Beiträge

„Sandmann, lieber Sandmann, es ist noch nicht soweit. Wir sehen erst den Abendgruß, ehe jedes Kind ins Bettchen muss, du hast gewiss noch Zeit.“ Dieses Lied tönte erstmals am 22. November 1959 aus dem Fernsehen – und zwar demjenigen der DDR. Das Sandmännchen ist der Gewinner eines politischen Wettrennens. Wir fragen in unserem Beitrag, wie die Sendung entstand und was sie über die deutsch-deutsche Geschichte erzählt.

Die Geschichte von einem kleinen Mann, der Kindern das Einschlafen erleichtert, ist keine Erfindung des deutschen Fernsehens. Schon davor gab es in der europäischen Literatur Sagengestalten, die Sand verstreuen, um Kinder zum Schlafen zu bringen.

Sandmann Darstellung E.T.A. Hoffmann

Eher unheimlich: der Sandmann von E.T.A. Hoffmann. © Wikimedia Commons

Doch das nicht nur auf liebevolle Art und Weise. Der Sandmann des romantischen Schriftstellers E.T.A. Hoffmann beispielsweise wirft Sand in die Augen der Kinder, sodass sie blutig aus dem Gesicht fallen. Einen Gegensatz dazu bildet im 19. Jahrhundert der Sandmann des dänischen Märchendichters Hans Christian Andersen mit dem Namen Ole Lukøje. Ins Deutsche übersetzt heißt er „Ole Augenschließer“. In diesem Märchen besucht Ole Lukøje am Abend die Kinder, erzählt Geschichten und verschließt ihnen die Augen mit „süßer Milch“. Die Kinder, die den Tag über brav waren, bekommen von seinen Geschichten schöne, farbige Träume. Die Kinder, die nicht so brav waren, bekommen weniger gute Träume. 

dänische Sandmann Darstellung

Ole Lukøje von Hans Christian Andersen verteilt am Abend „süße Milch“. © Wikimedia Commons

Als das Märchen auch ins Deutsche übersetzt wurde, wurde aus der „süßen Milch“ der Schlafsand. Vielleicht nicht zuletzt, weil „die süße Milch“ eine Anspielung auf den giftigen Opiatsaft des Schlafmohns war.

Die Geschichte nach dem Krieg

In der Nachkriegszeit fassten auch die Medien das Ritual auf, den Kindern vor dem Schlafengehen eine Geschichte vorzulesen. So wurde im Berliner Rundfunk ab 1946 Das Abendlied gesendet. Es war eine Produktion der Hörfunk-Redakteurin und Kinderbuchautorin Ilse Obrig. Die Figur des Sandmanns gab es jedoch noch nicht. Sie kam erst am 19. Mai 1956 in die Radiosendung. Im Deutschen Fernsehfunk (DFF) wurde dann am 8. Oktober 1958 der Abendgruß daraus. Das Fernsehen gewann in dieser Zeit an Popularität, und Ilse Obrig, die inzwischen zum westdeutschen „Sender Freies Berlin“ (SFB) gewechselt hatte, plante zusammen mit der Puppengestalterin Johanna Schüppel ein kleines Männchen, das dem Radio-Sandmann ein Fernsehgesicht geben sollte.

So sieht das Sandmännchen des Westdeutschen Fernsehens aus. © Wikimedia Commons

Die finanziellen Mittel für dieses Projekt waren beschränkt, sodass Obrig und Schüppel eine einfache Handpuppe gestalteten. Auch wenn die erste Sendung schon Monate zuvor fertig produziert war, wollte man mit der Veröffentlichung noch bis in die Vorweihnachtszeit, zum 1. Dezember 1959, warten.

Ein Wettlauf mit dem Westen

Als der ostdeutsche DFF Wind von der Idee bekam, brach für die DDR ein Wettlauf mit dem Klassenfeind an. Dass das Westfernsehen nun die West- Zuschauer*innen des allseits beliebten Abendgrußes abwerben könnte, wollte man beim DDR-Fernsehzentrum in Berlin-Adlershof unbedingt verhindern. Also wurde der Puppengestalter Gerhard Behrendt beauftragt, ein eigenes Sandmännchen zu erschaffen, und bekam mit Harald Sekowski einen Ausstatter für die Trickfilmbühne und für vielfältige Sandmännchen-Fahrzeuge an die Seite. Trabant, Boot und sogar Weltraumfahrzeug bastelte Harald Sekowski für das Sandmännchen.

