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Gesellschaftstheoretiker, Ökonom, Philosoph ‒ und Hipster!? Karl Marx ist so populär wie nie, seine Theorien haben Hochkonjunktur. Doch was ist davon noch aktuell, was aus der Zeit gefallen? Und wie steht es heute um das ‚Gespenst des Kommunismus‘?

Karl Marx wird 200 Jahre alt ‒ die deutschen Medien gratulieren höflich. „Karl Marx ‒ der deutsche Prophet“ lautet der Titel eines Doku-Dramas, das im ZDF gezeigt wird. Die Süddeutsche kommentiert: „Die Lektüre von Marx ist ein Schlüssel zur Welt von heute“, bezeichnet ihn als ‚Visionär‘. In seiner Geburtsstadt Trier gipfeln die Feierlichkeiten in Marx-Statue und Marx-Ampelmännchen. Manche(r) Journalist*in dürfte noch Tage nach dem Jubiläum in einer Eistonne liegen und den von Schreibkrämpfen geschüttelten Körper kurieren. Marx, der Visionär und Prophet ‒ was ist von seinen Vorhersagen heute noch übrig? Waren seine ‚Prophezeiungen‘ zutreffend oder bloße Kaffeesatzleserei?

Auch Päpste fürchten Gespenster

Karl Marx und Friedrich Engels als Statue in Berlin (Foto: Pixabay).

Die Autoren des „Manifests der Kommunistischen Partei“ als Statue in Berlin (Foto: jensjunge, Pixabay.com).

„Ein Gespenst geht um in Europa ‒ das Gespenst des Kommunismus.“ So beginnt das „Manifest der Kommunistischen Partei“ von Karl Marx und Friedrich Engels aus dem Jahr 1848. In dieser Zeit ist ‚Kommunismus‘ ein Kampfbegriff. Er wird verwendet, um politische Gegner*innen zu verunglimpfen. Bei den Herrschenden verursacht das Wort Albträume. Sie wollen ihren Untergebenen den bösen Geist austreiben ‒ am liebsten per Exorzismus. Selbst der Segen von Papst Pius IX. ist ihnen dabei sicher. Denn für Pius IX. ist Kommunismus eine Seuche und einer der großen Irrtümer der Epoche.

Marx selbst kämpft ebenfalls gegen das Gespenst. Allerdings will er der Welt die Angst vor der Spukgestalt nehmen und mit dem Märchen vom Gespenst des Kommunismus aufräumen. Aus dieser Motivation heraus entsteht das „Manifest der Kommunistischen Partei“. Was Marx darin schreibt, strotzt nur so vor gesellschaftlichem Sprengstoff. Er kritisiert, wie die Oberschicht die Fabrikarbeiter*innen, das Proletariat, ausbeutet. Sein zentrales Thema ist dabei der Klassenkampf, der zur gewaltsamen Revolution, dem Aufstand des Proletariats führt. Am Ende stehe die Umgestaltung der Gesellschaft oder ihr Untergang.

Marx‘ Warten auf die Revolution

Statue von Marx in Trier

Zumindest als Statue kam er nach Trier zurück (Foto: Leo_65, Pixabay.com).

Auf den Knall des selbst beschworenen Pulverfasses wartet Marx vergeblich. Lediglich der Pariser Juniaufstand im Jahr 1848 entzündet sich an der Sozialen Frage ‒ doch der erhoffte Flächenbrand bleibt aus. In Großbritannien, dem Vorreiter der Industrialisierung, gibt es kein Revolutionsbestreben. Es wäre ein Vorzeigebeispiel für seine Theorie gewesen. An benachteiligten Proletarier*innen hätte es nicht gemangelt. Stattdessen gewährt Großbritannien Marx Zuflucht vor den Exorzist*innen. Ausgerechnet der Staat, der wie kaum ein zweiter das symbolisiert, was der Kommunist verabscheut. Das ist wohl britischer Humor.

Im Exil rückt Marx vom Klassenkampf ab und wendet sich der Ökonomie zu. Die Wirtschaftsordnung produziere Krisen, Krisen führten zu Umstürzen, so sein neues Mantra. Er schreibt es in „Das Kapital“ nieder. Wieder beginnt das Warten auf die prognostizierte Revolution. Zumindest kann sich der Exil-Trierer damit trösten, dass er nicht alleine warten muss. Um ihn scharen sich ganze Horden von Marxist*innen. Mit unnachgiebigem Blick fixieren sie den Boden ihrer Kaffeetassen. Dort wollen seine Jünger*innen die Anzeichen für die bevorstehende Revolution erkennen, orakeln in Wirtschafts- und Börsenberichten um die Wette. Doch was sie auch im Kaffeesatz zu lesen glauben ‒ die Revolution nach Marx‘ Vorbild lässt sich nicht herbeireden.

