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(@unslpash)

Tagträume sind verpönt. Abschweifen tut man besser heimlich, still und leise. Sollten wir aber nicht, findet zumindest unser Autor. Warum wir unseren Tagträumen guten Gewissens eine Chance geben dürfen.  

35,3 Milliarden Dollar. Stell dir vor, du verfügst bereits mit 38 Jahren über so viel Geld. Du hast nach deinem Studium 15 Jahre gearbeitet, blickst auf einige berufliche Erfolge zurück. Und doch hast du nun beschlossen, dass du dieses Leben erstmal hinter dir lassen möchtest. Was nun? Nimm dir ein wenig Zeit und lass deine Gedanken schweifen. An was denkst du? Würdest du mit dem Geld reisen, dir ein tolles Haus kaufen, es spenden oder möglichst gewinnbringend anlegen? Vielleicht bist du froh, dass du diese Frage nicht beantworten musst. Mit großer Sicherheit aber schweifen deine Gedanken bei solchen Summen ab. Du beginnst zu träumen, verlierst dich im sogenannten Tagtraum. Das möchte übrigens auch der junge Mann tun, der diese 35,3 Milliarden Dollar laut der US-Zeitschrift Forbes auf seinem Konto hat. Yiming Zhang, ein chinesischer IT-Unternehmer, der unter anderem die Plattform TikTok gründete. Mit noch nicht einmal 40 Jahren gehört er zu den reichsten Männern seines Landes. Sein Unternehmen Byte Dance zählt mittlerweile etwa 100.000 Mitarbeiter*innen. Zeit aufzuhören. Oder zumindest kürzer zu treten. Nach eigener Aussage möchte Zhang wieder mehr Zeit ins Tagträumen investieren.

Freud würde schmunzeln

Wie kann sich ein so erfolgreicher Geschäftsmann nun dem Rumphantasieren verschreiben? Ein zufriedener Mensch würde das nicht tun. Womöglich könnte Sigmund Freud so über Zhang urteilen. Der wohl bekannteste Traumforscher sah Tagträume als Korrekturen einer unbefriedigenden Wirklichkeit, als unerfüllte Erfolgsphantasien, für die insbesondere jüngere Menschen anfällig seien. Ein wunschlos glücklicher Mensch, so Freud in seinem Aufsatz Der Dichter und das Phantasieren, brauche sich keinen Tagträumen hinzugeben.

Macht Tagträumen unglücklich?

Über diese Frage wird in zahlreichen Online-Foren eifrig diskutiert. Wenn man sich dieser Kontroverse wissenschaftlich nähert, landet man schnell bei dem Begriff des ‚maladaptiven‘ Tagträumens. Darunter verstehen etwa die israelischen Forscher*innen Nirit Soffer-Dudek und Eli Somer stundenlanges, fantasievolles Tagträumen, was mit dem Vernachlässigen realer Beziehungen und Verantwortlichkeiten einhergeht und zu funktioneller Beeinträchtigung führt. Ihre Studie Trapped in a Daydream sollte im Jahre 2018 Aufschluss darüber geben, welche Menschen für exzessives Tagträumen besonders anfällig sind. Es zeigte sich, dass zwei Drittel der Proband*innen bereits in psychotherapeutischer Behandlung waren und etwa die Hälfte dieser Menschen keine Arbeit hatte. Darüber hinaus war das Phänomen häufig mit anderen, psychopathologischen Krankheitsbildern verknüpft. Maladaptives Tagträumen, das bestätigt diese Studie, ist die Ausnahme. Und doch legen auch Erkenntnisse der Konsumforschung nahe, dass Tagträumen nicht immer ein guter Ratgeber ist. Der Soziologie Mark Lutter untersuchte den Zusammenhang von Tagträumen und Konsum am Beispiel von Lotterien. Seine Befragungsstudie zeigte, dass Spieler*innen, die intensiv in Form von Tagträumen über den scheinbar so greifbaren Lottogewinn nachdenken, häufiger und mit höherem Einsatz Lotto spielen. Warum dann also bewusst Tagträumen und eins werden mit den Glücksspiel-Romantiker*innen?

