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Ihr glaubt, die Traumwelten blinder und sehbehinderter Menschen sind trist und formlos? Weit gefehlt. Auch geburtsblinde oder erst im Laufe des Lebens erblindete Menschen verarbeiten ihre täglichen Emotionen und Erlebnisse im Schlaf. Ob mit oder ohne Sehsinn – Träume von blinden und sehbehinderten Menschen sind facettenreicher, als man denkt.

Blindes Träumen stellt Außenstehende meist vor große Rätsel. Sehende können sich nur schwer vorstellen, dass der Sehsinn durch Sinne wie das Riechen, Schmecken, Hören und Fühlen im Traum ersetzt wird und auch auf diese Weise Handlungen entstehen können. Auch für Betroffene, die erst im Laufe ihres Lebens erblindet sind und sehendes Träumen davor kennengelernt haben, ist dies eine gewaltige Umstellung. Sie begeben sich auf neue Wege und damit in eine etwas andere Traumwelt. Drei blinde Frauen haben uns von ihren Erlebnissen erzählt und erklärt, was sie in ihren Träumen wahrnehmen.

Träumen mit allmählich voranschreitender Erblindung

Wichtig ist zunächst die Unterscheidung, ob die jeweilige Person von Geburt an blind ist oder ob sie erst nach und nach durch eine Krankheit ihr Augenlicht verloren hat. Im Laufe des Lebens erblindete Menschen berichten von Eindrücken, die sich vor ihrem inneren Auge abspielen und die sie nun nicht mehr zuordnen können. Die Beschreibungen dieser Eindrücke sind vor allem deshalb so schwierig, weil die Erinnerung an Farben, Formen oder an die Wahrnehmung von hell und dunkel allmählich verblasst. Das sehende Träumen bleibt diesen Personen meist noch eine ganze Weile erhalten und ist daher zeitversetzt mit der eigentlichen Erblindung im Wachzustand. Da die optischen Signale für die Sehnerven abnehmen und der Gebrauch von anderen Sinnen stärker wird, bildet sich das Sehen im Traum mit der Zeit zurück, bis es schließlich vollständig verschwindet.

Träume bei geburtsblinden Menschen

Menschen, die von Geburt an blind sind, verfügen meist über keine bis wenig Visualität in ihren Träumen. Das, was hier an Eindrücken verarbeitet wird, erfolgt oft über die Sinne, die blinde Menschen im Alltag am intensivsten beanspruchen. Dennoch ist es nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass geburtsblinde Menschen in Bildern träumen. Möglich sind vor allem bei minimalen Sehrestwerten Repräsentationen von sehr intensiv erlebten Begegnungen oder Wahrnehmungen von Orten, für die ein sehr gutes Gefühl der räumlichen Anordnung nachempfunden werden konnte. Hierbei ist es möglich, dass geburtsblinde Menschen über die anderen Sinneskanäle die nötigen Informationen und Merkmale herausfiltern, sodass das Gehirn beginnt einen optischen Eindruck zu erzeugen.

Nachgestellte Sicht im Traum von Luisa Grube. © Viktoria Boll

Eine Para-Alpin-Skifahrerin über ihre Träume

Schaut man sich den Instagram-Feed von Para-Alpin-Skifahrerin Luisa Grube an, fällt es schwer zu glauben, dass sie von Geburt an nur über eine Sehkraft von gerade mal zwei Prozent verfügt. Sie gilt gesetzlich als blind, lässt sich davon aber keinesfalls einschränken. Ganz im Gegenteil: Als blinde Person eine Skipiste herunter düsen, ist ganz schön beeindruckend. Das, was sie sieht, nimmt sie über einen Tunnelblick wahr, erklärt sie im Interview. Am Ende des Tunnels sieht sie nur noch verschwommen, als würden sich die Objekte hinter einem Milchglas befinden. Luisa träumt so, wie sie auch ihre Realität wahrnimmt, dadurch fühlt und hört sie auch in ihren Träumen. „Ich kenne meine Umwelt nicht anders und kann deshalb auch nicht anders träumen“, so Grube.

