Aus den Augen aus dem Sinn? Der eindringliche Dokumentarfilm „Plastic China“ des chinesischen Regisseurs Jiu-Liang Wang führt uns vor Augen, welches Leben diejenigen führen, die unseren Plastikmüll für uns recyceln.
Die Leinwand ist schwarz. Ich höre das Rascheln von Plastik. Es klingt nach Verpackung, Folien oder vielleicht auch Plastiktüten? Der Lichtkegel eines Handscheinwerfers erhellt das Bild. Ich sehe zwei Kinder, die durch einen Berg von Plastikmüll einen Tunnel graben. Die Untertitel übersetzen in weißer Schrift, was eines der beiden Kinder sagt: „Wir werden ein Haus bauen und darin schlafen.“ Sogar eine Tür wollen sie aus Plastikmüll bauen.
So wie diesen beiden Kindern geht es vielen, die mit ihren Familien in ärmlichsten Verhältnissen auf dem Land in China davon leben, den Plastikmüll westlicher Industrienationen zu entsorgen. Regisseur Jiu-Liang Wang hat zwei dieser Familien drei Jahre lang begleitet: die Familie des Recyclingwerkstattbesitzers Kun und seine Nachbarn. Kun lebt inmitten von Plastikbergen in einem kleinen Haus, mit seiner Frau, seinem Sohn und seiner Mutter. Nebenan, in einem Verschlag mit Wellblechdach, ohne Strom- oder Wasseranschluss, lebt die 11-jährige Yi-Jie, die Protagonistin des Films, zusammen mit ihrem alkoholkranken Vater Peng, ihrer Mutter und ihren vier Geschwistern.
Im großen Hof der Werkstatt türmen sich die Berge aus Kunststoffmüll. Daneben sind Betonbecken, in denen das Plastik gereinigt wird. Mit dem gesäuberten Plastikmüll befüttert der Besitzer der Werkstatt, Kun, eine Maschine, die das Plastik in kleine Schnipsel zerkleinert. Ihm tropfen die Schweißperlen von der Stirn. Seine Frau arbeitet an seiner Seite. Die Schnipsel werden im Anschluss erhitzt und zu Plastikpellets zusammengepresst. Diese verkauft der Besitzer mit wenig Profit. Kuns Werkstatt ist nur eine von 5.000 in seinem Dorf, welches von Getreide-, Maisfeldern und Müllhalden umgeben ist. Bis 2017 war China der weltweit größte Importeur von Kunststoffabfällen. Jedes Jahr transportierten unter anderem Europa, USA, Japan und Südkorea zwischen sieben und zehn Millionen Tonnen Kunststoffabfälle in das Land. Danach verhängte das Land einen Einfuhrstopp.
Die 11-jährige Yie-Jie führt uns durch den Film. Sie muss viele Aufgaben übernehmen. Während ihre Eltern auf dem Boden sitzen und Plastik sortieren, kümmert sie sich um das Baby der Familie, wäscht Klamotten in einem flachen, zerschlissenen Plastikeimer, kocht über einem Feuer, das mit Plastik genährt wird, oder arbeitet selbst mit, die Kunststoffe zu sortieren oder die Reinigungsbecken zu putzen. In ihrer Freizeit suchen die Kinder nach Schätzen in den endlosen Müllhalden des Dorfes. Sie finden eine alte Sonnenbrille und eine Plastikfigur von Mickey Mouse. Sie nehmen sie mit nach Hause und putzen sie. Danach wird damit gespielt.
Yie-Jie möchte in die Schule, doch dafür reicht das Geld nicht. Ihr Vater gibt alles Gesparte für Alkohol aus. Das junge Mädchen sehnt sich zurück in ihr Heimatdorf in Sichuan. „Dort haben wir alles“, sagt sie, „Kühe, Hühner und sogar Babyschweine. Wir können die Trauben von den Reben selbst ernten und essen.“ Doch die Ambitionen der Erwachsenen drängen die Wünsche der Kinder in den Hintergrund. Yie-Jies Vater Peng ist es egal, ob sein Kind in die Schule geht. Er nutzt die sechs Euro, die er täglich verdient, um seinen Alkoholdurst zu stillen. Die Schulbildung seiner Tochter würde ihn zehn Tageslöhne kosten.
