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Gespenster können mal eine politische Idee sein, mal schaurige Monster, und oft Figuren in unseren liebsten Geschichten. Doch hat die Menschheit im Laufe ihrer illustren Historie schon das ein oder andere Gespenst hervorgebracht, bei dem man sich fragt, ob uns alle guten Geister verlassen haben. Begeben wir uns auf eine kleine, skurrile Weltreise.

1. Das „Highgate Chicken“ Gespenst

Sir Francis Bacon war ein Philosoph, Staatsmann und Jurist und gilt als einer der wichtigsten Vorreiter der empirischen Forschung. Man mag von Ironie sprechen, dass sich ausgerechnet aus dem Umfeld Bacons eine der faszinierendsten Gespenstergeschichten Englands entwickelt hat. Die Geschichte des „Highgate Chicken“ Gespensts.

Wir schreiben das Jahr 1626. In Europa wütete der verheerende dreißigjährige Krieg. Im verschneiten England, genauer am Highgate Pond nahe London, lieferte sich Wissenschaftler Francis Bacon eine hitzige Diskussion mit seinem Freund Dr. Witherbone darüber, auf welche Art sich Fleisch am besten konservieren ließe und vielleicht auch darüber, wer von beiden den lustigeren Nachnamen hat.

Bacon argumentierte, dass Kälte die Lösung sein könnte, und um das zu beweisen, ging er los und kaufte ein Huhn. Es ist nicht bekannt, ob dieses Huhn bereits Anzeichen von dämonischer Präsenz zeigte. Man weiß nur, dass Bacon es kaltblütig ermordete, rupfte, ausnahm, mit Schnee füllte und in einem Sack in mehr Schnee vergrub. So erfand Bacon, Verfasser der Universalenzyklopädie De dignitate et augmentis scientiarum, das erste gefrorene Hähnchen. Am selben Tag erkältete er sich und starb wenig später an einer Lungenentzündung.

Jener Ort, an dem Bacon das Huhn vergrub, gilt seit jenem schicksalshaften Tag als heimgesucht. Doch ist es nicht Bacons Geist, der den Ort heimsucht, oder der ruhelose Dr. Whiterbone, der nie darüber hinwegkam, dass Bacon Recht hatte. Nein, noch bis heute soll dort der Geist des Highgate-Hähnchens sein Unwesen treiben. Es gibt verschiedene Berichte von Zeugen, die am Highgate Pond ein halb-gerupftes, kopfloses Huhn im Kreis herumrennen gesehen haben. Wild mit den Flügeln schlagend und auf den Boden pickend mit einem Schnabel, welchen es nicht mehr hat. Die letzte angeblich belegte Sichtung des Horror-Huhns aus der Hölle, soll es in den 1970ern, gegeben haben. Wollen wir hoffen das Huhn hat erkannt, dass es für die Wissenschaft starb und es jetzt, glücklich gackernd, seinen Frieden in den ewigen Jagdgründen gefunden hat.

2. Mula-sem-cabeça – Das kopflose Maultier

Wir kennen den christlichen Gott als jemanden, mit dem man sich besser nicht anlegt. Mal schmeißt er Frösche herab, lässt Erstgeborene sterben, flutet den halben Planeten oder straft uns fürs Turmbauen mit Fremdsprachen lernen. Manchmal verwandelt er einen zur Strafe aber auch in ein kopfloses lila Maultier, das Feuer aus dem Halsstumpf speit. Laut brasilianischer Folklore soll dieses Schicksal eine brasilianische Prostituierte erlitten haben, die eine Affäre mit einem Priester hatte.