Die Wahrheit im Kaffeesatz

Während der Begründer des Marxismus mit seinen Revolutionsprognosen irrt, soll er an anderer Stelle Recht behalten. Bei all der Kritik, mit der er sich am Wirtschaftssystem des Kapitalismus abarbeitet, so erkennt Marx dennoch dessen Potenzial. Der Kapitalismus bietet die Möglichkeit, Wohlstand zu erzeugen, wenn auch ungleich verteilt. Marx denkt über europäische Grenzen hinaus, spricht bereits im „Manifest der Kommunistischen Partei“ vom ‚Weltmarkt‘. Er sieht die Globalisierung voraus und warnt vor der Selbstbereicherung durch Manager*innen.

Porträt von Karl Marx

Voll im Trend mit Hipster-Bart, schon im Jahr 1875 (Foto: John Jabez Edwin Mayall).

Auch das Gespenst des Kommunismus hat seinen Schrecken nicht verloren. Der böse Geist soll dem Staatsapparat vielerorts ausgetrieben werden. Das zeigen diverse Kommunist*innenverfolgungen, beispielsweise in der NS-Zeit. Eine Hetzjagd, die Marx schon 1848 thematisiert. Die Plätze der Exorzist*innen haben mittlerweile andere eingenommen. So tun sich die USA auch nach Ende des Kalten Krieges damit schwer, kommunistische Staaten zu akzeptieren. Denn so viel ist klar: Kommunismus ist unamerikanisch.

Der Hipster Karl Marx

Am aktuellsten bleibt dabei aber seine Kapitalismuskritik, denn die Soziale Frage wird weiterhin diskutiert. Marx deckt die Schwächen des Systems auf: Lohn- und Leistungsdruck auf Seiten der Angestellten, Konzentration der Gewinne bei den Unternehmer*innen. Das führt zur wachsenden Ungleichheit zwischen beiden Gruppen, dazu kommen hohe Mietpreise und Wohnungsmangel in den Städten. Nein, das ist keine zeitgenössische Kritik aus Martin Schulz‘ Wunschwahlprogramm. Das ist Marx ‒ direkt aus dem 19. Jahrhundert. Der Begründer des Marxismus ist aktuell und liegt im Trend. Auch seine äußerliche Erscheinung würde heute wohl kaum aus der Reihe fallen: Die Haare zum ‚Man Bun‘ gebunden, ein anerkennendes Nicken beim Betreten gewisser Berliner Clubs und Cafés wäre ihm sicher. Das erkennt allerdings nur, wer sich von seinem an Kriegstreiberei grenzenden Klassenkampf-Gerede nicht abschrecken lässt.

Die aktuelle Lesart der Werke dürfte auch den heutigen Hype um seine Person erklären ‒ und die überschwänglichen Journalist*innen. Dennoch irrte sich Marx gerade bei seinen großen Revolutionsprognosen.  Besonders das „Manifest der Kommunistischen Partei“ sollte frei nach Mao Zedong im Kern ein Papiertiger bleiben. So findet sich beim Blick in Marx‘ Tasse nicht nur Wahres im Kaffeesatz ‒ obwohl Marx‘ Kaffee keineswegs abgestanden schmeckt.

Es ist der Morgen des 1. Juli 1976. Klingenberg, ein Dorf in der Nähe von Würzburg. Eine 24-jährige Studentin wird in ihrem Bett tot aufgefunden. Ihr Körper ist geschändet. Abgebrochene Zähne und das vernarbte Gesicht sind Zeugen eines Leidenswegs. Sie stirbt an Unterernährung und Erschöpfung. Vorher wurden an ihr 67 Exorzismen durchgeführt. Was ist damals passiert?