Mit Tagträumen schneller ans Ziel

Ob Albert Einstein, Woody Allen oder J. K. Rowling wohl auch Lotto gespielt haben? Diese Persönlichkeiten sind nämlich allesamt bekennende Tagträumer*innen. Und bei einem Blick auf deren Lebensläufe liegt die Vermutung nahe, dass aus bewussten Tagträumen geniale Ideen erwachsen können. Etwa 70 Jahre nach Freud setzte der amerikanische Psychologe Jerome L. Singer neue Schwerpunkte. So ist in seinem Buch The inner world of daydreaming zu lesen:

„Daydreaming is perhaps best viewed simply as a kind of capacity or skill in us that is part of our overall repertory of behaviors.“

Tagträumen als Fähigkeit. Diese modernere Sicht auf das gedankliche Umherschweifen wurde in zahlreichen Studien bekräftigt. So zeigt beispielsweise eine Arbeit unter der Leitung von Christine Godwin vom Georgia Institute of Technology, dass Tagträumer*innen ihren gedanklichen Fokus besser steuern können. Zahlreiche Tests im Rahmen ihrer Studie zeigten, dass bei Proband*innen, die zum Tagträumen neigen, Gehirnareale besser miteinander vernetzt sind. Dies wirkte sich wiederum positiv auf gemessene Intelligenz und Kreativität aus. Und mehr noch: Tagträumer*innen kommen schneller ans Ziel. Zumindest behalten sie ihre Wünsche für die Zukunft besser im Blick, wie eine Arbeit des Max-Planck-Instituts in Leipzig offenbart.

Tagträumen als Therapie

Ein Blick über die Berge ins schweizerische Will im Kanton Sankt Gallen zeigt, dass Tagträumen auch eine heilende Wirkung entfalten kann. Bis zum Sommer diesen Jahres gibt es dort im städtischen Museum unter dem Titel Durch die Linse Werke von Künstler*innen des Living Museum zu sehen. Im Living Museum arbeiten Menschen während oder nach ihres Aufenthalts in einer der psychiatrischen Einrichtungen des Kantons. Durch ein einzigartiges Konzept aus Kunst und Kreativität erfahren Patient*innen wichtige Impulse für ihre Regeneration.

Die aktuelle Ausstellung möchte zeigen, wie es den Künstler*innen gelingt, während des Pandemiealltags dem Alltag zu entfliehen. Einmal mehr lautet die Antwort: Tagträumen. Da existieren nämlich „weder Regeln noch Grenzen. Die Gedanken sind nicht nur frei, sie können auch befreien“, gibt Museumsleiterin Rose Ehmann anlässlich der Vernissage dem schweizerischen Tagblatt zu Protokoll. Und diese Befreiung schlägt sich sowohl in knallig-bunten Gemälden wie auch in bisweilen eher düsteren Fotografien nieder. Das interaktive Kunstobjekt „Auf Träumen gebettet“ lädt die Besucher*innen der Ausstellung darüber hinaus dazu ein, ihre Träume auf Notizzetteln festzuhalten und sie auf ein weißes Bettgestell zu kleben. Bereits nach den ersten Wochen der Ausstellung ist dieses Objekt mit Zetteln übersät. Sie haben sich mittlerweile auch rund um das Bett angehäuft. Gewiss kein großer Aufwand.

Jetzt bist du dran!

Was würdest du auf einen solchen Zettel schreiben? Mit Sicherheit sind dir seit Beginn des Textes noch ein paar Tagträume in den Sinn gekommen. Für welchen Tagtraum würdest du dich entscheiden? Vielleicht hast du einen Zettel in greifbarer Nähe und schreibst diesen Traum einfach mal auf ein Blatt Papier. Fühlt es sich gut an, diese Phantasie nun schwarz auf weiß zu lesen? Wenn du noch unentschlossen bist, seien dir die Worte eines weiteren, bekennenden Tagträumers mitgegeben.