Je nach Version variiert die exakte Form des Fluches, mit welchem die Frau von Gott in dessen unendlicher Kreativität belegt wurde. Einig ist man sich darin, dass die Verfluchte dazu verdammt ist sich Donnerstag nachts in jene albtraumhafte Maultier-Gestalt zu verwandeln. Meist trägt sie dabei noch ein fliegendes Zaumzeug, gibt das Jammern einer Frau von sich und ist geschmückt mit einer brennenden Mähne. Sie trampelt achtlose Menschen nieder und man kann sich ihr nur entziehen, indem man sich flach auf den Boden legt und ruhig bleibt. Angeblich sieht sie nicht so gut …

Wir wollen an dieser Stelle nicht den pädagogischen Wert diskutieren, eine käufliche Dame dafür zu bestrafen Sex zu haben, während man den Priester laufen lässt. Denn der Fluch hat ein Gegenmittel! Um die brennende Geisterdirne zu retten, bedarf es nur der Entfernung des Zaumzeugs. Oder man ersticht sie. Denn dann würde sich das kopflose Maultier zurück in das Freudenmädchen verwandeln, nackt, schwitzend und nach Sulfur stinkend. Der „Glückliche“, dem dies gelingt, muss sie anschließend zur Frau nehmen.

Vermutet wird, dass die Geschichte als christliches Lehrstück gegen die in Brasilien weit verbreiteten Naturreligionen entstanden ist, um die Zügel- und Kopflosigkeit des wilden, animalischen Menschen zu verdeutlichen und Priester vom Zölibat zu überzeugen. Denn wer will schon für eine galoppierende, das Dorf terrorisierende, feuerspeiende Geisterdirne verantwortlich sein?

Künstlerische Veranschaulichung

 

3. Shirime

Zuletzt wollen wir noch einen Blick in das Mutterland seltsamer Gespenstergeschichten werfen: Japan. Neben einer Unzahl an Todesgöttern, Naturgeistern und Horror-Sagen gibt es in Japan sogenannte Yōkai, eine Klasse an Gespenster, die mit Monstern oder unseren westlichen spukenden Geistern vergleichbar sind. Oft auch als Mononoke bezeichnet, haben diese Gespenster die Fähigkeit der Gestaltwandlung, können von Tieren Besitz ergreifen oder beleben Gegenstände. Meist läuft eine Yōkai-Geschichte aber ziemlich ähnlich ab. Ein einsamer Wanderer trifft eine seltsame Person. Diese entpuppt sich als irgendeine Art Gespenst. In der Folge flieht das Opfer schreiend, der Geist verschwindet oder irgendwer wird von irgendwas gefressen.

Dies bringt uns zur Gespenstersage des Shirime. Die Geschichte geht so: Ein Samurai läuft, nahe Kyoto, eines Nachts die Straße entlang. Plötzlich trifft er auf einen Mann in einem Kimono, der ihm den Weg versperrt und sagt: „Entschuldigen Sie … bitte nur einen Moment ihrer Zeit.“ Der Samurai wappnet sich misstrauisch für einen Angriff. Er antwortet: „Was willst du von mir?“ Plötzlich dreht sich der rätselhafte Mann ruckartig um, bückt sich, hebt seinen Kimono und streckt dem Samurai seinen nackten Hintern entgegen. In der Mitte ein Licht ausstrahlendes, großes Auge. Angsterfüllt schreit der Samurai und ergreift die Flucht. Ende der Geschichte.

By Yosa Buson (与謝蕪村, Japanese, *1716, †1784) – scanned from ISBN 4-5829-2057-8., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2221693

Die Moral dieser Sage soll jeder für sich entscheiden. Im Japanischen wird dem Shirime nachgesagt, dass er keine böse Absicht hegt und es einfach nur witzig findet Leute zu… nunja, verarschen. In dieser Funktion kommt er beispielsweise auch im Film „Pom Poko“ des berühmten japanischen Zeichentrickstudios „Ghibli“ vor. Wer jetzt denkt, dass er auch schon den ein oder anderen Arsch mit Augen getroffen hat, sollte aber nicht davon ausgehen, dass es sich dabei gleich um einen Shirime handelte. Denn wie die gängige Defintnion von Gespenst empfiehlt, können alle möglichen „furchterregenden spukenden Wesen“ Gespenster sein.

