Die Verschleierung von Haaren. Gefühlt hat in der Debatte um Frauen im Islam nichts höhere Brisanz als das Kopftuch. Dabei ist der Islam längst nicht die einzige Religion, die das Tragen einer Kopfbedeckung vorsieht. So tragen katholische Nonnen genauso eine Verschleierung wie streng gläubige Jüdinnen. Und dennoch scheint das muslimische Kopftuch in den Diskussionen ein Alleinstellungsmerkmal zu sein. Es wird debattiert, gestritten, be- und geurteilt, was das Zeug hält – oft aber, ohne wirklich zu wissen, wer sich unter dem Kopftuch verbirgt und welche Beweggründe dahinterstecken.
Um den Schleier metaphorisch zu lüften und mit Vorurteilen aufzuräumen, lohnt es sich immer noch, Debatten zum Thema zu führen. Dabei ist aber wichtig, miteinander und nicht übereinander zu reden. Deshalb durfte ich die 24-jährige Akademikerin, Mediamanagerin und Kopftuchträgerin Betül Ö. befragen. In Deutschland geboren und aufgewachsen hat sich die gläubige Muslimin mit türkischen Wurzeln im Alter von 19 Jahren für das Tragen des Kopftuchs entschieden. Im Interview spricht sie über freie Selbstbestimmung, Glaube und Inklusion.
Fangen wir mal mit Grundsätzlichem an: Warum werden eigentlich die Haare verschleiert?
Es ist so, dass in unserer Religion der Mensch an sich mehr im Vordergrund stehen sollte als das Aussehen. Außerdem soll man sich gegenüber Männern, die nicht blutsverwandt sind, wie Brüdern, Onkel oder dem Vater, verschleiern, um die Reize zu verbergen. Haare gehören zu solchen Reizen. Lange Haare oder kurze Haare, Locken, glatt oder blond rufen Präferenzen hervor. Die Verschleierung, auch die des Körpers, unterstützt dabei, den Fokus auf die Person zu legen und nicht auf das Optische.
Ist das auch der Grund, warum du Kopftuch trägst?
Ich trage Kopftuch, weil ich das möchte. Ich bin eine gläubige Person. Meine Religion schreibt mir unter anderem vor, Kopftuch zu tragen, und wer sich im Diesseits an die Vorschriften hält, wird im Jenseits dafür belohnt. Daran glaube ich. Gleichzeitig fühle ich mich wohl und vollständig damit.
Tragen alle Frauen bei dir in der Familie Kopftuch?
Nein, nicht alle. Wir dürfen das frei entscheiden. Manchmal ist das aber auch beruflich bedingt nicht möglich.
Wann und wo trägst du Kopftuch?
In der Öffentlichkeit, aber auch zu Hause, wenn Freunde oder Bekannte sowie Verwandte zweiten und dritten Grades zu Besuch sind.
Sind dir Haare trotzdem noch wichtig?
Ich liebe meine Haare! Nur, weil ich sie nicht jedem zeige, heißt das nicht, dass sie mir nicht wichtig sind. Ich mache mir auch manchmal die Haare, schminke mich und mache mich hübsch. Das gehört ja trotzdem noch zu mir. Aber das bleibt dann eben im familiären Rahmen.
Du hast Dich mit 19 Jahren relativ spät dafür entschieden, Kopftuch zu tragen. Wie kam es dazu?
Ich wollte das eigentlich schon früher. Habe mich aber nicht getraut, aus Angst vor der Reaktion meines sozialen Umfelds. Dann bin ich aufgrund meines Studiums in eine andere Stadt gezogen, wo mich niemand kannte. Da dachte ich: jetzt oder nie.
„Ich muss mich erst selbst von Dingen überzeugen, sie nachvollziehen können und herausfinden, ob es Sinn macht, etwas zu tun.“
Wie hat denn Deine Familie und Dein soziales Umfeld darauf reagiert, dass Du plötzlich Kopftuch trägst?