„Was man sich nicht vorstellen kann, kann man nicht tun“.

Und wer weiß, vielleicht hat dich bereits dieser Gedanke des Filmemachers George Lucas deinem Tagtraum ein kleines Stückchen näher gebracht.

 

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Wieso träumen wir? Wie kann ich meine Träume deuten? Und wie werden wir Alpträume los? Das und mehr verrät uns Traumforscher und Psychologe Michael Schredl im Interview. Er ist wissenschaftlicher Leiter des Schlaflabors am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim und forscht an Fragestellungen rund um das Thema Träume. Mit seinen eigenen Träumen setzt er sich seit über 30 Jahren auseinander.

Herr Schredl, können Sie beschreiben, wieso wir überhaupt träumen? Hat das Träumen eine bestimmte Funktion für den Körper?

Die Frage ist bis heute unbeantwortet. Was wir auf jeden Fall wissen ist, dass jeder Mensch jede Nacht träumt. Das Gehirn als biologische Maschine schläft nicht, es hat sogar relativ viele Aufgaben während des Schlafes. Da werden Informationen, die tagsüber aufgenommen worden sind, nochmal bearbeitet und verbessert abgespeichert. Diese Funktionen sind recht gut belegt. Allerdings ist es eben so, dass diese Funktionen auf neuronaler Ebene funktionieren. Das heißt, da ist die Frage: Muss man dazu träumen?

Es gibt inzwischen auch viele Traumforscher, die sagen, es macht schon Sinn, dass wir gerade die Sachen, die uns tagsüber beschäftigen, auch in den Träumen nochmal verarbeiten. Es ist interessanterweise auch so, dass Träume sich häufig mit sozialen Themen beschäftigen, mit sozialer Interaktion. Und dann gibt es die Idee, dass das Träumen zum Üben da ist. Dass man besser mit anderen Leuten zurechtkommt, weil das ja auch evolutionär wichtig ist, um einen Partner zu finden, sich fortzupflanzen oder sozial in einer Gruppe integriert zu sein. Es gibt eben viele Theorien, aber man weiß nicht, ob es tatsächlich stimmt, weil es eben niemanden gibt, der nicht träumt. Man kann nicht vergleichen, wie es wäre, wenn man nicht träumen würde, weil alle Menschen träumen.

Sie sind Traumforscher. Bei der Recherche zum Thema hatte ich nicht den Eindruck, dass es viele Kolleg*innen gibt, die denselben Beruf wie Sie ausüben, oder?

Michael Schredl ist Traumforscher und bietet am ZI Mannheim eine Alptraum-Sprechstunde an. © ZI Mannheim

Ja, da haben Sie recht. Wir sind eine relativ kleine Gruppe. Träume sind ja definiert als subjektives Erleben während des Schlafes – somit hat die Traumforschung auch eine starke Verbindung zur Neurowissenschaft. Wobei man schon unterscheiden muss, dass die Neurowissenschaft eher den Schlaf und die Gehirnfunktionen untersucht. Das Träumen selbst, das subjektive Erleben, ist die Domäne der Psychologen.

Was hat Sie persönlich am Thema Träumen so fasziniert, dass Sie sich für den Beruf als Traumforscher entschieden haben?

Es liegt natürlich bei mir schon lange zurück, dass ich angefangen habe, mich für psychologische Themen zu interessieren. Ich habe dann ein Traumbuch gekauft, neben das Bett gelegt und angefangen, Träume aufzuschreiben. Was mich da immer fasziniert hat war, dass Träume so kreativ sind. Es sind immer sehr interessante Geschichten gewesen am Anfang, also Abenteuergeschichten zum Beispiel, und das hat mir damals schon Spaß gemacht. Das war ein Grund, wieso ich regelmäßig Träume aufschreibe, schon seit 30 Jahren, und mich eben auch vermehrt für das Thema interessiert habe.

