen sollen demnach beeinflussen, welche Geschichten sich nachts in unserem Unterbewusstsein abspielen. Aber auch die formalen Aspekte von Medien scheinen sich in Träumen wiederzufinden. 1961 behauptete der Psychoanalytiker Ángel Garma sogar, Träume seien wie Stummfilme, ohne Ton oder Farbe.

Technicolor-Träume

Können Medien also auch beeinflussen, ob wir in Farbe träumen oder nicht? Die Psychologin Eva Murzyn wollte in einer 2008 veröffentlichten Studie genau diese Frage beantworten. Hintergrund dafür lieferten Unstimmigkeiten, die der Philosoph Eric Schwitzgebel feststellen konnte, als er frühe Traumstudien mit später durchgeführten Erhebungen verglich. Im frühen 20. Jahrhundert waren nicht nur Filme schwarzweiß, sondern auch Träume sollen im Regelfall keine Farben enthalten haben. In einer 1915 durchgeführten Studie träumten nur 20 Prozent der Proband*innen in Farbe. Ebenfalls im Jahr 1915 gründete der US-amerikanische Geschäftsmann Herbert Kalmus das Filmunternehmen Technicolor, welches circa vier Jahrzehnte später den Farbfilm revolutionieren sollte. Nicht ohne Grund nannten Traumforscher*innen Farbträume damals ‚Technicolor-Träume‘.

Während sich heute ganze Webseiten und Bücher der Frage widmen, was bestimmte Farben im Traum zu bedeuten haben, waren all diese Traumfarben in den Fünfzigern nur eins: Symptome einer psychischen Krankheit. Forscher*innen des St. Louis Krankenhauses in Missouri fanden diese bei psychisch erkrankten Patient*innen etwa drei Prozent häufiger als bei anderen Patient*innen des Krankenhauses. Auffällig ist nun, dass sich diese Auffassung in den Sechzigern änderte. In einer Studie von 1962 gaben rund 83 Prozent der Befragten an, in Farbe zu träumen. Parallel zu diesem neuen Farbanstrich der Traumwelt machte aber auch eine ganze Industrie Fortschritte in Richtung Farbe: die Filmindustrie.

Medien als Traumvorbilder

Die Dreistreifenkamera von Technicolor revolutionierte Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts die Filmindustrie. © Marcin Wichary

Die internationalen Kinoleinwände erstrahlten ab den Vierzigern in immer mehr Farben, Ende der Sechziger produzierte die Traumfabrik fast alle Filme in Color. Zudem besaß die Mehrheit aller US-amerikanischen Haushalte 1972 einen Farbfernseher. Farbmedien ersetzten Stück für Stück ihre schwarzweißen Vorgänger. Eva Murzyn stellt in ihrer Studie zwei Ansätze vor, die erklären, wie diese Entwicklung für den Umbruch in der Traumforschung verantwortlich sein könnte: Entweder beeinflussen Medien direkt die Traumform und somit auch die Farbgebung, oder sie beeinflussen lediglich die Annahmen darüber, wie Träume auszusehen haben. Da Träume nur selten im Langzeitgedächtnis gespeichert werden, vergisst man schnell Details zu Form und Inhalt des Geträumten.

Allein die Annahme, dass Träume typischerweise schwarzweiß sind, kann die Wahrnehmung verzerren und eigene Träume im Nachhinein farblos erscheinen lassen. Frühe Dokumentationen zu Träumen legen laut Murzyn nahe, dass Menschen vor dem 20. Jahrhundert mehrheitlich in Farbe träumten. Damals, so argumentiert die Psychologin in ihrer Dissertation, gab es auch noch keine Filme, die als Vorlage zur eigenen Realitäts- und Traumwahrnehmung dienten. Menschen, die hauptsächlich Schwarzweißfilme konsumieren, passen ihr Traumerlebnis also an das mediale Vorbild an. Die Träume erscheinen somit in Retroperspektive farblos.

