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„Wenn wir träumen, betreten wir eine Welt, die ganz und gar uns gehört. Vielleicht durchschwimmt er gerade den tiefsten Ozean oder gleitet über die höchste Wolke“, flüstert Hogwarts-Schulleiter Albus Dumbledore im dritten Harry-Potter-Film über den vermeintlich schlafenden Harry gebeugt. Wenn Dumbledore nur wüsste, dass Fans der Buchreihe vermuten, Harry hätte ihn, Hogwarts und die gesamte Zauberwelt nur erträumt. Wir schauen uns eine der verrücktesten Harry-Potter-Theorien genauer an.

Kuriose Fantheorien gibt es nahezu über jedes bekannte Franchise: Fans interpretieren gern Zweideutiges, rätseln über ungelöste Geheimnisse oder rücken mal eben die gesamte Geschichte in ein anderes Licht. Davon bleibt auch die von der britischen Schriftstellering J.K. Rowling erschaffene Harry-Potter-Welt nicht verschont. Theorien wie solche, dass Harrys bester Freund Ron in Wahrheit ein zeitreisender Dumbledore sei, kursieren in zahlreichen Foren und werden heiß diskutiert. Eine dieser Theorien sticht jedoch besonders heraus: Harry sei eigentlich gar kein Zauberer, sondern hätte sich seine Abenteuer nur erträumt. Die miserable Erziehung durch Tante und Onkel Dursley, seinen Zieheltern, hätte Harry dazu veranlasst, sich in eine andere Welt zu fantasieren – in eine, in der er selbst der Held ist und die Macht hat, das Böse zu bekämpfen. Was soll man auch anderes tun, wenn man Zeit seines Lebens in einem Schrank unter der Treppe eingesperrt ist?

Die Theorie stellt Harry als einen psychisch hochgradig belasteten Jugendlichen vor, welcher als Bewältigungsstrategie gleich eine ganze Welt erträumt. Demnach seien Harrys Eltern auch gar nicht von dessen Erzfeind Lord Voldemort getötet worden, sondern tatsächlich bei einem Autounfall gestorben. Ganz so, wie die Dursleys es Harry auch beigebracht haben, um ihn so fern wie möglich von seinem Schicksal als Zauberer zu halten. Das Aufwachsen ohne Eltern und die schlechte Behandlung durch die Dursleys führten schließlich zu seinem psychisch labilen Zustand. So erschütternd diese Theorie auch klingt, die originellen Ausschmückungen der Fans erlauben es unserer Meinung nach, zur genaueren Betrachtung ein klein wenig Galgenhumor in den Gerüchtekessel zu streuen.

Ein Ausraster bringt Harry geradewegs in die Psychiatrie

Der Fantheorie zufolge hatte Harry die miese Erziehung und die Sticheleien seines Cousins und Ziehbruders Dudley satt und beendete den Aufenthalt bei Onkel und Tante mit einem gewaltigen Knall. Im ersten Teil Harry Potter und der Stein der Weisen ist es der Halbriese Hagrid, welcher Harry aus den Fängen der Dursleys befreit, Dudley als Strafe ein Schweineschwänzchen ans Gesäß zaubert und den kleinen Zauberer dorthin bringt, wo er eigentlich hingehört: Nach Hogwarts, der Schule für Hexerei und Zauberei. In ‚Wahrheit‘ soll es Harry selbst gewesen sein, der in einem wilden Anfall den wehrlosen Dudley angegriffen und gefährlich verletzt hat. Das Resultat: der direkte Weg in die Psychiatrie. Bye, Harry.