Die Krankheit

Anneliese Michel war eine junge Frau und Pädagogik-Studentin, die in einem streng religiösen Elternhaus aufgewachsen ist. Doch Anneliese wurde krank und verhielt sich seltsam. Kurz vor ihrem 16. Geburtstag saß sie mit ihrer Mutter am Tisch und rief plötzlich: „Ich habe schwarze Hände! Erlöser, vergib mir! Ich sehe teuflische Gesichter an den Wänden. Sie haben jeweils sieben Kronen und sieben Hörner. Sie springen hier auf dem Boden rum. Könnt ihr sie nicht sehen!?“

Ihre Eltern suchten verschiedene Ärzte auf. Anneliese litt an schweren Krampfanfällen – teilweise mit Bewusstlosigkeit. Die Diagnose der Ärzte war Epilepsie. Sie behandelten die Krankheit mit abgestimmten Tabletten. Doch die Tabletten brachten keine Besserung. Jahrelang versuchten verschiedene Ärzte das seltsame Verhalten zu erklären und Anneliese zu helfen. Doch ohne Erfolg. Ihr Verhalten wurde immer seltsamer. Beispielweise sah sie während ihres Rosenkranz-Gebetes Teufelsfratzen und hörte Stimmen. Anneliese glaubte, dass sie von einem Teufel besessen war. Ihre Eltern wussten nicht mehr weiter und wandten sich daraufhin an einen Exorzisten.

Der Exorzismus

Anfangs wurde der Antrag abgelehnt. Doch dann verschlechterte sich ihr Zustand. Sie schlug und biss ihre Eltern, aß Insekten und trank ihren eigenen Urin. Sie verstand fremde Sprachen (Aramäisch und Griechisch) und nahm die Stimmen von mehreren männlichen Personen an. Aufgrund dieser Beobachtungen erstellte ein sogenannter Exorzismus-Experte namens Pater Adolf Rodewyk ein Gutachten, welches dazu führte, dass der damalige Bischof Josef Stangl den Exorzismus an Anneliese genehmigte.

Peter Arnold Renz und Pfarrer Ernst Alt führten über Monate insgesamt 67 Exorzismen bei Anneliese durch. Ihre Eltern waren immer dabei. Sie und auch die Exorzisten glaubten fest daran, dass Anneliese vom Satan besessen war. 42 dieser Sitzungen wurden auf Band aufgenommen. Diese sollten beweisen, dass die Studentin wirklich besessen war. Die Audio-Aufnahmen werden in vielen Beiträgen und Interviews erwähnt, doch es ist nicht zu klären, ob es sich bei den frei zugänglichen Audio-Aufnahmen tatsächlich um die Original-Aufnahmen handelt.

Der Exorzismus half nicht, und ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich weiter. Sie biss sich die Schneidezähne an der Wand aus und schlug sich wieder und wieder auf die Augen. Die Dämonen meldeten sich mit verschiedenen Namen durch ihren Mund. Die Sitzungen raubten ihr alle Kraft. Sie verletzte und foltere sich oft selbst. Die Dämonen befahlen Anneliese, nichts mehr zu essen, nichts zu trinken und 500 bis 600 Kniebeugen am Tag zu machen. Sie wog mit 23 Jahren und einer Körpergröße von 1,67 Metern lediglich noch 31 Kilo. Anneliese starb am 1. Juli 1976, aufgrund des Untergewichtes und der Erschöpfung.

Die Schuldfrage

Vor dem Landgericht in Aschaffenburg wurden Annelieses Michels Eltern und die beiden Priester angeklagt, ihren Tod verursacht zu haben. Die Gerichtsgutachter kamen zu dem Entschluss, dass zu der Epilepsie eine schwere Schizophrenie kam. Aber sie bescheinigten auch „psychische Defekte“ in Bezug auf die Besessenheit und den Exorzismus. Ein katholischer Religionspsychologe erklärte: „Ein unklug angewandter Exorzismus kann eine psychisch gestörte Person in eine Rolle hineinzwängen, die den landläufigen Zügen des Teufels und der Besessenheit gerecht wird.“

Die Frage, warum die Eltern trotz des dramatischen Untergewichts ihrer Tochter nicht den Arzt gerufen haben, kam auf. Der Vater erklärte, dass die Priester ihnen versicherten, die Dämonen hätten noch nie einen Besessenen umgebracht. Sie seien verzweifelt gewesen, da sie bereits bei verschiedenen Ärzten gewesen seien und niemand hätte helfen können. Die Priester beteuerten ebenfalls ihre Unschuld. Sie seien nur für das Seelenheil zuständig gewesen. Annelieses Eltern hätten eingreifen müssen.

