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Tübingen, die schöne Kleinstadt im Herzen Baden-Württembergs, begeistert viele Besucher*innen und Bewohner*innen mit ihrer historischen Altstadt, dem hochgelegenen Schloss und zahlreichen Universitätsgebäuden. Doch auch im idyllisch und friedlich scheinenden Städtchen verbergen sich geisterhafte Geschichten, die dank des Stadtführers Oliver Rödiger nicht in Vergessenheit geraten.

In der Bursagasse, am Alten Waschhaus, treffen meine Kommiliton*innen und ich Oliver Rödiger alias Oli Kahn, den wohl bekanntesten Stadtführer und Stocherkahnfahrer Tübingens. Er ist der Einzige, der neben den normalen Stadtführungen auch Nachtwächter- und Geisterführungen anbietet. Nicht nur deshalb fällt er in Tübingen besonders auf: „Der Oli Kahn, das ist der, der mit dem Hawaiihemd rumläuft, oder der Verrückte, der in der Nacht als Nachtwächter verkleidet rumrennt. So wird man dann natürlich irgendwann zur Marke,“ sagt er stolz.

Der geniale Geist des Hölderlin und der Spuk im „Aquarius Haus“

Mit seinem bunten Hawaiihemd nimmt er uns an einem milden Sommerabend in Empfang. Was eher den Eindruck erweckt, gleich einen Ausflug an einen Strand zu machen und Cocktails zu trinken, ist in Wirklichkeit der Beginn einer Geisterführung. Wir sind gespannt, wo es in Tübingen spukt, und folgen dem riesigen Mann mit seiner lauten Stimme und dem schwäbischen Dialekt zum Denkmal für Lotte Zimmer. Sie soll den weltbekannten Dichter Friedrich Hölderlin in seinen letzten Lebensjahren bis zu seinem Tode im Jahr 1843 gepflegt haben. Das Denkmal sieht aus wie ein längliches Gefäß mit einer Antenne, die gen Himmel gerichtet ist. Sie zapfe die kosmische Energie an und stelle so auch eine Verbindung zu Hölderlin her. Oliver Rödiger, der seit 1988 in Tübingen lebt und von Anfang an die magische Atmosphäre der Stadt spürt, sagt überzeugt: „Wenn ich in der Nähe von diesem Denkmal bin, dann durchläuft mich ein Schauer, weil ich merke, dass dieser geniale Geist des Hölderlin immer noch da ist.“

Geisterführer Oliver Rödiger und im Hintergrund das mit Efeu überwachsene „Aquarius Haus“. Foto: Stephanie Constantin.  

In der Gasse namens Klosterberg, nicht weit vom Denkmal entfernt, bekommen wir die nächste Geistergeschichte erzählt. Gleich auf der rechten Seite befindet sich ein mit Efeu bewachsenes Haus, das von der letzten Eigentümerin „Aquarius Haus“ getauft wurde. Hier soll ein Professor gewohnt und einen Geist in seinem Haus vermutet haben, weil seine Lebensmittel immer wieder auf unerklärliche Weise verschwanden. Nach einigen Jahren fand man die Leiche eines ehemaligen Studenten in seinem Schrank. Dieser wurde von dem Professor aus dem Studium geschmissen, da er es nicht ernst genug genommen hatte. Der Student versteckte sich daraufhin in dessen Schrank und kam nur in der Nacht oder wenn der Professor nicht zu Hause war heraus, um sich etwas zu Essen zu holen. Er hatte eine solche Angst vor der Reaktion seiner Familie, dass er lieber den Rest seines Lebens im Schrank des Professors verbrachte.

Ob der Geist des Studenten noch immer dort herumspukt? „In dem Haus gibt es immer noch seltsame Töne. Die ursprüngliche Eigentümerin hat mir das so berichtet“, erzählt Rödiger. Er selbst glaubt an Dinge, die nicht erklärt werden können, und daran, dass es mehr gibt, als viele Menschen tatsächlich wahrnehmen: „Ich habe schon eine Nahtoterfahrung gemacht, als ich klinisch tot war. Meine Seele war außerhalb des Körpers, und dadurch konnte ich mich auf dem OP-Tisch liegen sehen. Ich habe also eine außerkörperliche Erfahrung gemacht und glaube daran, dass es eine Seele gibt“, sagt er mit ernstem Blick. 