„Harry, du bist ein Zauberer“, heißt es im ersten Teil an dieser Stelle. Was Hagrid laut Fantheorie wohl eigentlich sagen wollte: „Harry, du bist psychisch krank.“
© Runa Marold

Hogwarts ist gar keine Schule

An dieser Stelle öffnet sich erstmals die Tür zu Harrys fantastischer Traumwelt. Anstatt einer Psychiatrie hat der vermeintliche Zauberer plötzlich ein sagenumwobenes Schloss voller Magie, Wunder und jeder Menge Obskuritäten vor sich. Geister tauchen aus Esstischen hervor, Treppen verschieben sich nach eigenem Willen, Kinder bringen Federn mit Zauberformeln zum Schweben, und in einer geheimen Kammer haust ein gefährlicher dreiköpfiger Hund. Klingt ziemlich irre, oder? Dachten sich auch die Vertreter*innen der Fantheorie und fühlten sich sofort an abstruse Bilder aus anderen filmischen Interpretationen von Psychiatrien erinnert. Harry soll sich demnach von den verrückten Machenschaften anderer Anstaltbewohner*innen inspirieren lassen und darauf aufbauend seine Fantasie-Zauberwelt ersonnen haben. Dumbledore und die anderen Lehrer*innen seien eigentlich die angestellten Ärzt*innen, welche ihr Bestes versuchen um die psychisch kranken Insassen zu behandeln. Und der dreiköpfige Hund? Vielleicht nur eins der von Harry gehassten Therapie-Kuscheltiere. Wer nennt so ein Monstrum schließlich Fluffy?

Hogwarts, die Schule für Hexerei und Zauberei – ist in Wahrheit gar nicht so magisch? Wilkommen in der Psychiatrie, Harry.
© Runa Marold

Harry ist der Star seiner eigenen Welt

Zauberer-Dasein hin oder her, Harrys Identität besteht bei weitem nicht nur aus der Fähigkeit, mit Zaubertricks zu begeistern. Er ist obendrein auch noch der berühmteste Junge der ganzen Zauberwelt. Ein weiteres Indiz für die Fans: Ein vernachlässigter Junge ohne feste Bindungen stellt sich vor, als Auserwählter heldenhaft gegen das Böse zu kämpfen und plötzlich Freunde zu finden, die ihm kopfüber in jede Gefahr folgen. Im auf Besen ausgetragenen Schulsport Quidditch zeigt Harry unvergleichbares Talent, Dumbledore höchstpersönlich ist an ihm interessiert wie an keinem anderen, und der Oberbösewicht Lord Voldemort hat es nur auf ihn abgesehen. Geht es noch klischeehafter?

Harry, der Held aller Zauberer und Hexen? Wer’s glaubt.
© Runa Marold

Dumledore ist Harrys persönlicher Therapeut

Dumbledores Interesse an Harry begründet sich in den Büchern über das wundersame Triumphieren von Baby-Harry über Lord Voldemort. Zahlreiche Gespräche finden über die Jahre hinweg zwischen Harry und Dumbledore statt, alle von ihnen sind von den weisen Ratschlägen des Schulleiters geprägt. Tiefgründige Gespräche über Harrys Dasein? Moment, das klingt doch ganz nach Therapie – denken sich die Verfechter*innen der Theorie und sehen Dumbledore in Wahrheit in der Rolle eines Psychiaters. Anhaltspunkt für diese Interpretation bietet eine im ersten Buch stattfindende Unterhaltung der beiden über den Spiegel Nerhegeb, welcher seinen Betrachter*innen ihre sehnlichsten Wünsche zu offenbaren vermag. Dumbledore warnt Harry davor, dass es Menschen gäbe, die bei seiner Betrachtung wahnsinnig geworden wären. Sie wüssten nicht mehr, ob ihnen der Spiegel etwas Wirkliches oder etwas Wünschenswertes zeige. Hat Harry hier die offene Warnung vor dem Abdriften in seine Traumwelt verarbeitet? Wer weiß. Im Buch erklärt Dumbledore daraufhin, dass er beim Blick in Nerhegeb sich selbst mit einem Paar dicker Wollsocken sehe. Vorausgesetzt, dieses Gespräch entspringe auch nur Harrys Fantasie: Was würde Freud wohl dazu sagen?

