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Der Kamerasucher ist im Laufe der Jahre durch den Einzug digitaler Displays immer weiter in Vergessenheit geraten. Dabei beeinflusst dieses „kleine Fenster“ entscheidend die Art und Weise, wie wir fotografieren. Doch was genau macht der Wechsel in die analoge Welt mit uns? Ich habe den Selbstversuch gewagt und mit zwei unterschiedlichen Kameras Tübingen erkundet.

Am Anfang meines Selbstversuchs stand ich vor der schwierigen Entscheidung, die „richtige“ Kamera auszuwählen. Denn die Fotografie blickt bereits auf eine weitreichende Geschichte zurück. Um einen möglichst differenzierten Vergleich zwischen der analogen und digitalen Welt zu erhalten, wollte ich eine Kamera aus den Anfängen der Fotografie benutzen. Doch wie sahen Kameras früher eigentlich aus? Sollte ich eine Camera Obscura nehmen, wie sie bei der Geburtsstunde der Fotografie am 19. August 1839 in Paris vorgestellt worden war? Oder eine Plattenkamera, deren Besonderheit es ist zum Fotografieren eine Fotoplatte aus Glas als Trägermaterial der lichtempfindlichen Schicht zu nutzen? Allerdings war bei diesen Kameras nicht nur das Gewicht störend, sondern auch die Handhabung. Erst mit der Erfindung des Rollfilms 1889 folgte eine Erleichterung, da nicht für jedes Bild eine neue Platte in die Kamera eingelegt werden musste.

Vom Suchen und Finden der richtigen Kamera

Viele Kameras der damaligen Zeit sind heute nur noch als Dekorationsobjekte zu gebrauchen. Meistens fehlen Ersatzteile, es gibt keine Filmrollen mehr oder die Linse ist mit der Zeit blind geworden. Da ich nach einer umfassenden Internet-Recherche und etlichen YouTube-Videos nicht wirklich schlauer wurde, führte mich mein Weg zum Fotogeschäft „Foto Walter“ in Tübingen. Schon vor meiner Recherche zu diesem Blog-Artikel hatte ich immer wieder ein Auge auf die nostalgischen Kameras in deren Schaufenster geworfen. Deswegen hoffte ich, dass mir dort bei der Auswahl der richtigen Kamera besser geholfen werden kann.

Dort wurde mir schnell klar, dass sich eine Foto-Tour durch Tübingen z.B. mit einer Plattenkamera als eine der ältesten Kameras nicht wirklich anbieten würde. Denn neben dem erheblichen Gewicht und dem damit verbundenen schwierigen Transport hätte ich auch Probleme mit der Belichtung und der späteren Entwicklung der Glasplatte bekommen. An diesem Punkt sah ich meinen Selbstversuch schon scheitern, da ich das Gefühl hatte, keinen realistischen Eindruck der früheren Fotografie zu bekommen, wenn ich nicht die „älteste“ Kamera dafür nutzen kann. Vor meinem inneren Auge zog sich ein riesiger Vorhang vor das Fenster, aus dem ich mich schon durch Tübingen, mit einer Plattenkamera habe, laufen sehen. Aber es sollte doch alles anders kommen als zunächst gedacht…

Fenster auf für die „HAPO 10 6×9“

Ich musste mich innerlich von meinem Selbstversuch mit der Plattenkamera verabschieden. Allerdings war diese Kamera-Art glücklicherweise nicht die einzige Kamera aus der damaligen Zeit mit einem analogen Sucher. Für meinen Selbstversuch – einen Stadtrundgang durch Tübingen und dabei verschiedene Motive fotografieren – wurde mir von einem Mitarbeiter des Fotogeschäfts die „HAPO 10 6×9“ empfohlen – eine Zweibild-Rollfilm-Kamera aus dem Jahre 1934. Das Besondere dieser Kamera ist die Zweiformat-Ausrichtung. Es können wahlweise auf dem Rollfilm entweder 8 Bilder 6×9 oder 16 Bilder im Format 4,5×6 aufgenommen werden. Zudem muss man durch den Sucher „von oben“ hineinschauen, um das gewünschte Motiv zu sehen und die Kamera entsprechend auszurichten. Dies fand ich für meinen Selbstversuch direkt spannend.

Denn durch einen Blick von oben nach unten kann sich auch viel an der Wahrnehmung der Realität ändern. Zeitgenössische Kameras zeigen uns im Display selbst das Bild, während wir es machen. Wir haben auch den direkten Vergleich, wir können beides wahrnehmen. Bei älteren Kameras müssen wir erst in einen Apparat blicken, um das „Bild“ zu sehen. Manchmal sogar noch um die Ecke und dann noch nicht mal das Bild, sondern eben nur die „Vorschau“ durch den Sucher. Zudem ist die Rollfilm-Kamera um einiges leichter als eine Plattenkamera und eignet sich für Außenaufnahmen so am besten. Aus diesem Grund entschied ich mich für diese Kamera mit Blick durch das Fenster von oben und einer Filmrolle im Format 6×9.

Die Rollfilm-Kamera „HAPO 10 6×9“, die für den Selbstversuch verwendet wurde.