Die Farben der Kindheit

Und wie kommt es, dass Menschen heute noch behaupten, schwarzweiße Träume zu haben? Eva Murzyn untersuchte in ihrer Studie die Träume von 60 Personen darauf, ob sie diese als grau oder bunt wahrnehmen. Dabei teilte sie die Proband*innen in zwei Gruppen auf: die unter 25-Jährigen und die über 55-Jährigen. Den Traumtagebüchern und Befragungen konnte Murzyn schließlich entnehmen, dass in der jungen Gruppe durchschnittlich nur etwa 4 Prozent der Träume schwarzweiß ausfallen. Die älteren Proband*innen hingegen konnte sie nochmals in zwei Gruppen spalten. Diejenigen, die bereits im Grundschulalter Farbfernsehen konsumierten, träumten zu über 90 Prozent in Farbe. Von den Studienteilnehmenden, die mit Schwarzweißmedien aufwuchsen, behauptete jede*r Vierte noch immer, in Grautönen zu träumen. „Es könnte also eine kritische Periode in der Kindheit geben, in der Filme eine wichtige Rolle dabei spielen, wie unsere Träume aussehen“, mutmaßt Murzyn. 

Der schwarzweiße Großstadttraum aus meiner Kindheit kann also noch immer nicht vollständig erklärt werden. Ich gehöre zweifellos zur Generation Farbfernsehen und träume auch sonst nicht in Grautönen. Aber wer weiß, vielleicht hat das dreiradfahrende Mädchen vor dem Schlafengehen ein paar Blicke auf einen schwarzweißen Krimi erhaschen können. Oder vielleicht verzerrte ein späterer Stummfilmmarathon die Erinnerung an die Fahrt durch den Wald aus Wolkenkratzern. Denn Medien haben eine Wirkung auf die Farbwelt unserer Träume – egal, ob sie sich bereits im Schlaf in Grautönen abspielen oder unser Gedächtnis das Geträumte erst im Nachhinein schwarzweiß einfärbt. 

© Titelbild: Unsplash

 

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Kopf mit bunter Wolke Träume

Was haben Platon und Billie Eilish gemeinsam? Abgesehen von einer großen Fanbase ist es die Beschäftigung mit dem Phänomen des Traums. In ihrem Debütalbum griff die junge Sängerin ein jahrtausendealtes Rätsel auf: Wo gehen wir eigentlich hin, wenn wir einschlafen? Auf diese Frage wissen weder Philosoph*innen noch Popstars eine definitive Antwort. Letztere können das Thema aber immerhin musikalisch verarbeiten. Eilishs Album wirkt wie eine surreale Reise durch die verschiedenen Dimensionen des Traums.

Ein kleines Schlafzimmer, irgendwo in Los Angeles, Mitte der 2010er-Jahre: Hier wird nicht nur geträumt, sondern auch Musik gemacht. Gemeinsam mit Finneas O’Connell – ihrem Bruder und Produzenten – nimmt Billie Eilish ihr erstes Album größtenteils zu Hause auf. Was auf wenigen Quadratmetern beginnt, endet in ausverkauften Konzerthallen: Das Album bringt der jungen Sängerin weltweite Anerkennung, fünf Grammys und Millionen von Fans.

Für Billie Eilish ist es ein wahrgewordener Traum – in mehr als nur einem Sinne. Wie die Titelfrage When we all fall asleep, where do we go? andeutet, dreht sich das 2019 erschienene Album um das Rätsel des Träumens. Billie Eilish sieht ihr Werk als eine musikalische Interpretation des Traumhaften. Obwohl es nicht in jedem der 14 Songs explizit um Träume geht, zieht sich eine typisch traumartige Surrealität durch das gesamte Album. 

Die (alp)traumhafte Welt der Billie Eilish

Eilish kennt sich mit außergewöhnlichen Traumerfahrungen aus. In Interviews behauptete sie wiederholt, sie träume stets luzid und könne ihren Traum wie ein Computerspiel steuern. Neben Klarträumen habe sie auch Wahrträume, in denen sie von Dingen träumt, die sich in der Zukunft ereignenAuch Alpträume plagen die Künstlerin, manchmal kehrt derselbe furchtbare Traum jede Nacht über Monate hinweg wieder. Zudem erlebte sie mehrmals eine Schlafparalyse.