Der Puppengestalter Gerhard Behrendt (links) im Trickfilmstudio. © rbb

Dazu schrieb der Komponist Wolfgang Richter in nur einer Nacht das eingangs erwähnte Titellied. Zunächst hatte das 24 Zentimeter kurze Männchen übrigens noch keinen Bart. Um sich vom westdeutschen Gegenstück abzugrenzen, nannte man die Trickfilmpuppe – wie auch die Sendung – nun Unser Sandmännchen.

Der Traum wird wahr

Könnte an Walter Ulbricht erinnern: das erste Sandmännchen mit Bart. © rbb

Für die DDR ging ein Traum in Erfüllung, denn das Sandmännchen ging tatsächlich eine Woche früher auf Sendung als sein westdeutsches Gegenstück. Seinen Bart erhielt das Sandmännchen erst im Sommer 1960 – ein kleines Detail, das an den damaligen SED-Chef Walter Ulbricht erinnern könnte. Seit 1959 lief nun im Deutschen Fernsehfunk um kurz vor sieben Uhr, beinahe jeden Abend, Unser Sandmännchen. In den Geschichten besuchte es Kinder auf der ganzen Welt – häufig in sozialistischen Ländern – und zeigte ihnen auf einem kleinen Fernsehgerät Geschichten zum Einschlafen. Neben Märchen und Alltagsgeschichten fanden sich jedoch auch staatstreue Besuche im Pionierferienlager, bei der Volksarmee und bei den Grenztruppen.

 

Das Sandmännchen im Pionierlager der DDR. © Gisela Krzyiwinski, rbb

Das Sandmännchen wurde mehr als eine einfache Trickfilmpuppe für die Bürger*innen der DDR. So nahm Sigmund Jähn 1978 das Sandmännchen mit, als er als erster Deutscher in den Kosmos flog. Sein sowjetischer Kollege brachte „Mascha“ mit ins All, eine Puppe, die eine ähnliche Rolle im Russischen Fernsehen einnahm wie das Sandmännchen im ostdeutschen Fernsehen. Dort verheirateten die Astronauten die beiden Puppen. Die Zuschauer*innen der DDR konnten von den Reisen des Sandmännchens indes nur träumen. Im Gegensatz zu ihnen kam das Sandmännchen auch nach Kuba, in den Irak, Vietnam, nach Ägypten und Japan.

An dem Heißluftballon störten sich Parteifunktionäre, nachdem zuvor zwei Familien in einem solchen in den Westen geflohen waren. © rbb

Immer mit einem seiner zahlreichen und spektakulären Fortbewegungsmittel wie U-Boot, Flugzeug, Schiff oder Zweirad. Als es jedoch in der Sendung vom 18. September 1979 mit einem Heißluftballon anreiste, störten sich Parteifunktionäre entschieden an der Kindersendung. Das hatte wohl den Grund, dass kurz zuvor zwei Familien aus Thüringen über die innerdeutsche Grenze nach Bayern geflohen waren. Mit einem selbstgebauten Heißluftballon.

Das Sandmännchen bleibt

Der Mauerfall bedeutete für das Sandmännchen erst einmal „Gute Nacht“. Denn der ostdeutsche DFF wurde 1991 aufgelöst. Die Produktion der Sandmännchen-Sendungen wurde damit ebenfalls eingestellt. Das löste heftigen Protest bei den Zuschauer*innen aus. Der Fernsehchef bekam zahlreiche Beschwerdebriefe, sodass die Sendung auch nach der Auflösung des Fernsehsenders schließlich weiter produziert wurde. So überlebte Unser Sandmännchen als eine der ganz wenigen Fernsehproduktionen der DDR. Denn auch nach der Auflösung des Deutschen Fernsehfunks wurde das Ost-Sandmännchen weiter im Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) und im Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg (ORB) produziert und ausgestrahlt. Der ORB, heute Rundfunk Berlin Brandenburg (rbb), wurde innerhalb der ARD mit der weiteren Produktion des Sandmännchens beauftragt. Sein westdeutscher Bruder war schon vor der Wende aufgrund zu niedriger Einschaltquoten nach und nach aufgegeben worden.