Der Staatsanwalt forderte für Priester eine Geldstrafe – für die Eltern forderte er kein Strafmaß, da sie mit dem Verlust ihrer Tochter genug bestraft seien. Entgegen diesem Antrag verurteilte der Richter die Pfarrer und die Eltern wegen „fahrlässiger Tötung durch Unterlassung“ zu einer je sechsmonatigen Haftstrafe, die auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde. Am Ende der Gerichtsverhandlung zeigte der Vater keine Einsicht und sagte, dass er nicht glaube, dass sie etwas falsch gemacht hätten. Ihre Tochter habe sich geopfert.

Hätte die junge Frau gerettet werden können?

Der Historikerin Petra Nay-Helmut standen alle Unterlagen zum Fall Anneliese offen. Ihr Fazit: Sie hätte gerettet werden können. In einem Interview mit dem Hörfunkprogramm „Deutschlandfunk Kultur“ sagte Nay-Helmut: „Sie war einfach eine junge Frau, sie war psychisch krank, und hätte man rechtzeitig eingegriffen, medizinisch, hätte man sie auch retten können.“

Das Gegenteil erklärte Pfarrer Christian Sieberer in einem Kommentar zum „Fall Klingenberg“. Er sei nicht davon überzeugt, dass Anneliese ohne den Exorzismus und mit medizinischen Mitteln noch am Leben wäre. Pfarrer Sieberer begründete die Aussage unter anderem damit, dass alle damaligen medizinischen Behandlungsmöglichkeiten schon über Jahre hinaus eingesetzt worden waren. Die weiteren Behandlungen hätten aus medikamentöser Ruhigstellung, Zwangsernährung und Elektroschocks bestanden. Er wüsste nicht, wie viele Patienten in Anstalten bei solchen Behandlungen gestorben sind, aber es würden wohl einige sein.

Die Kirche lernte aus dem Fall der Anneliese Michel. Wie bereits im Beitrag „Exorzismus im 21. Jahrhundert“ zu lesen ist. Doch laut der christlichen Lehre können Dämonen vom Menschen Besitz ergreifen. Die alleineige Rettung soll in der Teufelsaustreibung bestehen. In der Presseerklärung zum „Fall Klingenberg“ erklärte Kardinal Josef Höffner: „Die katholische Theologie hält an der Existenz des Teufels und dämonischer Mächte fest.“

 

Beitragbild: emersonmello, Pixabay

Mit Beschwörungsformeln und Gebeten Dämonen aus Besessenen verjagen: Es klingt wie ein längst vergessener religiöser Ritus. Dabei ist der Exorzismus weltweit verbreitet. Auch in Deutschland treiben Priester noch immer den Teufel aus.

Die junge Frau redet mit sich selbst, schlägt um sich und ist bald nicht mehr zu bändigen. Ihre Familie ist sich sicher: Die Südkoreanerin ist vom Teufel besessen. Fünf Verwandte, Mitglieder einer christlich-fundamentalistischen Sekte, fesseln sie schließlich ans Bett, stopfen ihr ein Handtuch in den Mund und prügeln über Stunden auf ihren Brustkorb ein. Sie sind überzeugt davon, ihr mit einem Exorzismus den Dämon austreiben zu können. Dieser Fall hat sich nicht etwa im düsteren Mittelalter ereignet, sondern in Zimmer 433 eines Frankfurter Luxushotels. Am Ende dieses Tages im Dezember 2015 ist die Südkoreanerin tot, erstickt. Die Polizei findet ihre Leiche im Bett: mit einem Kleiderbügel im Rachen, von Hämatomen übersät. Ihre fünf Verwandten, darunter ihr 15 Jahre alter Sohn, werden festgenommen.

Auch im aufgeklärten 21. Jahrhundert glauben weltweit Menschen daran, von Dämonen besessen zu sein, und hoffen auf Erlösung durch eine Teufelsaustreibung, vor allem in Mittel- und Lateinamerika. Dort seien der Dämonenglaube und Exorzismen feste Bestandteile des Glaubens, sagt der Historiker und Autor Bernd Harder von der „Gesellschaft für die wissenschaftliche Untersuchung der Parawissenschaften“ im Gespräch mit diesem Blog. Harder beschäftigt sich seit Jahren mit der Teufelsaustreibung in der heutigen Zeit.