Kreuzritter im Nebel und das Schlossgespenst

In der selben Gasse befindet sich das Evangelische Stift. Vor dem verschlossenen Tor versammeln wir uns im Halbkreis und lauschen der nächsten Geschichte. Es wurde 1536 von Herzog Ulrich von Württemberg gegründet. Auch heute noch erhalten Studierende der Theologie Stipendien in Form einer Wohnmöglichkeit. Von hier aus sind früher die Ritter zu den heiligen Kreuzzügen aufgebrochen. Diese sind auch heute noch spürbar, meint unser Stadtführer: „Wenn es richtig düster ist und Nebelschwaden aufziehen, sieht es manchmal so aus, als ob die Kreuzritter auf ihren Pferden entlangreiten, und das ist dann wirklich etwas, das durch die Gassen schleicht.“ Mittlerweile ist es schon fast dunkel und der Himmel wird von dichten Wolken bedeckt. Ich bin froh, dass nicht auch noch Nebel aufkommt…

Vor dem Evangelischen Stift. Foto: Stephanie Constantin

Gemeinsam begeben wir uns zum Johannisbrotbaum, der sich oberhalb des Evangelischen Stifts befindet. Dann ziehen wir durch die schmalste Gasse Tübingens bis zum Schloss Hohentübingen, in dem das Schlossgespenst bereits die Franzosen verjagt haben soll, die versuchten, das Schloss zu besetzen. Auch eine Jugendherberge konnte sich dort nicht lange halten, „weil unser Schlossgespenst da wohnt und die Kinder keinen ruhigen Schlaf gefunden haben“, klärt Rödiger auf.

„Hier kotzte Goethe“

„Hier kotzte Goethe“- Tafel in der Münzgasse. Foto: Stephanie Constantin

Schließlich folgen wir ihm auf den Marktplatz. Hier erfahren wir mehr über das Rathaus, das Brotfenster und den Neptunbrunnen. Unsere letzte Station der etwa zweistündigen Geisterführung befindet sich an einem Studentenwohnheim in der Münzgasse, an dem eine Tafel mit der Aufschrift „Hier kotzte Goethe“ angebracht ist. Dieser hat im September 1797 seinen Verleger Johann Friedrich Cotta für ein paar Tage besucht, und „Goethe hat tatsächlich in das Eck da hinten gekotzt, weil er zu viel von dem Tübinger Wein getrunken hat,“ sagt Rödiger lachend. Was das nun mit Geistern zu tun hat, frage ich mich und bekomme schon bald eine Antwort von unserem Stadtführer: „Die Leute, die da wohnen, haben öfter mal festgestellt, dass sich wieder hat einer übergeben müssen. Das passiert dort ungewöhnlich häufig. Der Geist von Goethe ist halt auch noch irgendwo in Tübingen.“

Kaum ist die Führung zu Ende, fängt es an zu regnen. Oliver Rödiger ist davon überzeugt, dass wir dank seiner besonderen Fähigkeit, das Wetter zu beeinflussen, einem starken Regenschauer entkommen sind. „Ich mache das Wetter hier in Tübingen. Ich habe indianische Vorfahren, weil mein Ururururgroßvater nach Amerika ausgewandert ist und die Tochter eines Medizinmannes geheiratet hat. Aber ich tanze nicht für Regen, sondern singe für Sonne“, sagt er bestimmt. Auch für seine Gäste auf dem Stocherkahn singt Rödiger des Öfteren. Ein vielseitiger Mann also. Es wundert nicht, dass er vor vier Jahren begann, Geisterführungen in Tübingen anzubieten. Diese gestaltet er humorvoll und mit viel Freude. Auf die Idee kam er durch Gespräche mit Einwohner*innen Tübingens. „Da erfährst du Geschichten, auf die du sonst nicht kommst“, meint er. Und auch durch gründliche Recherche in alten Zeitschriften, Büchern und Zeitungen, die unter anderem im Stadtarchiv zu finden sind, kommt er zu seinen Geistergeschichten. Es ist ihm jedoch wichtig, dass die Menschen bei der Geisterführung auch etwas über Tübingen erfahren, und das gelingt ihm durchaus. Sogar ich als eingesessene Tübingerin konnte neben den Geistergeschichten auch etwas „Greifbares“ über die Stadt erfahren.