Das Sandmännchen im Elbsandsteingebirge. © Gisela Krzyiwinski, rbb

Auch heute kann man das Sandmännchen noch jeden Tag um 18.54 im rbb, MDR und im Kinderkanal KiKa sehen. Seit mehr als 60 Jahren verstreut es nun Traumsand und ist damit die älteste deutsche Kinderfernsehsendung, die bis heute produziert wird.

 

 

 

Ihr habt noch nicht genug von unseren Traum-haften Beiträgen? Dann folgt uns für einen Blick hinter die Kulissen, spannende Fun-Facts oder Musik-Inspirationen auf Instagram und Twitter! 

Mehr zum Thema und weitere interessante Beiträge findet ihr außerdem hier – oder abonniert unseren Newsletter! 

Träume Kopf bunte Wolke

Das Geisterfest in China, ein Fest für den Tod wie der Día de los Muertos in Mexiko, fällt auf den 15. Tag des 7. Monats nach dem chinesischen Mondkalender. Ursprünglich zählte es zu den wichtigsten traditionellen Festen, aber allmählich verliert es seine Bedeutung für die moderne Gesellschaft. Nur noch einige Bürger*innen, Bauern und Bäuerinnen in einigen Regionen sowie manche Überseechines*innen feiern heutzutage noch diesen Vollmondtag. Warum interessieren sich die meisten Chines*innen nicht mehr für das Geisterfest?

Der Geistermonat

Das Geisterfest war ursprünglich ein Opferfest. Diese Tradition lässt sich auf die Qin-Dynastie (221-207 v. Chr.) zurückführen. Die antiken Chines*innen legten viel Wert auf die Opfergabe im Frühling und Herbst. Der Frühling symbolisiert den Anfang des Lebens, während der Herbst den Untergang markiert. Im Herbst hielten der Kaiser und die Fürsten eine Reihe von Zeremonien ab, darunter auch die Opfergabe für Baidi (白帝), den Gott des Todes. Es wurden Speisen und Räucherwerke für den Gott und die Vorfahren aufgestellt und Bankette gegeben. Solche höfischen Veranstaltungen beeinflussten das Bürgertum. Nach und nach wurde der siebte Monat (nach dem chinesischen Mondkalender, ungefähr Ende August nach dem heutigen Kalender) zum Geistermonat. Nach dem Volksglauben wird die Tür der Unterwelt am ersten Tag geöffnet und am 15. Tag wieder geschlossen.

Das Licht auf der Straße soll den Weg für die Toten gen Heimat weisen. Diese Tradition passt nicht mehr zum modernen Stadtleben.

Im Geistermonat kommen die Gespenster nach langer Wartezeit auf die Erde. Traditionell werden auf der Straße Kerzenlichter angezündet und Schuhe aufgestellt, damit die Toten bequem gehen können. Ansonsten verursachen die unzufriedenen Geister unerträgliche Katastrophen, die den Lebenden drohen. Man lässt auch Papierboote und Laternen auf dem Wasser schwimmen. Einerseits weist das Licht den Toten den Weg in ihre Heimat, wo ihre Familien Speisen aufstellen und Höllengeld verbrennen, um ihre Müdigkeit zu vertreiben und ihr Leben in der Unterwelt zu verbessern. Anderseits hoffen die Menschen, dass die Geister voller Groll (weil sie lange Zeit in der Dunkelheit des Jenseits verbracht haben) so schnell wie möglich ihre Zielorte erreichen. Das Geisterfest, das am 15. Tag des Monat gefeiert wird, ist der Höhepunkt – ist es für die Toten doch ihr letzter Tag auf der Erde.

Zwei religiöse Ursprünge

Die Daoisten lesen  heilige Schriften, bringen Opfergaben dar und schreiben Gebete auf Papier.

Das Geisterfest hat zwei religiöse Ursprünge. Für die Daoisten heißt das Fest eigentlich Zhongyanjie (chinesisch 中元节). Die Buddhisten feiern an diesem Tag das Ullamabna-Fest (chinesisch 盂兰盆节). Interessanterweise entwickeln sich die beiden Religionen fast reibungslos in China, wahrscheinlich wegen der Offenheit der chinesischen Kultur. Seit der Song-Dynastie (960–1279) ist zu beobachten, dass Daoismus und Buddhismus gemeinsam mit Konfuzianismus drei unverzichtbare Grundlagen für die chinesische Kultur bilden. Seither können die Anhänger*innen der beiden Religionen das Fest harmonisch gemeinsam feiern.