4. Heimreise

Wir sehen also, egal ob Hühner in England, Maultiere in Brasilien oder Hintern in Japan: Gespenster tauchen auf der Welt in den skurrilsten Formen und Farben auf. Es gäbe noch unzählige zu entdecken, wie ein gespenstischer haariger Zeh in den USA, Föten-Geister in Indonesien oder das „Hantu Tetek“ (dt.: Busen-Gespenst) aus Malaysia. Auch die ein oder andere heimische Wunderlichkeit haben wir hier im Blog mit spukenden Bauernhöfen, Fußballgeistern und verstorbenen Tübinger Studenten schon vorgestellt. Am Ende muss man eh gar nicht so weit schauen, um alberne Gespenster zu finden. Oder wer kennt nicht das Gespenst mit dem Bettlaken über dem Kopf?

Es ist der Morgen des 1. Juli 1976. Klingenberg, ein Dorf in der Nähe von Würzburg. Eine 24-jährige Studentin wird in ihrem Bett tot aufgefunden. Ihr Körper ist geschändet. Abgebrochene Zähne und das vernarbte Gesicht sind Zeugen eines Leidenswegs. Sie stirbt an Unterernährung und Erschöpfung. Vorher wurden an ihr 67 Exorzismen durchgeführt. Was ist damals passiert?

Die Krankheit

Anneliese Michel war eine junge Frau und Pädagogik-Studentin, die in einem streng religiösen Elternhaus aufgewachsen ist. Doch Anneliese wurde krank und verhielt sich seltsam. Kurz vor ihrem 16. Geburtstag saß sie mit ihrer Mutter am Tisch und rief plötzlich: „Ich habe schwarze Hände! Erlöser, vergib mir! Ich sehe teuflische Gesichter an den Wänden. Sie haben jeweils sieben Kronen und sieben Hörner. Sie springen hier auf dem Boden rum. Könnt ihr sie nicht sehen!?“

Ihre Eltern suchten verschiedene Ärzte auf. Anneliese litt an schweren Krampfanfällen – teilweise mit Bewusstlosigkeit. Die Diagnose der Ärzte war Epilepsie. Sie behandelten die Krankheit mit abgestimmten Tabletten. Doch die Tabletten brachten keine Besserung. Jahrelang versuchten verschiedene Ärzte das seltsame Verhalten zu erklären und Anneliese zu helfen. Doch ohne Erfolg. Ihr Verhalten wurde immer seltsamer. Beispielweise sah sie während ihres Rosenkranz-Gebetes Teufelsfratzen und hörte Stimmen. Anneliese glaubte, dass sie von einem Teufel besessen war. Ihre Eltern wussten nicht mehr weiter und wandten sich daraufhin an einen Exorzisten.

Der Exorzismus

Anfangs wurde der Antrag abgelehnt. Doch dann verschlechterte sich ihr Zustand. Sie schlug und biss ihre Eltern, aß Insekten und trank ihren eigenen Urin. Sie verstand fremde Sprachen (Aramäisch und Griechisch) und nahm die Stimmen von mehreren männlichen Personen an. Aufgrund dieser Beobachtungen erstellte ein sogenannter Exorzismus-Experte namens Pater Adolf Rodewyk ein Gutachten, welches dazu führte, dass der damalige Bischof Josef Stangl den Exorzismus an Anneliese genehmigte.

Peter Arnold Renz und Pfarrer Ernst Alt führten über Monate insgesamt 67 Exorzismen bei Anneliese durch. Ihre Eltern waren immer dabei. Sie und auch die Exorzisten glaubten fest daran, dass Anneliese vom Satan besessen war. 42 dieser Sitzungen wurden auf Band aufgenommen. Diese sollten beweisen, dass die Studentin wirklich besessen war. Die Audio-Aufnahmen werden in vielen Beiträgen und Interviews erwähnt, doch es ist nicht zu klären, ob es sich bei den frei zugänglichen Audio-Aufnahmen tatsächlich um die Original-Aufnahmen handelt.