Exorzismus ist weltweit verbreitet

Exorzisten versuchen in Ritualen und durch Gebete, mit dem Dämon Verbindung aufzunehmen und ihn dazu zu bewegen, die „Besessenen“ zu verlassen. Gerade in fundamentalistischen Glaubensgemeinschaften wie den evangelikalen Freikirchen, das zeigt das Beispiel des eskalierten Exorzismus in Frankfurt, spielt Gewalt bei den Ritualen oft eine Rolle. Zu manchen Riten gehöre es, dass auf die Betroffenen eingeschlagen werde, erklärt Bernd Harder. Manchmal zeigen die Geplagten aber auch starke körperliche Reaktionen auf den Exorzismus, sodass sie der Teufelsaustreiber festhalten und fixieren muss. Das könne fatale Folgen haben, sagt der Exorzismus-Experte. Das Ritual bestätige das Opfer in seiner Rolle als „Besessene“ oder „Besessener“: „Der Betroffene wird immer weiter aufgestachelt, das Verhalten zu zeigen, was die Exorzisten und Gläubige erwarten.“ Dadurch erreiche man das Gegenteil von dem, was angestrebt werde, glaubt Harder: „Die psychischen Symptome verstärken sich, dem Betroffenen geht es immer schlechter.“

Nicht nur in christlich-fundamentalistischen Sekten, sondern auch im Katholizismus gehört die Teufelsaustreibung zum religiösen Alltag. Dort ist der Exorzismus seit dem Mittelalter bekannt, als sich der Volksglaube an Dämonen, Geister und Teufel ausbreitete. 1614 führte die Katholische Kirche den Exorzismus offiziell ein. Im „Rituale Romanum“, einem liturgischen Kirchenbuch, schrieb der Vatikan vor, wie ein Exorzismus durchzuführen sei. Der Priester betet: „Ich befehle dir im Namen unseres Herrn Jesus Christus, verlasse den Körper, den (sic!) du dich bemächtigt hast.“ Die Betroffenen werden dem Ritual nach mit Weihwasser besprengt, es werden verschiedene Psalmen vorgelesen, das Glaubensbekenntnis gebetet, das Kreuz gezeigt und die Hand aufgelegt. Danach seien die Gläubigen vom Bösen befreit, glaubte man. Historiker Harder sagt:

„Im Mittelalter hatte das Böse ein klares Gesicht: Satan oder Teufel.“

Eine einfache Variante, mit dem abstrakten Bösen in der Welt umzugehen: Die Menschen zentrierten es in einem Dämon, den man nur austreiben müsse, um das Unheil abzuwenden. Durch Bibelverse wie „Heilt Kranke, weckt Tote auf, reinigt Aussätzige, treibt Dämonen aus“ sahen sich Exorzist*innen legitimiert, geradezu dazu aufgerufen, Teufelsaustreibungen vorzunehmen. Und das bis heute.

Die Katholische Kirche hält an Exorzismus fest

2014 erkannte der Vatikan die in etwa 30 Ländern vertretene internationale Vereinigung der Exorzisten (AIE) offiziell als private rechtsfähige Gesellschaft an. Zur Organisation gehören rund 250 Teufelsaustreiber*innen, die jährlich etwa 30.000 Mal zum Einsatz kommen. Der AIE-Vorsitzende Francesco Bamonte begrüßte die Entscheidung der Kirche – und brachte die Hoffnung zum Ausdruck, dass nun mehr Priester der „oft ausgeblendeten oder unterschätzten dramatischen Situation“ besessener Menschen Beachtung schenkten. Der Exorzismus sei eine Form der Nächstenliebe. Harder vermutet einen weiteren Grund dafür, dass die Kirche noch immer an dieser aus der Zeit gefallenen Praxis festhält. Der Exorzismus soll als indirekter Gottesbeweis fungieren: Wenn es den Teufel gebe, dann müsse es folglich auch Gott geben, so der Historiker. „Der Exorzismus ist quasi die letzte Bastion des Übernatürlichen.“

Auch wenn sich die Katholische Kirche in Deutschland darüber ausschweigt, treiben Priester auch hierzulande immer wieder Gläubigen den Teufel aus. Der Bayerische Rundfunk hat bereits 2008 aufgedeckt, dass im Auftrag der Katholischen Kirche fast täglich Exorzismen durchgeführt werden. Der Sprecher des Erzbistums Paderborn, Ägidius Engel, bestätigte schließlich der „Süddeutschen Zeitung“, dass die Kirche „seelisch höchst notleidende(n) Menschen“ mit einer „Liturgie der Befreiung“ helfe. Es sei dann „die Pflicht des Bischof“, Exorzist*innen zu beauftragen. Weitere Stellungnahmen dazu sind von den deutschen Bistümern kaum zu erhalten. In anderen Ländern ist es deutlich einfacher,  kirchliche Exorzist*innen zu finden. Vielerorts wird aus dieser Praxis keinen Hehl gemacht. In Großbritannien etwa ist in jeder Diözese ein Priester als Exorzist angestellt. In Österreich nennen sich Priester, die mit dem Exorzismus beauftragt sind, euphemistisch „Beauftragte im Befreiungsdienst“.