Nach dem Daoismus entsteht die Welt aus drei Elementen: Himmel, Erde und Wasser. Für die drei gibt es jeweils einen daoistischen Gott. Der Gott des Himmels, geboren an dem 15. Tag des ersten Monats nach dem Mondkalender, erteilt den Segen. Der Gott der Erde, geboren am 15. Juli, verzeiht die Sünde. Und der Gott des Wassers, geboren am 15. Oktober, hilft in der Not. Jeder Gott kommt an seinem jeweiligen Geburtstag zur Erde, um seinen Dienst zu leisten. Es ist also der Gott der Erde, der am 15. Tag des Geistermonats auf die Erde kommt und die verlorenen Seelen rettet. Diese sind Tote, die während ihrer Lebenszeit etwas verbrochen haben. Die Daoisten stellen an diesem Tag einen Altar auf, lesen bestimmte heilige Schriften und verbrennen Räucherwerke, damit sie den Unsterblichen (Gott) empfangen können und beim Sühnen der Sünden der toten Geister helfen.

Mulian sieht das Leid seiner Mutter und wendet sich an Buddha.

Die Geschichte von Mulian

Genau an diesem Tag feiern die Buddhisten das Ullambana-Fest (盂兰盆节). Auf Sanskrit bedeutet Ullam „auf dem Kopf gestellt“. Dieser Stand verkörpert Leiden. Bana ist ein bestimmter Behälter für Opfergaben. Im Ullambana-Sutra wird die Geschichte von Mulian (目连) erzählt, einem heiligen Anhänger Buddhas. Eines Tages träumte er, dass seine bereits verstorbene Mutter in der Unterwelt unter Hunger litt und schlank wie eine Skelett wurde. Er stellte als ihr Nachkomme Speisen vor dem Altar auf, aber sie konnte sie nicht genießen.

So bat er Buddha, das Leid seiner Mutter zu vermindern. Buddha antwortete, dass seine Mutter zu Egui (饿鬼, ein bestimmter Geist, der unter ewigem Hunger leidet) geworden sei, weil sie zu Lebenszeiten geizig und nicht wohltätig war. Um sie zu retten, musste Mulian am 15. Tag des 7. Monats Speisen und Getränken für Buddhisten aus aller Welt anbieten. Als alle dann für sie beteten, konnte sie sich von diesen Leiden befreien. Aus der Geschichte ist ein Fest geworden, bei dem man Opfer gibt, Schriften liest und zusammen für Vater und Mutter der jetzigen und der sieben früheren Generationen betet.

Ein Fest in der Vergangenheit?

Eine Familie auf dem Dorf stellt Speisen auf den Tisch und wartet auf die Geister der Vorfahren.

Beim Geisterfest kommen Volksglaube, daoistische und buddhistische Traditionen zusammen. Die Grundideen bildet das Erinnern an die Vorfahren, das Leisten der Sühne und das Verehren der Toten. In den modernen chinesischen Städten gerät das Geisterfest zunehmend in Vergessenheit.

Zunächst ist es kein staatlicher Feiertag, obwohl es eine lange Geschichte und vielfältige Ursprünge hat. Das führt dazu, dass die jüngeren Generationen kaum Kenntnis davon haben. Zweitens wird es nicht mehr gemeinsam gefeiert. Buddhisten und Daoisten feiern das Fest im kleinen Kreis, jeweils getrennt voneinander. In einigen Regionen, besonders auf dem Land, werden noch Papierboote und Laternen aufs Wasser geschickt und Speisen auf den Tisch gestellt, aber das wird in einer Gesellschaft, die Atheismus als Leitkultur markiert, eher als Aberglauben angesehen. Nicht zuletzt fehlt dem Fest für die meisten Leute ein gemeinsames Symbol oder Thema, wie Jack O’Lantern bei Halloween oder La Catrina beim Día de los Muertos. Ist das Geisterfest also selbst ein Gespenst in der modernen Welt?

 

Japan – ein Land zwischen Tradition und Fortschritt. Das gilt auch für seine Geistergeschichten. Was gibt es für Geisterarten in Japan? Und warum bieten sie einem Klopapier an?

