Es ist der Morgen des 1. Juli 1976. Klingenberg, ein Dorf in der Nähe von Würzburg. Eine 24-jährige Studentin wird in ihrem Bett tot aufgefunden. Ihr Körper ist geschändet. Abgebrochene Zähne und das vernarbte Gesicht sind Zeugen eines Leidenswegs. Sie stirbt an Unterernährung und Erschöpfung. Vorher wurden an ihr 67 Exorzismen durchgeführt. Was ist damals passiert?

Die Krankheit

Anneliese Michel war eine junge Frau und Pädagogik-Studentin, die in einem streng religiösen Elternhaus aufgewachsen ist. Doch Anneliese wurde krank und verhielt sich seltsam. Kurz vor ihrem 16. Geburtstag saß sie mit ihrer Mutter am Tisch und rief plötzlich: „Ich habe schwarze Hände! Erlöser, vergib mir! Ich sehe teuflische Gesichter an den Wänden. Sie haben jeweils sieben Kronen und sieben Hörner. Sie springen hier auf dem Boden rum. Könnt ihr sie nicht sehen!?“

Ihre Eltern suchten verschiedene Ärzte auf. Anneliese litt an schweren Krampfanfällen – teilweise mit Bewusstlosigkeit. Die Diagnose der Ärzte war Epilepsie. Sie behandelten die Krankheit mit abgestimmten Tabletten. Doch die Tabletten brachten keine Besserung. Jahrelang versuchten verschiedene Ärzte das seltsame Verhalten zu erklären und Anneliese zu helfen. Doch ohne Erfolg. Ihr Verhalten wurde immer seltsamer. Beispielweise sah sie während ihres Rosenkranz-Gebetes Teufelsfratzen und hörte Stimmen. Anneliese glaubte, dass sie von einem Teufel besessen war. Ihre Eltern wussten nicht mehr weiter und wandten sich daraufhin an einen Exorzisten.

Der Exorzismus

Anfangs wurde der Antrag abgelehnt. Doch dann verschlechterte sich ihr Zustand. Sie schlug und biss ihre Eltern, aß Insekten und trank ihren eigenen Urin. Sie verstand fremde Sprachen (Aramäisch und Griechisch) und nahm die Stimmen von mehreren männlichen Personen an. Aufgrund dieser Beobachtungen erstellte ein sogenannter Exorzismus-Experte namens Pater Adolf Rodewyk ein Gutachten, welches dazu führte, dass der damalige Bischof Josef Stangl den Exorzismus an Anneliese genehmigte.

Peter Arnold Renz und Pfarrer Ernst Alt führten über Monate insgesamt 67 Exorzismen bei Anneliese durch. Ihre Eltern waren immer dabei. Sie und auch die Exorzisten glaubten fest daran, dass Anneliese vom Satan besessen war. 42 dieser Sitzungen wurden auf Band aufgenommen. Diese sollten beweisen, dass die Studentin wirklich besessen war. Die Audio-Aufnahmen werden in vielen Beiträgen und Interviews erwähnt, doch es ist nicht zu klären, ob es sich bei den frei zugänglichen Audio-Aufnahmen tatsächlich um die Original-Aufnahmen handelt.

Der Exorzismus half nicht, und ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich weiter. Sie biss sich die Schneidezähne an der Wand aus und schlug sich wieder und wieder auf die Augen. Die Dämonen meldeten sich mit verschiedenen Namen durch ihren Mund. Die Sitzungen raubten ihr alle Kraft. Sie verletzte und foltere sich oft selbst. Die Dämonen befahlen Anneliese, nichts mehr zu essen, nichts zu trinken und 500 bis 600 Kniebeugen am Tag zu machen. Sie wog mit 23 Jahren und einer Körpergröße von 1,67 Metern lediglich noch 31 Kilo. Anneliese starb am 1. Juli 1976, aufgrund des Untergewichtes und der Erschöpfung.