Lieber Harry, neigst du etwa in Wahrheit auch zur Gerontophilie? Dumbledore ist zumindest nicht gerade in deinem Alter.
© Runa Marold

Die augenscheinlich Verrückten in Harrys Welt

Wäre Hogwarts eine Psychiatrie, würde das bedeuten, dass Harrys Mitschüler*innen in Wahrheit seine Mitpatient*innen sind. Die Fantheorie begründet diese Behauptung damit, dass einige von ihnen offenbar auch in Harrys Traumwelt nicht mehr alle Tassen im Schrank hätten. Allen voran hüpft die schrullige Luna Lovegood mit ihrem Glauben an Wesen, welche sogar in der Zaubererwelt nur als Hirngespinste belächelt werden. Ihr Name Luna erinnert an lunacy, das englische Wort für Wahnsinn, was diese Deutung unterstützen soll. Ein weiteres Indiz soll der unter Verfolgungswahn leidende Alastor „Mad-Eye“ Moody darstellen. Er tritt im vierten Teil der Reihe zunächst als neuer Lehrer auf, wird am Ende des Schuljahrs jedoch durch die Täuschung über seine wahre Identität selbst zur Gefahr. Sein Nachname bedeutet so viel wie launisch oder unausgeglichen. „Immer wachsam“, poltert Moody stets seinen Schüler*innen entgegen, und die Fantheorie heißt damit die Paranoia in der Hogwarts-Psychiatrie willkommen.

Alastor „Mad-Eye“ Moody und Luna „Loony“ Lovegood: als wäre Harrys eigener Wahnsinn noch nicht genug. © Runa Marold

Lord Voldemort ist Harrys dunkle Seite

Zu guter Letzt vermutet die Fantheorie hinter dem gefährlichen Hauptantagonisten Lord Voldemort eine Projektion von Harrys innerem Wahnsinn. Zwischen beiden Figuren existieren tatsächlich viele Parallelen: Beide sind als Waisen aufgewachsen, gelten in der Zauberwelt als Halbblüter und ihre Zauberstäbe tragen mit den Federn desselben Phönix’ den gleichen Kern. Im Laufe der Geschichte hat Harry immer wieder Visionen und Träume von Voldemort, später teilen sie sogar ihre Gedanken. Der sich durch alle Bücher ziehende Kampf der beiden soll Harrys Bemühungen verarbeiten, Herr über seine psychischen Probleme zu werden. Ein weiteres Indiz sei außerdem der Mord an Harrys Mitschüler Cedric Diggory. Dieser stelle, so die Vermutung, Harrys Wunsch-Ich dar: ein glücklicher, überall beliebter und gut behüteter Junge. Zu perfekt um wahr zu sein, denkt sich Fantheorie-Harry und benutzt sein Alter-Ego Voldemort um Cedric in seiner Traumwelt zu töten. Böser Harry.

Harrys stillschweigende Gedanken: „Tod den Muggeln, Tod den Schlammblütern! Weltherschafft, muhahaha.“ Dream big, Harry.
© Runa Marold

Ein Fünkchen Wahrheit?

Den Galgenhumor beiseite genommen, erscheint die Fantheorie je nach Betrachtungsweise sogar durchaus plausibel. J.K. Rowling erwähnte bereits in einem Interview, dass sie auch selbst mehr als einmal daran gedacht habe, dass Harry im Schrank tatsächlich verrückt geworden sei und ein Fantasieleben entwickelt habe. Auch wenn es denkbarer erscheint, dass die eigentliche Intention für den Kinder- und Jugendroman eine andere war – eines steht fest: Harry Potter ist zu Zaubereien fähig, von denen unsereins nur zu träumen wagt. Und das kann wahrlich neidisch machen. Den heldenhaften Zauberer zu einem Fall für die Psychatrie zu degradieren, wirkt also durchaus menschlich. Es zeigt das Bedürfnis, diese magische und fantastische Welt mit der eigenen Realität in Einklang zu bringen. Wenn wir von einem Leben als Zauberer oder Hexe träumen können, wieso sollte es Harry in unserer Welt nicht genauso ergehen? So oder so ist es stets spannend zu beobachten, welche wundersamen gedanklichen Abzweigungen sich uns dank der Träumereien von Fans eröffnen können. Oder wer ist hier eigentlich am Träumen?

 

Vielen Dank an Zwischenbetrachtung-Autorin Runa Marold für die visuellen Pointen!

