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Sprechende Gegenstände und Tiere, nicht-existente physikalische Gesetzegrößer oder kleiner machende Tränke: Die Traumlandschaft in Walt Disneys Alice im Wunderland erfüllt alles, was man sich vielleicht als Kind beim Tagträumen vorgestellt hat. Das schillernd farbenfrohe Wunderland ist einladend und voller eigenartiger Kreaturen, welche die kleinen Zuschauer*innen durch den Film leiten und sie, ganz wie Alice, neugierig machen. Sieht man den Film als erwachsene Person nochmal, kann man sich jedoch durchaus fragen: So traumhaft, wie es scheint – ist Alice im Wunderland wirklich so wundervoll? 

Der Walt-Disney-Film Alice im Wunderland erschien 1951 und basiert auf Lewis Carrolls gleichnamigem Buch. Darin liest ein Mädchen seiner jüngeren Schwester Alice vor, diese langweilt sich jedoch. Trotz mehrerer Ermahnungen, dass sie doch zuhören solle, träumt Alice vor sich hin, bis sie ein weißes, sprechendes Kaninchen entdeckt. Dieses rennt eilig an ihr vorbei, ohne sie zu beachten. „Oh seht, oh seht, ich komme viel zu spät!“ Mit diesen Worten weckt das Kaninchen Alices Neugier, und kurzerhand folgt sie ihm in das Wunderland.  

Dort entdeckt sie unzählige kuriose Dinge: eine schwebende Grinsekatze, tanzende Teekannen sowie Flamingos, die als Crocket-Schläger dienen. Den Höhepunkt erreicht der Film, als die Herzkönigin durch die Streiche der Grinsekatze immer wütender wird und annimmt, dass es Alices Tun war. Sie ordnet Alices Enthauptung an, diese kann aber glücklicherweise entkommen. Doch aus dem Traum aufwachen kann sie nicht. Sie sieht sich selbst durch das Schlüsselloch der Tür, durch die sie ins Wunderland gelangt ist, schlafend liegen. Alice weiß nicht, wie sie wieder zurück in die reale Welt gelangen kann – sie entkommt dem Traum erst, als ihre Schwester sie aufweckt. 

Doch kein schöner Traum?

Als Kind dachte ich immer, dass Alice im Wunderland eine schöne Geschichte war. Sie war so herrlich schräg und sonderbar und hatte irgendwie ihren Charme. Der Film verbildlichte das Wunderland, ergänzte meine eigene Interpretation der Traumwelt, die ich mir zu der Geschichte vorgestellt hatte. Mich interessierte, ob ich den Kinderfilm nicht doch auch beängstigend finden würde. 

Obwohl ich im Kindesalter Alices Traum als aufregend empfand, habe ich nun für mich persönlich festgestellt: Anfangs scheint der Film noch wie ein Fiebertraum. Wie einer dieser Träume, die keinen Sinn machen. Solche, die so merkwürdig sind, dass man sich noch lange an sie erinnert. Doch nach und nach tauchen mehr Elemente eines Alptraumes auf, klug in die harmlose und farbenfrohe Traumlandschaft des Filmes eingebettet. Ein solches Beispiel ist die Teeparty des verrückten Hutmachers. Dort gibt es tanzende und bunte Teekannen, und die Gastgeber begrüßen Alice mit einem Lied, das sie anschließend mit einem Feuerwerk abschließen.  

Zum Leben erweckte Objekte

Die zum Monster gewordene Uhr

Die zum Monster gewordene Uhr. © Walt Disney

Der letzte Gast ist das weiße Kaninchen, dem der Hutmacher die Uhr abnimmt und behauptet, sie sei kaputt. Mit verschiedenen Lebensmitteln versucht er, zum Verdruss des Kaninchens, die Uhr zu reparieren. Damit macht er es jedoch nur schlimmer, und die Uhr wird schließlich zu einem Monster, das versucht die Gäste zu fressen. Als Kind ist die Szene lustig, der Hutmacher scheint gar nicht zu verstehen, dass er die Uhr zerstört. Er meint es schließlich gut, und das Monster kann auch gestoppt werden. Doch genau dieser Aspekt ist nun angsteinflößend für mich: Es ist die Furcht vor Objekten, die auf einmal zum Leben erwachen und versuchen, einen in irgendeiner Weise zu überwältigen. 