Der Exorzismus half nicht, und ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich weiter. Sie biss sich die Schneidezähne an der Wand aus und schlug sich wieder und wieder auf die Augen. Die Dämonen meldeten sich mit verschiedenen Namen durch ihren Mund. Die Sitzungen raubten ihr alle Kraft. Sie verletzte und foltere sich oft selbst. Die Dämonen befahlen Anneliese, nichts mehr zu essen, nichts zu trinken und 500 bis 600 Kniebeugen am Tag zu machen. Sie wog mit 23 Jahren und einer Körpergröße von 1,67 Metern lediglich noch 31 Kilo. Anneliese starb am 1. Juli 1976, aufgrund des Untergewichtes und der Erschöpfung.

Die Schuldfrage

Vor dem Landgericht in Aschaffenburg wurden Annelieses Michels Eltern und die beiden Priester angeklagt, ihren Tod verursacht zu haben. Die Gerichtsgutachter kamen zu dem Entschluss, dass zu der Epilepsie eine schwere Schizophrenie kam. Aber sie bescheinigten auch „psychische Defekte“ in Bezug auf die Besessenheit und den Exorzismus. Ein katholischer Religionspsychologe erklärte: „Ein unklug angewandter Exorzismus kann eine psychisch gestörte Person in eine Rolle hineinzwängen, die den landläufigen Zügen des Teufels und der Besessenheit gerecht wird.“

Die Frage, warum die Eltern trotz des dramatischen Untergewichts ihrer Tochter nicht den Arzt gerufen haben, kam auf. Der Vater erklärte, dass die Priester ihnen versicherten, die Dämonen hätten noch nie einen Besessenen umgebracht. Sie seien verzweifelt gewesen, da sie bereits bei verschiedenen Ärzten gewesen seien und niemand hätte helfen können. Die Priester beteuerten ebenfalls ihre Unschuld. Sie seien nur für das Seelenheil zuständig gewesen. Annelieses Eltern hätten eingreifen müssen.

Der Staatsanwalt forderte für Priester eine Geldstrafe – für die Eltern forderte er kein Strafmaß, da sie mit dem Verlust ihrer Tochter genug bestraft seien. Entgegen diesem Antrag verurteilte der Richter die Pfarrer und die Eltern wegen „fahrlässiger Tötung durch Unterlassung“ zu einer je sechsmonatigen Haftstrafe, die auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde. Am Ende der Gerichtsverhandlung zeigte der Vater keine Einsicht und sagte, dass er nicht glaube, dass sie etwas falsch gemacht hätten. Ihre Tochter habe sich geopfert.

Hätte die junge Frau gerettet werden können?

Der Historikerin Petra Nay-Helmut standen alle Unterlagen zum Fall Anneliese offen. Ihr Fazit: Sie hätte gerettet werden können. In einem Interview mit dem Hörfunkprogramm „Deutschlandfunk Kultur“ sagte Nay-Helmut: „Sie war einfach eine junge Frau, sie war psychisch krank, und hätte man rechtzeitig eingegriffen, medizinisch, hätte man sie auch retten können.“

Das Gegenteil erklärte Pfarrer Christian Sieberer in einem Kommentar zum „Fall Klingenberg“. Er sei nicht davon überzeugt, dass Anneliese ohne den Exorzismus und mit medizinischen Mitteln noch am Leben wäre. Pfarrer Sieberer begründete die Aussage unter anderem damit, dass alle damaligen medizinischen Behandlungsmöglichkeiten schon über Jahre hinaus eingesetzt worden waren. Die weiteren Behandlungen hätten aus medikamentöser Ruhigstellung, Zwangsernährung und Elektroschocks bestanden. Er wüsste nicht, wie viele Patienten in Anstalten bei solchen Behandlungen gestorben sind, aber es würden wohl einige sein.