Titelbild: ©unsplash

 

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Kopf mit bunter Wolke Träume

Tagträume können uns dabei helfen, für einen Moment dem Alltag zu entfliehen, unser Hirn beim Finden von kreativen Lösungen zu schulen, uns mit dem eigenen Inneren auseinanderzusetzen oder Pläne für die Zukunft zu schmieden. Doch was, wenn Tagträumen vom netten Zeitvertreib zu einer ausgeprägten Sucht wird?

Als Superheld*in die Welt retten, dem umschwärmten Charakter der Lieblingsserie näherkommen oder einer Zombie-Apokalypse entrinnen – mit solchen Tagträumereien hat sicher jeder schon einmal dem Eskapismus gefrönt. Ob aus Langeweile, Alltagsflucht oder als spannendes Gedankenspiel, Tagträumen als solches ist eine normale Gehirnaktivität und vollkommen unbedenklich. Problematisch wird es erst, wenn man aus der eigenen Traumwelt keinen Ausweg mehr findet und das Fantasieren zur Sucht wird. Dann gilt das Tagträumen als fehlangepasst – oder maladaptiv.

Gleichzeitiges Konsumieren und Dealen

Viele Betroffene verbringen einen Großteil ihrer Zeit in der eigenen Fantasiewelt. Dabei vernachlässigen sie schulische und berufliche Aufgaben. Sie vergessen Mahlzeiten und Hygiene und isolieren sich von Freund*innen und Familie. Jeder Anreiz kann ein Auslöser für neue Geschichten sein, mit welchen sie sich vom täglichen Leben zurückziehen. Tagträume folgen oft Idealversionen der Träumer*innen und  kompensieren damit Lebensaspekte, die ihnen selbst nicht vergönnt sind. Sie handeln von Freundschaften, Abenteuern, Ruhm und Liebe – häufig aber auch von Gewalt, Mord und Gefangenschaft. Dabei entstehen komplexe, detaillierte und lebendige Geschichten, die starke Emotionen bei den Tagträumer*innen hervorrufen.

Viele führen bei ihren Traumreisen repetitive Bewegungen aus, hören emotionsgeladene Musik oder sprechen und murmeln das Vorgestellte vor sich hin. Ähnlich wie bei anderen Süchten jagt das Beenden der Fantasien den Betroffenen oft Angst ein. Manche empfinden auch eine Art Zwang, die Geschichte bis zu einem befriedigenden Ende durchzuspielen. Und selbst wenn ein Weg aus der Traumwelt gefunden wird, gestaltet sich ein Wiederaufnehmen viel zu einfach: Schließlich ist man Konsument*in und Dealer*in in einer Person und benötigt dafür nicht einmal eine Substanz.

Das Phänomen bekommt einen Namen

2002 tritt der israelische Forscher Eli Somer mit den Ergebnissen einer Studie über dissoziative Verhaltensweisen an die Öffentlichkeit. Sechs der 24 Proband*innen berichten von einer geheimen, inneren Fantasiewelt, die ihren Alltag stark im Griff hat. Maladaptive Daydreaming tauft Somer das Leiden und plädiert für eine Aufnahme in das DSM-5, das dominierende Klassifikationssystem für psychische Erkrankungen in den USA. Die Forschungsgemeinde ist jedoch unbeeindruckt und Somer stellt seine Arbeit ein. Kurz darauf erreicht ihn eine Flut von Nachrichten Betroffener. Diese werden von ihren Ärzt*innen und Psycholog*innen nicht ernst genommen und rufen Somer dazu auf weiterzumachen. Somer und sein Team beschäftigen sich seither an der Universität Haifa mit den Ursachen, Strukturen und Funktionen des maladaptiven Tagträumens. Die neu entwickelte Maladaptive Daydreaming Scale soll die Störung diagnostizierbar machen und von anderen psychischen Erkrankungen abgrenzen.

Kindheitstrauma, Dopaminmangel oder Veranlagung?