Bei der Schlafparalyse oder Schlafstarre kehrt das Bewusstsein eines Schlafenden zurück, während er sich in der Muskellähmung befindet, die in der REM-Phase des Schlafs auftritt. Für die Paralysierten ist es meist ein zutiefst erschütterndes Erlebnis. Als wäre die Lähmung nicht schlimm genug, sind Schlafparalysen oft mit erschreckenden Halluzinationen verbunden. Viele Menschen sehen schwarze Schattengestalten oder spüren die Präsenz böswilliger Dämonen. Auch für Billie Eilish waren diese Erfahrungen sehr beängstigend und unangenehm – aber dennoch nützlich. 

Auch Schatten brauchen Liebe

Billie Eilish Albumcover

Billie Eilish schlüpft auf dem Cover ihres ersten Albums in die Rolle eines Nacht-Dämons. © Universal Music

Ohne Nachtschrecken wäre ihr Debütalbum gar nicht entstanden. Der erste Funken, der den kreativen Prozess zu diesem Projekt entfachte, war Bury a Friend – eine musikalische Darstellung der Schlafparalyse, in der Billie Eilish selbst in die Rolle des Dämons schlüpft. Diese Idee spiegelt sich auch auf dem Album-Cover wider: Mit teuflischem Grinsen sitzt die Künstlerin auf einem Bett, ihre ausgefüllten Augenhöhlen leuchten in der Dunkelheit. Billie Eilishs Identifikation mit dem Dämonischen knüpft an psychologische Erklärungen an, die Schreckenshalluzinationen auf unbewusste und verdrängte Aspekte der Psyche zurückführen.

Nach Carl Gustav Jung hat jeder Mensch einen „Schatten“ – eine destruktive und böswillige Seite, die  unter der Fassade der Ich-Persönlichkeit verborgen liegt. Der Schatten kann nicht bekämpft werden. Stattdessen sollte ein Individuum diesem Aspekt des Selbst bewusst begegnen und ihn produktiv in die Persönlichkeit eingliedern. Bury a Friend echot eine solche Konfrontation mit dem Bösen. „Why don’t you run from me, Why aren’t you scared of me“ und „Why do you care for me?“ fragt der Dämon in den ersten Zeilen des Songtexts. Er ist ganz verwundert über die Aufmerksamkeit und Zuneigung, die ihm nur selten zuteil wird. Trotzdem macht er es dem Träumer nicht leicht und bleibt ganz im Sinne des Jung’schen Schattens eine mysteriöse Gestalt: „Keep you in the dark – what had you expected?“

Ein Zahnbohrer als Instrument

Musikalisch wird die Horror-Atmosphäre durch minimalistische Instrumentalbegleitung, ein schauriges G-Moll und einen relativ schnellen Beat (120 Schläge pro Minute) untermalt. Letzteres könnte für den rasenden Herzschlag des Alpträumenden stehen. Doch das Sahnehäubchen auf dieser Alptraumtorte ist ein eher unkonventionelles ‚Instrument‘: In Bury a friend kommt der Klang eines Zahnbohrers zum Einsatz. Außergewöhnliche Töne tauchen im gesamten Album auf. Im Refrain von Bad Guy kommt zum Beispiel das Ticken einer australischen Fußgängerampel vor. Ganz zu Beginn des Albums hört man außerdem, wie Billie Eilish ihre Zahnspange herausnimmt (was wiederum zur Traumthematik passt – sie nimmt die Spange heraus, um sich bettfertig zu machen). Im Schlaf verarbeiten wir Alltagserlebnisse zu Träumen, in Billie Eilishs traumhaftem Album verwandelt sie Alltagsgeräusche in Musik.