Die Schuldfrage

Vor dem Landgericht in Aschaffenburg wurden Annelieses Michels Eltern und die beiden Priester angeklagt, ihren Tod verursacht zu haben. Die Gerichtsgutachter kamen zu dem Entschluss, dass zu der Epilepsie eine schwere Schizophrenie kam. Aber sie bescheinigten auch „psychische Defekte“ in Bezug auf die Besessenheit und den Exorzismus. Ein katholischer Religionspsychologe erklärte: „Ein unklug angewandter Exorzismus kann eine psychisch gestörte Person in eine Rolle hineinzwängen, die den landläufigen Zügen des Teufels und der Besessenheit gerecht wird.“

Die Frage, warum die Eltern trotz des dramatischen Untergewichts ihrer Tochter nicht den Arzt gerufen haben, kam auf. Der Vater erklärte, dass die Priester ihnen versicherten, die Dämonen hätten noch nie einen Besessenen umgebracht. Sie seien verzweifelt gewesen, da sie bereits bei verschiedenen Ärzten gewesen seien und niemand hätte helfen können. Die Priester beteuerten ebenfalls ihre Unschuld. Sie seien nur für das Seelenheil zuständig gewesen. Annelieses Eltern hätten eingreifen müssen.

Der Staatsanwalt forderte für Priester eine Geldstrafe – für die Eltern forderte er kein Strafmaß, da sie mit dem Verlust ihrer Tochter genug bestraft seien. Entgegen diesem Antrag verurteilte der Richter die Pfarrer und die Eltern wegen „fahrlässiger Tötung durch Unterlassung“ zu einer je sechsmonatigen Haftstrafe, die auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde. Am Ende der Gerichtsverhandlung zeigte der Vater keine Einsicht und sagte, dass er nicht glaube, dass sie etwas falsch gemacht hätten. Ihre Tochter habe sich geopfert.

Hätte die junge Frau gerettet werden können?

Der Historikerin Petra Nay-Helmut standen alle Unterlagen zum Fall Anneliese offen. Ihr Fazit: Sie hätte gerettet werden können. In einem Interview mit dem Hörfunkprogramm „Deutschlandfunk Kultur“ sagte Nay-Helmut: „Sie war einfach eine junge Frau, sie war psychisch krank, und hätte man rechtzeitig eingegriffen, medizinisch, hätte man sie auch retten können.“

Das Gegenteil erklärte Pfarrer Christian Sieberer in einem Kommentar zum „Fall Klingenberg“. Er sei nicht davon überzeugt, dass Anneliese ohne den Exorzismus und mit medizinischen Mitteln noch am Leben wäre. Pfarrer Sieberer begründete die Aussage unter anderem damit, dass alle damaligen medizinischen Behandlungsmöglichkeiten schon über Jahre hinaus eingesetzt worden waren. Die weiteren Behandlungen hätten aus medikamentöser Ruhigstellung, Zwangsernährung und Elektroschocks bestanden. Er wüsste nicht, wie viele Patienten in Anstalten bei solchen Behandlungen gestorben sind, aber es würden wohl einige sein.

Die Kirche lernte aus dem Fall der Anneliese Michel. Wie bereits im Beitrag „Exorzismus im 21. Jahrhundert“ zu lesen ist. Doch laut der christlichen Lehre können Dämonen vom Menschen Besitz ergreifen. Die alleineige Rettung soll in der Teufelsaustreibung bestehen. In der Presseerklärung zum „Fall Klingenberg“ erklärte Kardinal Josef Höffner: „Die katholische Theologie hält an der Existenz des Teufels und dämonischer Mächte fest.“

 

Beitragbild: emersonmello, Pixabay

4 Kommentare
  1. ananas
    ananas sagte:

    Super interessant! Und sehr erschreckend gleichzeitig. Für mich ist das eher eine Psychose. Umso erschreckender für mich, wie niedrig die Strafe ausgefallen ist.

  2. afauser
    afauser sagte:

    Am meisten schockiert mich, dass die junge Frau mit der richtigen Therapie hätte gerettet werden können. Das Strafmaß finde ich ebenfalls viel zu niedrig, vor allem da der Vater nicht einmal Einsicht zeigt.

  3. Julian D.
    Julian D. sagte:

    Wirklich ein tragischer Fall! Mir ist es unverständlich, wie die Eltern das zulassen konnten. Sie müssen doch bemerkt haben, dass es der Tochter immer schlechter ging, sie wog doch am ende nur noch 40 Kilogramm! Die müssen ideologisch vollkommen verblendet sein…

  4. Dilara
    Dilara sagte:

    Interessant und unglaublich erschreckend zugleich! Dieses Thema beschäftigt mich aufgrund eigener Erfahrungen sehr und ich finde die Aussage des Vaters einfach nicht nachvollziehbar. Die eigene Töchter so sehr zu quälen und ihr keine ärztliche Hilfe zu beschaffen…Die Qualen der jungen Frau mag man sich kaum vorstellen!

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