Die Ursachen und Auslöser des maladaptiven Tagträumens sind noch nicht vollständig geklärt. Bei allen von Somer und seinem Team bisher untersuchten Proband*innen begann das intensive Tagträumen bereits im Kindesalter und war häufig mit unangenehmen Kindheitserfahrungen verbunden. Bis ins Erwachsenalter wiederholen sich oft die gleichen Motive. Ganz nach freudscher Deutung könnte das mit der Verarbeitung von Kindheitstraumata oder unausgesprochenen Wünschen und Bedürfnissen einhergehen. Somer berichtet beispielsweise von Missbrauchsopfern, welche davon träumen, als Superheld*innen die Welt zu retten. Dabei geht es häufig um eine Kompensation der eigenen Hilflosigkeit im Angesicht ihrer Vergangenheit.

Doch nicht immer sind die Tagträume von eigenen Heldentaten bestimmt: Viele Betroffene inszenieren gedanklich ihren eigenen Tod oder würzen ihre Tagträume mit anderen Tragödien. Somer vermutet dahinter eine innere Traurigkeit, welche – insbesondere für Menschen mit Traumata oder Schwierigkeiten in der Emotionsregulation – zu bedrohlich wirkt, um sie im realen Leben im selben Maß zu empfinden. Im Tagtraum wird dann ein sicherer Rahmen geschaffen, in welchem die Intensität des Schmerzes reguliert werden kann.

Doch auch fehlerhafte neurologische Abläufe im Gehirn werden als Ursache für maladaptives Tagträumen vermutet. Somer und sein Team fanden heraus, dass die häufigste parallel auftretende Erkrankung die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zu sein scheint. Die erhöhte Häufigkeit von Tagträumen bei ADHS-Betroffenen ist bereits erforscht: Die neuronalen Aktivitäten Betroffener laufen zwar ständig auf Hochtouren, die Fähigkeit zur Konzentration ermüdet jedoch durch einen Dopaminmangel enorm schnell. Das unaufhörlich weiter ratternde Hirn liefert so immer wieder neuen Input für Tagträume. Zusätzlich schüttet das Tagträumen hohe Mengen an Dopamin aus – ein gefundenes Fressen für das beeinträchtigte Belohnungszentrum des ADHS-Hirns.

Weitere Zusammenhänge wurden insbesondere mit Zwangsstörungen, Depressionen und dissoziativen Störungen festgestellt. Annehmbar ist also, dass einem krankhaften Tagträumen vor allem zunächst andere Probleme zugrunde liegen. Somer und sein Team ziehen jedoch auch eine generelle Veranlagung zu immersiven und lebhaften Tagträumen in Betracht. Einige maladaptive Tagträumer*innen stellen schon früh fest, dass sie ihre Fantasien dem echten Leben gegenüber bevorzugen, und beginnen nach und nach letzteres zu vernachlässigen. Der dadurch entstandene Stress lässt Betroffenen oft keine andere Wahl als eine erneute Flucht in die Traumwelt: ein Teufelskreis.

Die Sensibilisierung für ein Störungsbild

Trotz zahlreicher Bemühungen haben es die Forscher*innen um Eli Somer bis heute nicht geschafft, einen Eintrag des Maladaptiven Tagträumens in das DSM-5 zu erwirken. Das Phänomen sei viel zu schwer von anderen psychischen Erkrankungen abzugrenzen und ginge nicht immer eindeutig mit einem Leidensdruck einher. Doch ihre Arbeit ist keineswegs umsonst: MDler*innen – wie sich Betroffene selbst bezeichnen – organisieren sich in zahlreichen Internetforen, schreiben auf persönlichen Blogs über ihre Erfahrungen oder tauschen sich in Subreddits, also Unterforen auf der Plattform reddit, untereinander aus. Mit „Wild Minds Network“ ist sogar eine eigene Support-Website entstanden. Betroffene finden sich dort weltweit zusammen, sammeln Informationen und unterstützen sich gegenseitig bei der Bewältigung. Eli Somer und sein Team haben es in jedem Fall geschafft, den Startschuss für eine Sensibilisierung zu setzen, und der hat selbst uns in diesem Blog erreicht.