Teufel, Drogen und Zuckerwatte

Die Tracklist des Albums ist sehr vielfältig, auch wenn die düstere Stimmung des tongebenden Bury a friend vorherrscht. Auch in anderen Songs beschäftigt sich Billie Eilish mit dem Bösen: Vom Dämon in Bury a friend entwickelt sie sich in All the good girls go to hell zu Satan höchstpersönlich weiter. Wie im Traum schlüpft Billie Eilish in verschiedene Rollen, verarbeitet Ängste und lebt geheime Wünsche aus: You should see me in a crown ist eine größenwahnsinnige Machtfantasie, Ilomilo ein stiller Sehnsuchtstraum und Xanny handelt von der Angst, gute Freunde an Drogen zu verlieren. Auch der typische Traum vom Fall kommt vor in einem sehr drastischen Kontext: In Listen before I go beabsichtigt das lyrische Ich vom Hochhaus zu springen. Doch das Album ist kein reiner Alptraum: Auch fröhliche und unbeschwerte Tracks sind dabei, etwa 8. Die kindliche Gesangsstimme und Ukulele-Begleitung lassen wie einen Zuckerwattentraum aus der Fantasie einer Achtjährigen klingen.

Wenn Träume Träume erfüllen

Billie Eilish betonte in Interviews immer wieder, wie persönlich ihr Debütalbum für sie ist. Nach einer genaueren Betrachtung wird klar, warum: Das Album ist ein Querschnitt ihrer Psyche – so wie die Träume, die sie dazu inspiriert haben. Im Endeffekt haben diese Billie Eilish zu ihrem sensationellen Erfolg als Musikerin verholfen: Ihre Träume erfüllten ihren Traum. Für ihre Grammys kann sie dem Schlafparalyse-Dämon danken. 

 

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Kopf mit bunter Wolke Träume

Ätherische Melodien und Vocals, sanfte psychedelische Effekte, traumgleiche Klangwelten. Dream Pop vereint zahlreiche Qualitäten, die eigentlich ein ‚klassisches‘ Underground-Genre ausmachen. Dennoch schaffte es die träumerische Musikrichtung Anfang der 2010er-Jahre unverhofft in die Charts. Es war die experimentierfreudige Songwriterin Lana del Rey aus Los Angeles, die dem Genre mit Alben wie Ultraviolence und Honeymoon zu neuem Glanz verhalf. Doch wo kommt der Dream Pop eigentlich her? 

Die Shoegaze-Band Slowdive aus Reading zählt zu den Pionieren des Dream Pop. © Flickr

Dream Pop entwickelte sich ursprünglich im Großbritannien der späten 1980er- und frühen 1990er-Jahre aus dem Alternative Rock. Nicht selten inspiriert von den träumerischen und psychedelischen Sounds und Bands der 1960er/70er-Jahre wie beispielsweise den Beach Boys („All I Wanna Do“, 1970) und The Velvet Underground. Die schottische Band Cocteau Twins mit ihrem Album Head Over Heels (1983) und die britische Band Slowdive waren Wegbereiter für eine erste Popularisierung des Genres.

Über die kommenden Jahre und Jahrzehnte wagten sich zahlreiche weitere Künstler*innen zumindest vorübergehend an den verträumten Sound heran oder verschrieben sich diesem voll und ganz. Darunter Gruppen wie Beach House, M83, Au Revoir oder The Cure. Komponist Angelo Badalamenti und Sängerin Julee Cruise zeigten mit den Filmmusiken für Blue Velvet und Twin Peaks darüber hinaus, dass das Genre über hervorragende Soundtrack-Qualitäten verfügt.

Wie Träume klingen

Der Sound des Dream Pop ist markant und vielschichtig. Die vornehmlich weiblichen Vocals werden für gewöhnlich exzessiv mit Echo- und Reverb-Effekten unterlegt. Diese helfen dabei, die Stimme voller und natürlicher klingen und länger nachhallen zu lassen. Synths und gelayerte Gitarren generieren eine sanfte, weiche und oftmals elegische Stimmung. Auch mystische Melodien und Rhythmen tragen zum verträumten und ätherischen Feeling der Songs bei. Die Akkordfortschreitung bleibt dabei trotz der unkonventionellen Art der Bearbeitung stets im klassischen Pop verwurzelt. Die Beats sind allerdings deutlich weniger betont produziert, als es normalerweise in diesem Genre der Fall wäre. Die zahlreichen Effekte haben ein klares Ziel. Im Dream Pop soll ein Aspekt alle anderen überstrahlen: die Atmosphäre.