Back to the Roots – in eine spiegelverkehrte Realität

Bevor ich mich endlich auf meine Foto-Tour durch Tübingen begeben konnte, musste ich mich zuerst an die veraltete Technik gewöhnen. Denn viele Errungenschaften der heutigen Kamera-Technik gab es zur damaligen Zeit einfach nicht. Das Einstellen der Blende und der Belichtungszeit hatte mir noch weniger Kopfzerbrechen bereitet, da ich das auch schon von digitalen Kameras her kannte. Das Einstellen der Schärfe stellte mich vor größere Probleme, zumal ich keine der Einstellungen optisch überprüfen konnte. Ich musste in mich und meine Fähigkeiten als gute Fotografin vertrauen. Oder einfach glauben, dass ich alle Einstellungen richtig gewählt hat. Auch der Sucher stellte keine Orientierungshilfe dar, da er losgelöst von der Technik im Inneren, einfach am Gehäuse befestigt wurde. Zudem sieht man durch den Sucher den Motivausschnitt spiegelverkehrt. Darüber war ich am meisten verblüfft.

Denn von digitalen Kameras war ich es gewohnt, dass ich das Motiv so fotografiere, wie ich es tatsächlich gerade vor mir sehe. Nun die Herausforderung zu haben im Kopf „umzudenken“, wie das tatsächliche Bild aussehen wird, war spannend und erschreckend zugleich. Spannend, weil ich so eine echte Herausforderung als Hobby-Fotografin hatte und erschreckend, weil ich direkt dachte „das wird doch nie etwas“. Die ersten Versuche, ein bestimmtes Motiv anzuvisieren, stellten sich auch als sehr frustrierend heraus. Nie sah ich durch den Sucher mein gewünschtes Motiv. Vor meinen Augen eröffnete sich ein Fenster zu einer winzigen Realität von etwas, das ich nicht genau bestimmen konnte.

Der Ausblick durch dieses „Fenster“ erinnerte mich an diese kleinen „Klick-Fernseher“, mit denen ich als Kind gespielt habe. Durch eine kleine Fensteröffnung in diesen Fernsehern sah man ein Bild. Betätigte man einen Knopf am unteren Rand, erschiehn ein neues Bild. Alles war nur sehr undeutlich zu erkennen und man konnte die Bilder nur erahnen. Also ganz genauso, wie ich es auch in diesem Moment mit meiner Rollfilmkamera gefühlt habe.

Und am Ende – bleibt die Aussicht auf ein gutes Foto?

Meine Foto-Tour durch Tübingen führte mich vorbei an der Stiftskirche, der Alten Aula, dem Rathaus und der berühmten Stadtaussicht auf Tübingen vom Neckar aus. Ich versuchte jeweils das Motiv mit der Rollfilmkamera aufzunehmen und danach das Bild mit einer digitalen Kamera nachzustellen. Eine Aufgabe, die mich stellenweise an meine Grenzen brachte. Denn den genau gleichen Blick auf die Realität zu erschaffen, war fast unmöglich. Zumal ich bei der analogen Kamera eh erst nach der Entwicklung des Films gesehen habe, ob ich mein gewünschtes Motiv getroffen habe.

Als ich dann die fertigen Bilder in den Händen hielt, ist mir direkt aufgefallen, wie sehr sich mein Blickwinkel und damit mein Fenster zur Realität während des Fotografierens verändert hat. Die analogen Bilder sind optisch viel näher am Geschehen dran. Manchmal zeigen sie nur Elemente der ursprünglichen Motiv-Idee. Beispielsweise wollte ich das Gebäude der alten Aula mit der analogen Kamera fotografieren. Aber habe letztendlich nur das mittlere Fenster mit dem Balkon getroffen. Dasselbe passierte mir mit dem Rathaus in Tübingen. Statt einer Totalaufnahme des Gebäudes ist auf der Fotografie nur die Rathausturmuhr zu sehen. Es wirkt im Nachhinein auf mich wie eine Art Fokus. Ein Fokus auf die Dinge, die vielleicht ansonsten für mich untergegangen wären, weil ich eher dazu neige, Gebäude in ihrer Totalen zu fotografieren.

Der Blick durch den analogen Sucher ist wie eine Reise zurück zu den Anfängen der Fotografie: ein Fenster zur Vergangenheit und gleichzeitig eine Form der Entschleunigung. Denn statt viele Aufnahmen zu machen, konzentrierte ich mich mehr auf die Motivsuche. Ich hatte auch nur wenige Chancen, ein gutes Bild zu machen (um genau zu sein 8 Chancen). Jedes Motiv musste sitzen, wenn ich auf den Auslöser drückte. Ich habe diesen Ausflug in die Vergangenheit trotz allem sehr genossen. Sicherlich werde ich auch ein weiteres Mal mit der Kamera durch Tübingen streifen. Auch wenn es am Anfang sehr anstrengend war, so bin ich überaus froh mich dieser Herausforderung gestellt zu haben, denn so habe ich eine neue Perspektive auf die Realität erhalten. Mein Fenster zur Vergangenheit ist nun offen und deins? 

 

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© für alle Bilder: Dorinne Schnabel