Insgesamt positiv. Ich komme auch aus einer Familie, in der es mir offengelassen wurde, das Kopftuch zu tragen. Mir wurde zwar gesagt, dass die Religion dies und jenes vorgibt, es aber meine Entscheidung sei, ob ich das möchte oder nicht. Als ich dann erzählt habe, dass ich mich für das Kopftuch entschieden habe, hat sich meine Mutter sehr gefreut und mein Vater hat mir seine Unterstützung zugesichert. Meine Eltern waren da locker drauf. Ich kenne muslimische Eltern, die das Kopftuch nicht erlauben, aus Sorge, ihre Tochter stößt in Deutschland auf Schwierigkeiten, wie beispielsweise im Job. Sowas gibt es also auch.
Du sagst damit, dass Du Dich frei für das Kopftuch entschieden hast. Kannst Du auch einen indirekten Zwang, also beispielsweise durch gesellschaftliche Konventionen, ausschließen?
Es kann schon sein, dass manche Frauen Kopftuch tragen, weil es in ihrer Familie oder Community getragen wird. Ich würde von mir aber behaupten, dass ich selbstbestimmt bin. Ich muss mich erst selbst von Dingen überzeugen, sie nachvollziehen können und herausfinden, ob es Sinn macht, etwas zu tun. Mit 19 konnte ich das dann und wollte es unbedingt. Einen indirekten Zwang habe ich eher darin empfunden, darauf zu verzichten, Kopftuch zu tragen, weil die Mehrheit in meinem Umfeld keines trägt. Deshalb habe ich mich auch erst so spät dafür entschieden.
Hast Du seitdem noch mal an Deiner Entscheidung gezweifelt?
Wenn, dann nur, weil ich in Deutschland damit auf Probleme stoße. Nicht aber aus religiöser Sicht.
Was sind das für Probleme, auf die Du gestoßen bist?
Natürlich gibt es die typischen Sprüche oder Blicke beim Vorbeilaufen. Aber auch in der Berufswelt habe ich einiges erlebt. Ich habe während des Studiums viele Praktika gemacht. Dabei war mir wichtig, in einem deutschen Unternehmen zu arbeiten. Leider musste ich feststellen, dass öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten mir weniger Toleranz entgegenbrachten als private Unternehmen – obwohl man oft glaubt, die Öffentlich-Rechtlichen seien so aufgeschlossen. Am Ende habe ich sogar ein Jobangebot bei einem privaten Unternehmen bekommen. Denen war nur wichtig, dass ich gute Arbeit leiste. Von den Öffentlich-Rechtlichen war ich wirklich enttäuscht, dass die sich nicht mehr getraut haben.
Wie hat sich deren Intoleranz genau geäußert?
In Form von Absagen. Oder auch Aussagen: Ich wurde zum Beispiel gefragt, warum ich nicht bei einer türkischen Zeitung arbeiten möchte. Aber wieso soll ich bei einer türkischen Zeitung arbeiten wollen? Nur, weil ich türkische Wurzeln habe?
Das klingt wirklich absurd. Hast du nach dem Studium denn lange nach einem Job suchen müssen?
Einige Monate, obwohl meine Noten gut waren und ich sozial engagiert bin. Selbst der Sachbearbeiter beim Arbeitsamt konnte keine Fehler in meiner Bewerbung finden. Er war sogar vielmehr von der Kreativität meiner Bewerbung angetan. Schließlich waren wir uns einig, dass es an meinem Kopftuch liegen muss. Er hat mir dann zu Praktika geraten, um den Arbeitgebern zu zeigen, wer und wie ich bin. Und dass ich Deutsch sprechen kann. Damit hatte ich dann auch Erfolg.
„Wer die Welt verändern will, muss bei sich selbst anfangen.“
Das erinnert mich an so manche Kopftuchdebatte. Erst neulich argumentierte der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz, dass das Kopftuch Parallelgesellschaften befördere. Was denkst Du darüber?
Ich halte es für wichtig, dass wir eine Gesellschaft der Inklusion, nicht bloß der Integration, leben. Und das sollte von beiden Seiten ausgehen. Die meisten Immigrant*innen haben ihre eigene Community gebildet. Dadurch kommen sie aber auch nicht in Kontakt mit anderen. Gleichzeitig haben es beispielsweise Kopftuchträgerinnen schwer in der Gesellschaft. Meistens wird nur über das Kopftuch geredet, aber nicht über die Person dahinter. Wir schließen uns also gegenseitig aus, anstatt aufeinander zuzugehen.