Sehend träumen, trotz Blindheit

Bloggerin Julia nimmt ihre Instagram-Follower*innen mit auf die Reise in die Blindheit. Im Jahre 2017 wurde ihr eine unheilbare Netzhauterkrankung diagnostiziert. Heute gilt sie mit 26 Jahren gesetzlich als blind. Allerdings kann auch sie den verbleibenden Sehrest nutzen. Sie ist daher nicht geburtsblind und träumt auch heute noch meistens sehend. Obwohl sie im Laufe ihres Lebens erblindet ist, kann sie in ihren Träumen weiterhin alle Formen scharf wahrnehmen. Ab und an träumt Julia auch blind. In diesen Träumen hört sie dann sehr viel. Sinne wie das Riechen und Schmecken sind in ihren Träumen bisher noch nicht aufgetreten.

Ohne Blindenstock durch die Traumwelt

Jennifer Sonntag, Autorin, Journalistin und Kuratorin, setzt sich in und außerhalb der sozialen Medien für ein barrierefreies Leben ein. Mit dabei ihr Blindenführhund Paul. Auch sie erblindete aufgrund einer Netzhauterkrankung. Auf ihrem Blog „Blind verstehen“ nimmt sie ihre Leser*innen mit in ihre Traumwelt. „Mein Unterbewusstsein versetzt mich innerhalb meiner Traumwelten in den Zustand vor meiner Blindheit zurück“, so Sonntag. Somit bleibt ihr das Sehen zumindest im Traum ansatzweise erhalten.

Farben und Formen treten in den Hintergrund. Gedanken und Gespräche dominieren allmählich die Träume blinder und sehbehinderter Menschen. © Viktoria Boll

Wiederkehrende Traummotive

Jennifer Sonntag erzählt in ihrem Blogbeitrag, dass sie sich in ihren Träumen manchmal als „kleines Mädchen“ sieht, das „in der Schule“ sitzt. In einem anderen wiederkehrenden Traumbild sieht sie sich in „Modeboutiquen“. Sie kann die „Kleidungsstücke“ als Objekte wahrnehmen, die farbliche Zuordnung hingegen ist nicht mehr möglich. „Da das Sehzentrum des Gehirns nicht mehr regelmäßig für die Verwertung von Seheindrücken gebraucht wird, verblassen auch die visuellen Erinnerungen“, so Sonntag. Daher berichten Menschen, die erst sehr spät erblindet sind, dass sie in ihren Träumen beispielsweise nur noch schwarz-weiß sehen. Schwinden die visuellen Eindrücke in den Träumen, so treten neben den Sinneseindrücken Gespräche oder intensive Gedankengänge vermehrt in den Vordergrund.

„Der brennende Baum“

Traummotiv „Der brennende Baum“ von Jennifer Sonntag. © Jennifer Sonntag

Ein Traummotiv, das Jennifer Sonntag vor allem in der Zeit begleitete, in der sie Farben und Konturen zu verlieren begann, ist „Der brennende Baum“. Gemeinsam mit einem sehenden Partner visualisierte sie dieses wiederkehrende und wichtige Traummotiv. 
„Es hat etwas Zerstörerisches, da ich einen wichtigen Sinn verlor, aber inzwischen wächst da neues Grün, ein neuer Baum, vor meinem inneren Auge. Letztlich ist die Blindheit gar nicht zerstörerisch, nur die Angst davor war es. Also birgt das Bild auch den Neuanfang“.

Die Schilderungen der Träume dieser drei Frauen decken sicherlich nicht die gesamte Traumwelt von blinden und sehbehinderten Menschen ab. Dennoch zeigt dieser Einblick, wie spannend und vielfältig das blinde Träumen sein kann und welche neue Sinnessphären sich für Betroffene eröffnen, die sehenden Menschen meist verwehrt bleiben.

Titelbild: © Unsplash