Die japanische Kultur kennt unzählige Arten von Gespenstern. Zwischen göttlichen Naturgeistern und rachsüchtigen Totenseelen ist so ziemlich alles dabei. Denn Geister nehmen in Japan einen ganz anderen Stellenwert ein als in der westlichen Welt. Das kann auch die Tübinger Japanologin Petra Jeisel bestätigen. Während ihrer Studienzeit im Land der aufgehenden Sonne hat sie das selbst erlebt: „Als ich mit einem Einheimischen einen Friedhof besucht habe, wollte ich ein Foto machen. Er schien doch einigermaßem erstaunt und meinte, er hätte dabei ein schlechtes Gefühl – wegen der Geister.“

Japanische Geisterwesen – Eine lange Tradition

Vor allem die spirituellen Wurzeln Japans (Shintō und Zen-Buddhismus) und die dortige Wertschätzung von Traditionen sind verantwortlich für diese Ehrfurcht vor den Geistern. Denn die heutigen Vorstellungen von „bakemono“ (Oberbegriff für gespenstische und übernatürliche Wesen im japanischen Volksglauben) sind von den letzten Jahrhunderten mythologischer Überlieferungen geprägt. Die „bakemono“ lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: „Yōkai“ und „Yūrei“ …

Wer braucht schon Poltergeister?

Notice me senpai! (Bild: Marcel L.)

„Yōkai“ lassen sich wohl am ehesten mit westlichen Fabelwesen vergleichen. So gelten beispielsweise Tanuki (Marderhunde) als Yōkai, die ihre Gestalt wandeln können und mit listigen Plänen durchaus auch mal in menschlicher Gestalt durch die Welt ziehen. Neben „Oni“ (Dämonen) und „Tengu“ (Berggeister und Meister der Waffenkunst mit einem Schnabel) zählen zu den Yōkai auch sogenannte „Tsukumogami“. Dabei handelt es sich um Alltagsgegenstände, die nach hundert Jahren der Vernachlässigung plötzlich zum Leben erwachen.

Wenn also in einem japanischen Haushalt plötzlich Teller durch die Gegend fliegen, ist das nicht unbedingt das Werk eines Poltergeistes, sondern einfach ein Schrei nach Aufmerksamkeit von beseeltem Porzellan.

Totgesagte „leben“ länger

Ein Onyrō nimmt Rache an einem Mönch; aus Wakan ehon sakigake 和漢絵本魁, 1836 (Bild: The British Museum.

„Yūrei“ oder auch „Bōrei“ kommen der westlichen Vorstellung eines Gespenstes näher. Es handelt sich hierbei nämlich um Seelen von Verstorbenen, die aufgrund eines Unrechts zu Lebzeiten oder kurz nach ihrem Tod (z.B. ein unrühmliches Begräbnis) keinen Frieden finden konnten. Ähnlich wie in unserer Vorstellung von Gespenstern haben auch Yūrei keine Beine, sondern schweben durch die Luft. Dabei suchen sie die Lebenden heim, jedoch meist ohne ernsthaften Schaden anzurichten. Es sei denn, es handelt sich um sogenannte Onryō – Rachegeister.

Eine Besänftigung der toten Seelen kann durch verschiedene buddhistische Rituale, einem Exorzismus nicht unähnlich, erreicht werden. Erste Quellen für diese Praxis stammen schon aus dem 8. Jahrhundert. Auch heute spielt die Besänftigung der Seelen Verstorbener eine wichtige Rolle für die japanische Bevölkerung. Ähnlich wie beim mexikanischen Día de los muertos wird in Japan seit über 500 Jahren das Totenfest „Obon“ gefeiert, bei dem die Geister der Ahnen befriedet werden sollen. Aber diese kulturell vorgeschriebende Verehrung von Geistern inspiriert auch ganz andere Geschichten …

Von wegen stilles Örtchen – Onryō und Yūrei in „Urban Legends“

In japanischen Sanitäranlagen kann man nicht nur moderne High-Tech-Toiletten mit Sprachfunktion und Turbobrause finden. Unzählige „Urban Legends“ – eine moderne Form des Ammenmärchens – ranken sich um die Keramikabteilung. Zwei davon sollen hier kurz vorgestellt werden.

 „Rotes oder blaues Papier?“

Die Qual der Wahl – oder umgekehrt? (Bild: Marcel L.)

Aka Manto (was übersetzt so viel wie „roter Umhang“ bedeutet) ist eine Geistergestalt, die ihr Unwesen auf so ziemlich allen öffentlichen Toiletten treibt. Gehüllt in ein rotes Cape und mit einer Maske vor dem Gesicht, soll der Geist Menschen heimsuchen, die sich gerade auf den Porzellanthron gesetzt haben.