Ist das auch der Grund, warum Du in einem deutschen Unternehmen arbeiten wolltest?
Ja, auch. Obwohl ich es mir damit ja nicht leicht mache, wenn ich immer wieder erklären muss, warum ich so aussehe, was ich anziehe und so weiter. Ich finde aber, dass das dazu gehört, sonst kommen wir nicht voran. Wer die Welt verändern will, muss bei sich selbst anfangen.
Immer wieder werden ja Kritiker*innen laut, die das Kopftuch vehement ablehnen. Dabei wird dann oft auf den Iran verwiesen, wo gläubige Muslim*innen gegen die Verschleierung protestieren. Wie denkst Du darüber?
Ich kann die Geschehnisse im Iran nicht so gut beurteilen, weil ich weder Iranerin bin, noch jemals dort war. Ich weiß aber, dass dort das eigentlich religiöse Symbol des Kopftuchs politisiert wird. Die Frauen werden dort gezwungen. Damit wird aber der Sinn des Kopftuchtragens verfehlt. Man sollte etwas Religiöses tun, weil man daran glaubt, nicht weil andere einen dazu zwingen.
Was müsste sich für Dich gesellschaftlich verändern, damit Du Dich akzeptierter fühlst?
Dass der Mensch in den Fokus gerückt wird und nicht ein Stück Stoff. Mich unterscheidet ja nicht viel von anderen Menschen. Meine Arbeitskollegen haben wie ich studiert, haben wie ich Klausuren geschrieben oder wie ich ein Interesse für Fotografie. Aber bevor es soweit kommt, ist das Kopftuch oft schon ein Ausschlusskriterium und gleichzeitig sehr klischeebehaftet. Ich finde es schade, dass man nicht offen miteinander umgeht.
Was würdest Du einer Muslima mit oder ohne Kopftuch noch gerne sagen?
Ich würde einer Muslima mit Kopftuch sagen, dass sie viel offener damit umgehen soll. Ich finde, man steckt sich selbst schnell in Schubladen, in dem man sein Kopftuch dafür verantwortlich macht, dass man beispielsweise keinen Job findet. Das ist zwar durchaus der Fall und nicht wegzudenken, manchmal liegt es aber auch einfach an seinen Noten oder Referenzen. Da sollte man mehr reflektieren. Denn nicht alle sind rassistisch. Und sich selbst in so eine Schublade zu stecken, finde ich nicht richtig. Hinzu kommt, dass wir aus Angst vor falschen Darstellungen oft nicht zulassen, dass die Medien über uns berichten. Auf der anderen Seite beschweren wir uns darüber, dass in den Medien selten positiv über uns berichtet wird. So kommen wir aber auch nicht voran. Muslimas müssten einerseits mitreden dürfen: In Debatten über Kopftuchtragende haben alle das Recht, sich zu äußern, außer Kopftuchtragende selbst. Auf der anderen Seite müssten wir uns gegenseitig kennenlernen, um uns besser zu verstehen. Der Fremde ist meistens der Feind. Doch wenn du den Fremden kennenlernst, ist er nicht mehr fremd und vielleicht sogar irgendwann dein Freund.
Schönes Schlusswort eines gelungenen Interviews. Vielen Dank dafür, liebe Betül.
Empfohlene Literatur zum Weiterlesen:
Şahin, Reyhan (2014): Die Bedeutung des muslimischen Kopftuchs. Eine kleidungssemiotische Untersuchung Kopftuch tragender Musliminnen in der Bundesrepublik Deutschland. Münster.
Mehr zum Thema und weitere spannende Beiträge gibt es auf unserem Blog Shades of Hair. Außerdem halten wir unsere Leser*innen auf Facebook, Twitter und Instagram mit regelmäßigen Neuigkeiten rund um unseren Blog auf dem Laufenden.