„Träume sind kreative Darstellungen von Themen, die einen tagsüber beschäftigen.“

Es gibt ja auch verschiedene Vorgehensweisen, um Träume zu deuten. Man kann zum Beispiel Symbole nachschlagen, die dann bestimmte Bedeutungen hätten. Wie denken Sie über diese Art von Traumdeutung?

Die Traumdeutung, gerade Symboldeutung, hat ja schon eine lange Tradition. Aus meiner Sicht ist das aber wenig hilfreich, weil die Träume so kreativ sind, dass jeder Träumer und jede Träumerin eigene Umsetzungen von Dingen hat, die ihn oder sie tagsüber beschäftigen. Träume sind kreative Darstellungen von Themen, die einen tagsüber beschäftigen. Kreativ heißt für mich, dass es eben nicht so ist, dass eine schwarze Katze eine feste Bedeutung hat. Sondern dass jede Person ihre eigenen Symbole, ihre eigene Art hat, etwas darzustellen.

Ich mache mal ein Beispiel. Sie haben einen Verfolgungstraum, ein riesiges Monster taucht vor Ihnen auf. Nun kann man sich überlegen: Wieso habe ich von einem Monster geträumt? Aber wenn man schaut, was in dem Traum passiert ist, nämlich dass man Angst hatte und weggelaufen ist, wird es von Psychologen als Vermeidungsverhalten bezeichnet. Das heißt, der Traum hat eine kreative, dramatisierte Form von Vermeidungsverhalten beschrieben. Die Idee dahinter ist, dass der Traum ein Thema aufgreift, möglicherweise eine unangenehme Aufgabe oder ein Gespräch, die im Wachzustand vermieden wurden, und der Traum das plastisch macht.

Viele Menschen kennen auch Alpträume. Woher kommen solche negativen Träume?

Alpträume werden definiert als Träume mit so starkem negativem Affekt, dass dieser zum Erwachen führen kann. Meistens ist es Angst, es kann aber auch Wut, Ekel oder Trauer sein. Es gibt tatsächlich Personen, die eine Veranlagung dazu haben. Wir sind gerade dabei zu schauen, ob es auch mit Hochsensibilität zu tun hat. Wir vermuten, dass es einfach Menschen gibt, die sensibler, kreativer und empathischer sind und leichter an Alpträumen leiden. Der zweite Punkt ist dann der aktuelle Stress.

„Je mehr man Angst vor der Angst hat, desto größer wird sie.“

Gibt es wirklich Mittel, um die Alpträume komplett verschwinden zu lassen?

Jede Person hat im Traum ihre eigene Art und eigene Symbole, um Dinge darzustellen, erzählt Traumforscher Michael Schredl. © Unsplash

Tatsächlich gibt es eine sehr einfache und sehr wirkungsvolle Therapieform, die man sogar selbständig anwenden kann. Im englischen Sprachraum wird sie als Imagery Rehearsal Therapy bezeichnet, also eine Vorstellungsübungs-Therapie. Bei Ängsten ist es so: Je mehr man Angst vor der Angst hat, desto größer wird sie. Bei den Alpträumen ist das gleiche Prinzip wirksam. Nur ist es bei Alpträumen sogar noch einfacher, weil man sich einfach während des Tages vorstellt, wieder in der Alptraumsituation zu sein und sich dann vorstellt, was man anders machen würde. So kann man sich etwa möglichst plastisch ausmalen, sich umzudrehen anstatt wegzulaufen und vielleicht noch Helfer im Hintergrund zu haben. Und dann das Monster zu konfrontieren und aktiv die Situation zu bewältigen, anstatt durch das Aufwachen aus der Situation herauszugehen.

Bei der Therapie wird die Vorstellung über zwei Wochen tagsüber für fünf Minuten wiederholt und geübt. Das wirkt sich auf die Träume aus. Interessanterweise nicht nur auf die Träume, die man geübt hat, sondern auch auf andere Träume, weil man die Einstellung lernt: Wenn ich im Traum Angst habe, überlege ich, was ich tun kann. Und das ist tatsächlich ganz wirksam, die Therapie hilft ungefähr bei 70 Prozent der betroffenen Menschen.

 

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