Auf seine Frage „Willst du rotes oder blaues Papier?“ sollte man am besten gar nicht antworten. Denn wenn man sich für das rote Papier entscheidet, so wird man so lange aufgeschlitzt, bis die eigenen Klamotten ganz rot sind. Und wenn man den blauen Zellstoff wählt, so erwürgt Aka Manto einen, bis das Gesicht ganz blau angelaufen ist.

Angeblich soll Aka Manto der Geist eines gut aussehenden jungen Mannes sein, der auf ungeklärte Weise auf der Toilette getötet wurde. Aus Schmach über dieses unrühmliche Ende soll er seine Maske also tragen, um seine Identität zu verbergen. Als Onryō sucht er deswegen auch gerade am Ort seines Todes Vergeltung.

„Willst du mit mir spielen?“

Hanako-San ist eine „Urban Legend“, die vor allem an japanischen Grundschulen beliebt ist. Ähnlich wie bei der Bloody-Mary-Legende soll der Geist dieses kleinen Schulmädchens mit Bubikopf und rotem Kleid nach bestimmten Ritualen erscheinen – und zwar auf der Mädchentoilette. Die Geschichte wird mitunter auch als Vorlage für die Maulende Myrthe in Harry Potter vermutet. Hanako soll auf grausame Weise von ihren Eltern ermordet oder bei einem Luftangriff während des Zweiten Weltkriegs von Bomben zerfetzt worden sein, und lässt sich darum wohl am ehesten als Yūrei bezeichnen.

Der genaue Ablauf des Rituals variiert dabei aber von Schule zu Schule. In einer Version muss man im WC im dritten Stock an der dritten Kabinentür dreimal anklopfen und Hanako-San fragen, ob sie mit einem spielen will. In einer anderen Variante genügt es, ihren Namen in eine der Kabinen zu rufen. Das sieht dann ungefähr so aus:

Ob die kleine Hanako die mutigen Mädchen nun dem Mythos nach auffrisst, aufschlitzt oder einfach nur verängstigt – die Folgen solcher Geistergeschichten sind real. Studien weisen darauf hin, dass Sagen rund um das WC, wie die um Hanako Blasenentleerungsstörungen, Angststörungen bei kleinen Mädchen verursachen können.

Horror made in Japan

Wenn es eines gibt, was Aka Manto und Hanako-San zeigen, dann dass die traditionsreiche Geisterkultur Japans auch in der Gegenwart fortlebt. Aber auch abseits von „Urban Legends“ und Kindermutproben sind die Geister noch immer präsent. Nicht umsonst gibt es ein eigenes Filmgenre, J-Horror, dass sich neben Aspekten des psychologischen Horrors vor allem auch mit Onryō und Yūrei auseinandersetzt. Diese Filme sind wiederum ein Sinnbild für die tiefe Verbindung zu den eigenen Traditionen. Denn häufig adaptieren sie Geschichte sowohl aus altertümlicher wie auch klassischer Literatur – aber das wäre ein Thema für einen anderen Beitrag.

Wer sich für andere asiatische Geistertraditionen und -geschichten interessiert, sollte sich diese Artikel auf unserem Blog noch unbedingt ansehen:

Alberne Gespenster aus aller Welt – der japanische Shirime

Geschichten von Liebe und Hass: Geister in chinesischen Mythen

Gerät das Geisterfest in China in Vergessenheit?

Weiterführende Literatur:

Michael Dylan Foster (2008) – Pandemonium and Parade: Japanese Monsters and the Culture of Yōkai.

Michael Dylan Foster (2006) – Strange Games and Enchanted Science: The Mystery of Kokkuri. In: The Journal of Asian Studies 65(2), S. 251-275.

Siegbert Hummel (1949) – Das Gespenstige in der japanischen Kunst (Bakemono).

Bernhard Scheid – Religion in Japan.

Das Thema Haare ist kurios und facettenreich zugleich. Es geht nicht nur um Waschen, Pflegen und Frisieren. Haare lassen sich in sehr vielen Bereichen wiederfinden: Kultur, Religion, Gesellschaft, Wissenschaft und Sprache sind nur einige davon. Wir haben in den bisherigen Beiträgen schon vieles gelesen. In diesem Quiz findest du weitere interessante Fakten rund um das Thema Haare. Wie gut kennst du dich aus? Mach das Quiz und erfahre mehr! Weiterlesen