Titelbild: © Annette Linnik

 

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Kopf mit bunter Wolke Träume

(@unslpash)

Tagträume sind verpönt. Abschweifen tut man besser heimlich, still und leise. Sollten wir aber nicht, findet zumindest unser Autor. Warum wir unseren Tagträumen guten Gewissens eine Chance geben dürfen.  

35,3 Milliarden Dollar. Stell dir vor, du verfügst bereits mit 38 Jahren über so viel Geld. Du hast nach deinem Studium 15 Jahre gearbeitet, blickst auf einige berufliche Erfolge zurück. Und doch hast du nun beschlossen, dass du dieses Leben erstmal hinter dir lassen möchtest. Was nun? Nimm dir ein wenig Zeit und lass deine Gedanken schweifen. An was denkst du? Würdest du mit dem Geld reisen, dir ein tolles Haus kaufen, es spenden oder möglichst gewinnbringend anlegen? Vielleicht bist du froh, dass du diese Frage nicht beantworten musst. Mit großer Sicherheit aber schweifen deine Gedanken bei solchen Summen ab. Du beginnst zu träumen, verlierst dich im sogenannten Tagtraum. Das möchte übrigens auch der junge Mann tun, der diese 35,3 Milliarden Dollar laut der US-Zeitschrift Forbes auf seinem Konto hat. Yiming Zhang, ein chinesischer IT-Unternehmer, der unter anderem die Plattform TikTok gründete. Mit noch nicht einmal 40 Jahren gehört er zu den reichsten Männern seines Landes. Sein Unternehmen Byte Dance zählt mittlerweile etwa 100.000 Mitarbeiter*innen. Zeit aufzuhören. Oder zumindest kürzer zu treten. Nach eigener Aussage möchte Zhang wieder mehr Zeit ins Tagträumen investieren.

Freud würde schmunzeln

Wie kann sich ein so erfolgreicher Geschäftsmann nun dem Rumphantasieren verschreiben? Ein zufriedener Mensch würde das nicht tun. Womöglich könnte Sigmund Freud so über Zhang urteilen. Der wohl bekannteste Traumforscher sah Tagträume als Korrekturen einer unbefriedigenden Wirklichkeit, als unerfüllte Erfolgsphantasien, für die insbesondere jüngere Menschen anfällig seien. Ein wunschlos glücklicher Mensch, so Freud in seinem Aufsatz Der Dichter und das Phantasieren, brauche sich keinen Tagträumen hinzugeben.

Macht Tagträumen unglücklich?

Über diese Frage wird in zahlreichen Online-Foren eifrig diskutiert. Wenn man sich dieser Kontroverse wissenschaftlich nähert, landet man schnell bei dem Begriff des ‚maladaptiven‘ Tagträumens. Darunter verstehen etwa die israelischen Forscher*innen Nirit Soffer-Dudek und Eli Somer stundenlanges, fantasievolles Tagträumen, was mit dem Vernachlässigen realer Beziehungen und Verantwortlichkeiten einhergeht und zu funktioneller Beeinträchtigung führt. Ihre Studie Trapped in a Daydream sollte im Jahre 2018 Aufschluss darüber geben, welche Menschen für exzessives Tagträumen besonders anfällig sind. Es zeigte sich, dass zwei Drittel der Proband*innen bereits in psychotherapeutischer Behandlung waren und etwa die Hälfte dieser Menschen keine Arbeit hatte. Darüber hinaus war das Phänomen häufig mit anderen, psychopathologischen Krankheitsbildern verknüpft. Maladaptives Tagträumen, das bestätigt diese Studie, ist die Ausnahme. Und doch legen auch Erkenntnisse der Konsumforschung nahe, dass Tagträumen nicht immer ein guter Ratgeber ist. Der Soziologie Mark Lutter untersuchte den Zusammenhang von Tagträumen und Konsum am Beispiel von Lotterien. Seine Befragungsstudie zeigte, dass Spieler*innen, die intensiv in Form von Tagträumen über den scheinbar so greifbaren Lottogewinn nachdenken, häufiger und mit höherem Einsatz Lotto spielen. Warum dann also bewusst Tagträumen und eins werden mit den Glücksspiel-Romantiker*innen?