Die Kirche lernte aus dem Fall der Anneliese Michel. Wie bereits im Beitrag „Exorzismus im 21. Jahrhundert“ zu lesen ist. Doch laut der christlichen Lehre können Dämonen vom Menschen Besitz ergreifen. Die alleineige Rettung soll in der Teufelsaustreibung bestehen. In der Presseerklärung zum „Fall Klingenberg“ erklärte Kardinal Josef Höffner: „Die katholische Theologie hält an der Existenz des Teufels und dämonischer Mächte fest.“

 

Beitragbild: emersonmello, Pixabay

Ritual zum Herbeirufen von Erscheinungen - Eine Frau hält einen skelletierten Rehkopf zwischen Kürbissen.

Für die einen sind sie nur Fabelwesen und Hirngespinste, andere glauben fest an ihre Existenz: Gespenster, Geister und Erscheinungen prägen seit Menschengedenken unsere Kultur. Doch wie lassen sie sich unterscheiden und worin liegen ihre Gemeinsamkeiten? Ein Blick in die Welt einer nebulösen Wissenschaft.

Schlagende Fenster, ein Rumpeln im Nebenraum oder Schritte auf der Treppe ‒ die Mehrzahl solcher Vorkommnisse lässt sich rational erklären. Manchen wird aber ein übernatürlicher Ursprung nachgesagt, gerade wenn der oder die Betroffene zum Aberglauben neigt. Gespenster, Geister oder Erscheinungen sind die Begriffe, die in diesem Zusammenhang dann fallen. Dabei werden sie häufig als Synonyme verwendet. Was den Anschein erweckt, identisch zu sein, ist in Wahrheit deutlich komplexer. Denn der Kosmos der Geister und Gespenster ist uralt und in zahlreichen Kulturen verwurzelt.

Germanische Urahnen

Im deutschen Sprachraum lässt sich das Wort „Geist“ auf einige germanische Begriffe zurückführen. Zum Beispiel bedeutet „gheis“ laut Gerhard Köblers „Indogermanischem Wörterbuch“ so viel wie „schaudern“ oder „erschrecken“.  Das westgermanische „gaista“ stehe wiederum für „überirdisches Wesen“. Damit zielt die Bedeutung von „Geist“ auf das Aussehen des beschriebenen Körpers ab. Im Gegensatz dazu zeigt „Gespenst“ laut dem Grimm’schen Wörterbuch eine Verwandtschaft mit Wörtern wie „Verführung“ oder „Täuschung“. Der Begriff lasse sich auf das mittelhochdeutsche „gespanst“, was „Trugbild“ bedeute und das althochdeutsche „gispensti“ („Verlockung“) zurückführen. Dennoch ist eine exakte Trennung zwischen Gespenstern und Geistern nicht immer zweifelsfrei möglich. Daher wird in der Fachliteratur meist von sogenannten Erscheinungen gesprochen. Gerhard Mayer vom Freiburger Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene definiert Erscheinungen wie folgt:

 „Eine Erscheinung gleicht […] einer Person, einem Tier oder einem unbelebten Objekt, wobei der entsprechende Gegenstand […] physikalisch nicht präsent ist und physikalische Mittel der Kommunikation ausgeschlossen werden können.“

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts trieb die Society for Psychical Research (SPR) in Großbritannien die Forschung zu Erscheinungen voran. Schließlich gelang einer Gruppe um den englischen Philosophen Henry Sidgwick die Erfassung historischer Berichte über Begegnungen mit Erscheinungen. Sidgwick, der SPR-Mitbegründer und erste Präsident des Vereins, veröffentlichte die Sammlung im Jahr 1894 unter dem Titel „Census of Hallucinations“. Seitdem führt der Verein diese Arbeit fort ‒ auch nach Sidgwicks Tod.