Hunderte bitten jährlich um einen Exorzismus

Offiziell haben von den 27 deutschen Bistümern nur noch sieben Exorzisten in ihren Reihen. Die Nachfrage aber ist hierzulande groß: Jährlich erhalte die Katholische Kirche hunderte Anfragen von Menschen, die überzeugt davon sind, von Dämonen besessen zu sein und auf Erlösung durch Exorzist*innen hoffen. Das bestätigt eine Sprecherin auf Anfrage. Woran liegt das? Bernd Harder hat eine Vermutung:

„Für Betroffene ist ihre Besessenheit eine einfache Antwort auf komplexe Probleme.“

Mit tieferen Ursachen, etwa Angststörungen, psychischen Erkrankungen oder Süchten, müssten sie sich dann nicht mehr auseinandersetzen. Oftmals seien solche Menschen in psychiatrischer Behandlung besser aufgehoben als in den Händen der Teufelsaustreiber*innen. „Gesucht wird aber häufig eine Instant-Heilung durch einen Exorzisten, ohne anstrengende Therapie“, erklärt Historiker Harder.

Der tragische Tod der Anneliese Michel

Das erhoffte sich wohl auch Anneliese Michel. Sie suchte Erlösung im Exorzismus – und fand den Tod. Der Fall der 23 Jahre alten Pädagogik-Studentin sorgte 1976 weltweit für Aufsehen. Die Frau aus dem unterfränkischen Klingenberg litt jahrelang unter epileptischen Anfällen, trotz der Medikamente, die sie dagegen einnahm. Obwohl sie klare Symptome einer Schizophrenie zeigte, kam sie nie in psychiatrische Behandlung, sondern zur Teufelsaustreibung. Zwei katholische Priester mühten sich über Monate ab, ihren vermeintlichen Dämon zu verjagen. Dass die junge Frau bald keine Nahrung mehr zu sich nahm, blendeten die Priester aus. Nach insgesamt 67 Exorzismen starb Anneliese Michel im Beisein ihrer Eltern, nur noch 31 Kilogramm schwer, an Unterernährung und einer Lungenentzündung.

Der Fall Michel inspirierte auch das Psychodrama „Requiem“ aus dem Jahr 2006. Und er löste einen Skandal aus, der die Katholische Kirche in Deutschland erschütterte. Möglicherweise ein Grund, warum die deutschen Bistümer das Thema heute tabuisieren, meint Bernd Harder. Die Kirche zog allerdings Lehren aus diesem Fall. Der Vatikan überarbeitete 1999 sein jahrhundertealtes Regelwerk. Seither darf der Exorzismus nur mit besonderer und ausdrücklicher Erlaubnis des jeweiligen Ortsbischofs angewendet werden. Und das auch nur, wenn Suchterkrankungen und psychische Störungen zuvor in einer medizinischen Untersuchung ausgeschlossen worden sind.

Vier der fünf Südkoreaner*innen kamen mit Bewährungsstrafen davon

Der heute durchgeführte Exorzismus der Katholischen Kirche habe also nichts mehr mit den Praktiken im Fall Michel oder brutalen Filmklischees wie etwa in „Der Exorzist“ zu tun, so Bernd Harder. Das Ritual bestehe vielmehr aus Gebeten und der Bitte um Befreiung vom Bösen, wie es etwa schon im „Vater Unser“ zum Ausdruck komme. Kirchensprecher Ägidius Engel versicherte der „Süddeutschen Zeitung“: Ein Exorzismus werde erst vollzogen, wenn Fachleute bescheinigten, dass „da eigentlich nur noch der liebe Gott helfen könne.“

Davon überzeugt, dass nur noch ein Exorzismus die Rettung sei, waren auch die fünf Südkoreaner*innen aus Frankfurt. Vier Verwandte der getöteten jungen Frau kamen mit Bewährungsstrafen davon, eine Cousine wurde zu sechs Jahren Haft verurteilt. Das Gericht glaubte ihnen, dass sie das Opfer nicht töten wollten, sondern in dem festen Glauben handelten, der Frau zu helfen.