Mit Tagträumen schneller ans Ziel

Ob Albert Einstein, Woody Allen oder J. K. Rowling wohl auch Lotto gespielt haben? Diese Persönlichkeiten sind nämlich allesamt bekennende Tagträumer*innen. Und bei einem Blick auf deren Lebensläufe liegt die Vermutung nahe, dass aus bewussten Tagträumen geniale Ideen erwachsen können. Etwa 70 Jahre nach Freud setzte der amerikanische Psychologe Jerome L. Singer neue Schwerpunkte. So ist in seinem Buch The inner world of daydreaming zu lesen:

„Daydreaming is perhaps best viewed simply as a kind of capacity or skill in us that is part of our overall repertory of behaviors.“

Tagträumen als Fähigkeit. Diese modernere Sicht auf das gedankliche Umherschweifen wurde in zahlreichen Studien bekräftigt. So zeigt beispielsweise eine Arbeit unter der Leitung von Christine Godwin vom Georgia Institute of Technology, dass Tagträumer*innen ihren gedanklichen Fokus besser steuern können. Zahlreiche Tests im Rahmen ihrer Studie zeigten, dass bei Proband*innen, die zum Tagträumen neigen, Gehirnareale besser miteinander vernetzt sind. Dies wirkte sich wiederum positiv auf gemessene Intelligenz und Kreativität aus. Und mehr noch: Tagträumer*innen kommen schneller ans Ziel. Zumindest behalten sie ihre Wünsche für die Zukunft besser im Blick, wie eine Arbeit des Max-Planck-Instituts in Leipzig offenbart.

Tagträumen als Therapie

Ein Blick über die Berge ins schweizerische Will im Kanton Sankt Gallen zeigt, dass Tagträumen auch eine heilende Wirkung entfalten kann. Bis zum Sommer diesen Jahres gibt es dort im städtischen Museum unter dem Titel Durch die Linse Werke von Künstler*innen des Living Museum zu sehen. Im Living Museum arbeiten Menschen während oder nach ihres Aufenthalts in einer der psychiatrischen Einrichtungen des Kantons. Durch ein einzigartiges Konzept aus Kunst und Kreativität erfahren Patient*innen wichtige Impulse für ihre Regeneration.

Die aktuelle Ausstellung möchte zeigen, wie es den Künstler*innen gelingt, während des Pandemiealltags dem Alltag zu entfliehen. Einmal mehr lautet die Antwort: Tagträumen. Da existieren nämlich „weder Regeln noch Grenzen. Die Gedanken sind nicht nur frei, sie können auch befreien“, gibt Museumsleiterin Rose Ehmann anlässlich der Vernissage dem schweizerischen Tagblatt zu Protokoll. Und diese Befreiung schlägt sich sowohl in knallig-bunten Gemälden wie auch in bisweilen eher düsteren Fotografien nieder. Das interaktive Kunstobjekt „Auf Träumen gebettet“ lädt die Besucher*innen der Ausstellung darüber hinaus dazu ein, ihre Träume auf Notizzetteln festzuhalten und sie auf ein weißes Bettgestell zu kleben. Bereits nach den ersten Wochen der Ausstellung ist dieses Objekt mit Zetteln übersät. Sie haben sich mittlerweile auch rund um das Bett angehäuft. Gewiss kein großer Aufwand.

Jetzt bist du dran!

Was würdest du auf einen solchen Zettel schreiben? Mit Sicherheit sind dir seit Beginn des Textes noch ein paar Tagträume in den Sinn gekommen. Für welchen Tagtraum würdest du dich entscheiden? Vielleicht hast du einen Zettel in greifbarer Nähe und schreibst diesen Traum einfach mal auf ein Blatt Papier. Fühlt es sich gut an, diese Phantasie nun schwarz auf weiß zu lesen? Wenn du noch unentschlossen bist, seien dir die Worte eines weiteren, bekennenden Tagträumers mitgegeben.

„Was man sich nicht vorstellen kann, kann man nicht tun“.

Und wer weiß, vielleicht hat dich bereits dieser Gedanke des Filmemachers George Lucas deinem Tagtraum ein kleines Stückchen näher gebracht.

 

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