Für die einen sind sie nur Fabelwesen und Hirngespinste, andere glauben fest an ihre Existenz: Gespenster, Geister und Erscheinungen prägen seit Menschengedenken unsere Kultur. Doch wie lassen sie sich unterscheiden und worin liegen ihre Gemeinsamkeiten? Ein Blick in die Welt einer nebulösen Wissenschaft.
Schlagende Fenster, ein Rumpeln im Nebenraum oder Schritte auf der Treppe ‒ die Mehrzahl solcher Vorkommnisse lässt sich rational erklären. Manchen wird aber ein übernatürlicher Ursprung nachgesagt, gerade wenn der oder die Betroffene zum Aberglauben neigt. Gespenster, Geister oder Erscheinungen sind die Begriffe, die in diesem Zusammenhang dann fallen. Dabei werden sie häufig als Synonyme verwendet. Was den Anschein erweckt, identisch zu sein, ist in Wahrheit deutlich komplexer. Denn der Kosmos der Geister und Gespenster ist uralt und in zahlreichen Kulturen verwurzelt.
Germanische Urahnen
Im deutschen Sprachraum lässt sich das Wort „Geist“ auf einige germanische Begriffe zurückführen. Zum Beispiel bedeutet „gheis“ laut Gerhard Köblers „Indogermanischem Wörterbuch“ so viel wie „schaudern“ oder „erschrecken“. Das westgermanische „gaista“ stehe wiederum für „überirdisches Wesen“. Damit zielt die Bedeutung von „Geist“ auf das Aussehen des beschriebenen Körpers ab. Im Gegensatz dazu zeigt „Gespenst“ laut dem Grimm’schen Wörterbuch eine Verwandtschaft mit Wörtern wie „Verführung“ oder „Täuschung“. Der Begriff lasse sich auf das mittelhochdeutsche „gespanst“, was „Trugbild“ bedeute und das althochdeutsche „gispensti“ („Verlockung“) zurückführen. Dennoch ist eine exakte Trennung zwischen Gespenstern und Geistern nicht immer zweifelsfrei möglich. Daher wird in der Fachliteratur meist von sogenannten Erscheinungen gesprochen. Gerhard Mayer vom Freiburger Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene definiert Erscheinungen wie folgt:
„Eine Erscheinung gleicht […] einer Person, einem Tier oder einem unbelebten Objekt, wobei der entsprechende Gegenstand […] physikalisch nicht präsent ist und physikalische Mittel der Kommunikation ausgeschlossen werden können.“
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts trieb die Society for Psychical Research (SPR) in Großbritannien die Forschung zu Erscheinungen voran. Schließlich gelang einer Gruppe um den englischen Philosophen Henry Sidgwick die Erfassung historischer Berichte über Begegnungen mit Erscheinungen. Sidgwick, der SPR-Mitbegründer und erste Präsident des Vereins, veröffentlichte die Sammlung im Jahr 1894 unter dem Titel „Census of Hallucinations“. Seitdem führt der Verein diese Arbeit fort ‒ auch nach Sidgwicks Tod.
Die Mitglieder der Gespensterfamilie
Ein anderes Projekt der SPR war die Analyse paranormaler Geschehnisse und die Typologisierung von Erscheinungen. Dies gelang dem SPR-Mitglied George Nugent Merle Tyrrell. Der britische Mathematiker und Physiker identifizierte in seinem 1942 erschienenen Werk „Apparitions“ vier Hauptkategorien:
- experimentelle Fälle,
- Krisen-Erscheinungen,
- Post-mortem-Fälle,
- ortsgebundene Erscheinungen.
Auf Deutsch erschien Tyrrells Text im Jahr 1979 unter dem Titel „Erscheinungen und Visionen im PSI-Feld“. Die jüngere Forschung fügte den Kategorien Tyrrells eine fünfte Gruppe hinzu, die Erscheinung von lebenden Personen.
Absicht oder Zufall?
Führen eine oder mehrere Personen willentlich eine Erscheinung herbei, spricht man nach Tyrrell von experimentellen Fällen. Dies schließe auch esoterische, schamanische oder okkulte Rituale mit ein. Die Gemeinsamkeit dieser Kategorie besteht laut Tyrrell im experimentellen Charakter und der Absicht der Teilnehmer*innen, eine Erscheinungserfahrung zu machen. Diese recht breite, wenig homogene Kategorie trifft somit keine Aussage über die Art der Erscheinung. Einen solchen Fall beschrieb Tyrrell wie folgt: Ein Mann versuchte, sich mittels seiner Vorstellungskraft in ein Haus zu projizieren. Währendessen befanden sich Bekannte im Haus und wussten nichts vom Versuch des Mannes. Die Bekannten sahen den Mann angeblich am selben Abend in dem Haus ‒ das Experiment glückte. Der Mann erlebte das Experiment nach eigener Aussage als sehr intensiv.
Bei dieser Kategorie kann es jedoch eine Überschneidung mit der Gruppe der Erscheinungen von lebenden Personen geben. Schließlich ist die erscheinende Person in beiden Fällen noch am Leben, dennoch lassen sich die beiden Gruppen unterscheiden. Demnach geschehen Erscheinungen von lebenden Personen gegen deren Willen oder auch ohne ihr Wissen, im Gegensatz zu den experimentellen Fällen. Zudem befinden sich die Erscheinung und die zugehörige Person bei den experimentellen Fällen meist nicht am selben Ort.
Der eintretende Tod als Indikator für Erscheinungen
Präziser gefasst ist hingegen die Gruppe der Krisen-Erscheinungen. Dabei erscheint eine Person, die gerade eine existenzielle Krise durchlebt. Die Ursache kann laut Tyrrell ein traumatisches Erlebnis, eine schwere Krankheit oder auch der eintretende Tod sein. Dieser ist bei sogenannten Post-mortem-Fällen schon seit längerer Zeit eingetreten. Hier handle es sich um die Erscheinung einer meist seit Jahren verstorbenen Person. Sie könne dem*r Betrachter*in vertraut oder auch völlig unbekannt sein. Eine solche Begegnung ist verstörend und beängstigend, so Tyrrell.
Ortsgebundene Erscheinungen stellen zwar eine eigene Gruppe dar, können aber dennoch in Kombination mit einer anderen Kategorie auftreten. Nach Tyrrell trägt eine solche Erscheinung häufig historische Kleidung und taucht mehrfach an einem festen, teils historisch bedeutenden Ort auf. Zudem werde sie meist von mehreren Personen in gewissen zeitlichen Abständen gesehen. Um solche Erscheinungen ranken sich diverse Mythen und Legenden, die ihren Weg in die Literatur fanden.
Abgesehen von Tyrrells Kategorien gehören noch einige weniger anerkannte Gruppen zur Gespensterfamilie. Demnach zählen beispielsweise zur weitläufigeren Verwandtschaft der Erscheinungen auch Dämonen und Engel. Dämonen gelten im Allgemeinen als böse Geister und bilden somit ein Pendant zu den Engeln. Darüber hinaus gibt es noch die Gattung der Elementare oder Naturgeister. Diese Erscheinungen werden den vier Elementen zugeordnet und spielten in der Kultur der German*innen eine große Rolle.