Das Walross und die Austern

Das Walross und die Austern. © Walt Disney

Aber was macht denn den Film noch so alptraumhaft? Eine weitere Szene ist die des Walrosses und des Zimmermannes, in der beide einen Strand entlanglaufen und schließlich auf Austern stoßen, die sehr vermenschlicht worden sind. Das Walross lockt die Kreaturen wie der Rattenfänger von Hameln aus ihren Schalen in ein vom Zimmermann gebautes Restaurant. Obwohl es nie explizit gezeigt wird, erhalten die Zuschauer*innen viele Hinweise darauf, dass das Walross die Austern auffrisst – darunter das Speisemenü, in dem nur Austerngerichte aufgelistet werden, sowie die leeren, sich türmenden Muschelschalen auf dem Tisch.  

Damals hatte ich diese Szene wohl nie richtig verstanden oder verarbeitet, doch im Nachhinein erschien sie mir sehr grausam. Es liegt wohl an der Vermenschlichung der Austern und der Tatsache, dass das Walross die Austern bei lebendigem Leib verschlingt, dass ich diese Szene als besonders alptraumhaft empfinde. 

Zwischen Traum und Alptraum

Zu Anfang des Films realisiert man zunächst nicht, dass es sich um einen Traum handelt. Der nahtlose Übergang von Alices Verfolgungsjagd nach dem weißen Kaninchen und ihrem Eintritt in das Wunderland als Flucht in die Außenwelt scheinen Teil der Realität zu sein. Jedenfalls bis die Zuschauer*innen die reale Alice unter dem Baum schlafen sehen und Traum-Alice es nicht schafft, die Tür zu ihr zu öffnen. Die Szene gleicht fast der lähmenden Schlafparalyse – Alice ist gefangen in dem Alptraum und kann nicht aufwachen, bis ihre Schwester sie weckt. Anders als bei einem Tagtraum, bei dem man noch bei Bewusstsein ist, wird am Ende des Films explizit darauf hingewiesen, dass sie die ganze Zeit geschlafen hatte und somit geträumt hat. Das Filmende offenbart, dass das Wunderland offensichtlich nur ein Produkt von Alices Traum war.  

Grinsekatze aus Alice im Wunderland

Grinsekatze aus dem Wunderland. © pixabay

Die Kreaturen, denen Alice begegnet, sind merkwürdig und scheinen keinen Sinn zu ergeben – auch die Grinsekatze, die in Rätseln spricht und keine eindeutigen Antworten gibt, verkündet, dass alle Dinge und Personen im Wunderland verrückt sind. Doch zunächst scheint keine der Kreaturen, obwohl nicht sehr glaubwürdig, eindeutig bösartig zu sein. Alices Traum wird immer merkwürdiger und erreicht den Höhepunkt, als sie die Herzkönigin kennenlernt. Diese ist sehr launisch und unbesonnen, lässt viele der Kreaturen köpfen, wenn diese nicht nach ihrer Nase tanzen. Alices Enthauptung wird angeordnet, nachdem die Grinsekatze der Königin einen Streich spielt und Alice dafür verantwortlich gemacht wird.  

Die Flucht vor dem Alptraum

Anders als in meiner Kindheit erweckte die Sequenz ihrer Flucht Panik in mir. Vor allem dann, wenn Alice die Tür nicht öffnen kann. Obwohl es nicht mein eigener Traum ist, kommt es mir so vor, als würde ich in Alices Schuhen stecken. Die Meute, die durch den Gang zur Tür immer näherkommt und dann anschließend den gesamten Bildschirm einnimmt, in Kombination mit der unheilvollen Musik und Alices dringenden Bitten an sich selbst, wieder aufzuwachen: Durch all das bin ich in den letzten Minuten sehr angespannt, nicht wissend, ob Alice doch noch exekutiert wird, wenn die Herzkönigin sie wieder in die Finger bekommt. Wie in einem Alptraum, in dem es um Leben oder Tod geht, hofft man, dass man es lebendig herausschafft.  

Nachdem ich den Film ein zweites Mal angeschaut und mir Gedanken darüber gemacht hatte, wunderte ich mich: Kann man dies alles wirklich als einen einfachen, merkwürdigen Traum auffassen? Für mich persönlich gleicht Alice im Wunderland, obwohl es auch Elemente eines schönen Traumes beinhaltet, eher einem skurrilen Alptraum. Als Kind fasst man die Dinge nicht so auf, wie man es als erwachsene Person tut – Dinge, die nur angedeutet werden, versteht man nun besser. Alices Traum ist einer, in dem wundersame Dinge passieren, denen man nicht so leicht entkommen kann, immer mit dem Gedanken, dass man auch mit hineingezogen werden könnte. Und das ist es, was ihn für mich zu einem Alptraum macht. 

 

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