Die Mitglieder der Gespensterfamilie

Ein anderes Projekt der SPR war die Analyse paranormaler Geschehnisse und die Typologisierung von Erscheinungen. Dies gelang dem SPR-Mitglied George Nugent Merle Tyrrell. Der britische Mathematiker und Physiker identifizierte in seinem 1942 erschienenen Werk „Apparitions“ vier Hauptkategorien:

  • experimentelle Fälle,
  • Krisen-Erscheinungen,
  • Post-mortem-Fälle,
  • ortsgebundene Erscheinungen.

Auf Deutsch erschien Tyrrells Text im Jahr 1979 unter dem Titel „Erscheinungen und Visionen im PSI-Feld“. Die jüngere Forschung fügte den Kategorien Tyrrells eine fünfte Gruppe hinzu, die Erscheinung von lebenden Personen.

Absicht oder Zufall?

Führen eine oder mehrere Personen willentlich eine Erscheinung herbei, spricht man nach Tyrrell von experimentellen Fällen. Dies schließe auch esoterische, schamanische oder okkulte Rituale mit ein. Die Gemeinsamkeit dieser Kategorie besteht laut Tyrrell im experimentellen Charakter und der Absicht der Teilnehmer*innen, eine Erscheinungserfahrung zu machen. Diese recht breite, wenig homogene Kategorie trifft somit keine Aussage über die Art der Erscheinung. Einen solchen Fall beschrieb Tyrrell wie folgt: Ein Mann versuchte, sich mittels seiner Vorstellungskraft in ein Haus zu projizieren. Währendessen befanden sich Bekannte im Haus und wussten nichts vom Versuch des Mannes. Die Bekannten sahen den Mann angeblich am selben Abend in dem Haus ‒ das Experiment glückte. Der Mann erlebte das Experiment nach eigener Aussage als sehr intensiv.

Bei dieser Kategorie kann es jedoch eine Überschneidung mit der Gruppe der Erscheinungen von lebenden Personen geben. Schließlich ist die erscheinende Person in beiden Fällen noch am Leben, dennoch lassen sich die beiden Gruppen unterscheiden. Demnach geschehen Erscheinungen von lebenden Personen gegen deren Willen oder auch ohne ihr Wissen, im Gegensatz zu den experimentellen Fällen. Zudem befinden sich die Erscheinung und die zugehörige Person bei den experimentellen Fällen meist nicht am selben Ort.

Der eintretende Tod als Indikator für Erscheinungen

Präziser gefasst ist hingegen die Gruppe der Krisen-Erscheinungen. Dabei erscheint eine Person, die gerade eine existenzielle Krise durchlebt. Die Ursache kann laut Tyrrell ein traumatisches Erlebnis, eine schwere Krankheit oder auch der eintretende Tod sein. Dieser ist bei sogenannten Post-mortem-Fällen schon seit längerer Zeit eingetreten. Hier handle es sich um die Erscheinung einer meist seit Jahren verstorbenen Person. Sie könne dem*r Betrachter*in vertraut oder auch völlig unbekannt sein. Eine solche Begegnung ist verstörend und beängstigend, so Tyrrell.

Ortsgebundene Erscheinungen stellen zwar eine eigene Gruppe dar, können aber dennoch in Kombination mit einer anderen Kategorie auftreten. Nach Tyrrell trägt eine solche Erscheinung häufig historische Kleidung und taucht mehrfach an einem festen, teils historisch bedeutenden Ort auf. Zudem werde sie meist von mehreren Personen in gewissen zeitlichen Abständen gesehen. Um solche Erscheinungen ranken sich diverse Mythen und Legenden, die ihren Weg in die Literatur fanden.

Abgesehen von Tyrrells Kategorien gehören noch einige weniger anerkannte Gruppen zur Gespensterfamilie. Demnach zählen beispielsweise zur weitläufigeren Verwandtschaft der Erscheinungen auch Dämonen und Engel. Dämonen gelten im Allgemeinen als böse Geister und bilden somit ein Pendant zu den Engeln. Darüber hinaus gibt es noch die Gattung der Elementare oder Naturgeister. Diese Erscheinungen werden den vier Elementen zugeordnet und spielten in der Kultur der German*innen eine große Rolle.