Dream Pop-Bands haben überwiegend kleine Besetzungen und bestehen zumeist aus Gitarrist*innen, Bassist*innen, Drummer*innen und Sänger*innen. Die Vocals nehmen dabei einen besonders dominanten Part ein, wobei Melodie und Klang wichtiger sind als die eigentlichen Texte. Die Stimme kann somit als das vorherrschende ‚Instrument‘ verstanden werden. Daher eignet sich das Genre auch hervorragend für Solo-Künstler*innen. Bands und Künstler*innen kombinieren die klanglichen Elemente des Dream Pop oft mit verwandten Genres wie dem Indie-Rock, dem Synth-Pop oder dem Noise Pop, um letztlich einen charakteristischen Sound für sich zu entwickeln.

Die ‚Dream Queen‘

So auch Lana del Rey. Keine Dream Pop-Künstlerin war in den vergangenen Jahren wichtiger und einflussreicher. Das Billboard-Magazin bezeichnet sie als Impulsgeberin für den Sound einer neuen Generation des Pop – weg von der aufdringlichen elektronischen Tanzmusik der frühen 2010er hin zu einem melancholischeren und vom Hip-Hop geprägten Stil. Bruce Springsteen nannte sie mal eine der besten Songwriter*innen der Vereinigten Staaten. Für Stars wie Taylor Swift, Halsey und Billie Eilish stellt sie eine bedeutende Inspirationsquelle dar und ist damit auch weit über die Grenzen des Dream Pop hinaus eine der einflussreichsten Künstler*innen der Gegenwart.

Lana del Rey hat den Dream Pop in den 2010er-Jahren wieder popularisiert. © Flickr

Insbesondere in den frühen Jahren ihrer Karriere nutzte del Rey die atmosphärischen Elemente des Dream Pop als Basis für ihren Stil. Prononciert sind diese beispielsweise bei Songs wie „Video Games“, „Ultraviolence“ oder „Brooklyn Baby“ zu hören. Dabei integrierte sie etwa mit Baroque Pop eine Mischung aus klassischer Musik und Pop, setzt mit Indie subtile Akzente und gab ihrem Sound dadurch eine persönliche Handschrift. Was sie wohl jedoch am meisten von ‚klassischen‘ Dream Pop-Acts unterscheidet, ist der starke Fokus auf die Lyrics. Hier finden sich viele Spuren von Nostalgie, wenn sie über Americana der 1950er und 1960er-Jahre singt.

Die Themen sind zu dieser Zeit zumeist düster, trist oder bittersüß. Oft geht es um Alkohol, Drogen, Geld, Ruhm, toxische Beziehungen und ihre Affinität zu reichen weißen Männern. Aber auch darum, trotz all dieser Probleme im Leben die Kontrolle zu behalten. Der eher finstere Blick auf das Leben sollte sich in den kommenden Jahren mit wechselnden Genres doch noch – zumindest gelegentlich – zum Positiven orientieren, was Tracks wie „Love“, „Lust for Life“ und insbesondere „Get Free“ exemplarisch darstellen.

Nach Ausbrüchen in neue Gefilde wie Soft Rock, Folk und Psychedelia bleibt abzuwarten, ob die ‚Dream Queen‘ auf ihrem bald erscheinenden Album Blue Banisters weiterhin ihre Experimentierfreudigkeit auslebt oder, nach einigen Jahren Abstinenz, doch wieder zu ihren Wurzeln zurückkehrt, wie es die drei vorab veröffentlichten Singles bereits ein wenig vermuten lassen. In diesem Fall nimmt sie uns vielleicht wieder einmal mit auf eine verträumte Fahrt durch ein längst vergangenes (oder vielleicht ohnehin fiktives) Amerika.

 

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