Kun schickt seinen Sohn zwar zur Schule, gibt jedoch sein ganzes Erspartes für ein neues Auto aus, ein Statussymbol in China, anstatt seine Lebensumstände zu verbessern. Der Werkstattbesitzer hat schon seit langem Tumore im Körper. Die tägliche Arbeit mit dem Kunststoff vergiftet seinen Körper, bringt seinen Hormonhaushalt durcheinander und begünstigt Krebs. Zum Arzt möchte er aber nicht gehen. Das kostet Geld und würde möglicherweise eine ungewünschte Gewissheit bringen.
Ein ehrliches Porträt zweier Familien
Der Dokumentarfilm „Plastic China“ erzählt auf eine ganz natürliche und authentische Weise das Leben der beiden Familien. Die dokumentarischen Aufnahmen sind manchmal stetig, manchmal verwackelt. So wie wir sie mit unseren eigenen Augen auch sehen würden. Musik setzt der Regisseur nur selten ein, sodass von der rohen Emotion des Moments nicht abgelenkt wird. Über die drei Jahren, die der Filmemacher Jiu-Liang Wang mit seinem Team an dem Dokumentarfilm arbeitete, kam man sich näher. Der Regisseur erzählt in einem Interview nach der Veröffentlichung des Films, dass Yie-Jie und die anderen Kinder Teil seiner Familie geworden seien. Seine Frau und Kinder kamen mit ihm auf Kuns Recyclinghof und die Kinder spielten miteinander.
So hat es Jiu-Liang Wang geschafft, ein Porträt zu erschaffen, das dem Zuschauenden sehr nah geht. Manchmal so nah, dass man fast nicht mehr hinsehen möchte. Wir vergessen schnell, welche Konsequenzen unser Konsum hat. Der Film entzieht den Zuschauer*innen den Luxus wegzuschauen und konfrontiert sie mit der brutalen Realität. Doch die Geschichte bleibt nicht ganz ohne Happy End. In einem späteren Interview erzählt der Filmemacher, dass die junge Yie-Jie mittlerweile in die Schule gehen darf und Werkstattbesitzer Kun sich entschieden hat, die Arbeit mit dem Plastikmüll hinter sich zu lassen und einen Job als Lastkraftwagenfahren anzufangen.
Ein Appell an uns alle
Auch wenn der Film in China verboten wurde, glaubt Regisseur Jiu-Liang Wang fest daran, dass er durch ihn etwas bewegen konnte. Für Yie-Jie und Kun, aber auch für sein Heimatland China, welches kurz nach Verbot des Films ein Projekt namens „Blue Sky Project“ begann. Über die Dauer eines Jahres konfiszierten die Projektmitarbeiter tonnenweise ausländischen Plastikmüll im Wert von 10 Millionen US-Dollar. Seit dem 1. Januar 2021 hat China die Einfuhr von ausländischem Kunststoffmüll verboten. Doch das Problem hat sich nicht gelöst, nur gewandelt. Der deutsche Müll wird nun nach Malaysia verschifft, wo er sich auf meterhohen, schier endlosen Müllhalden türmt.
Der Dokumentarfilm „Plastic China“ ist eine Mahnung an unsere Gesellschaft. Trotz seines schockierenden Inhalts erhebt der Film keinen scheltenden Finger, sondern lässt uns Teil einer anderen Welt sein: einer Welt voller harter Arbeit und wenig Perspektiven. Eine Welt, die uns so fremd scheint. Und doch ist es unser Plastikmüll, der in den Händen dieser Menschen liegt. Die Zeit ist gekommen, dass wir uns verantwortlich fühlen und unseren Alltag und somit den Konsum unserer Gesellschaft so ändern, dass keine Kinder mehr auf Plastikmüllhalden aufwachsen müssen.
Alle Bilder sind Screenshots aus dem Film „Plastic China“ (Regie: Jiu-Liang Wang; 81 min.; China 2016; CNEX Studio, Journeyman Pictures).
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Ein eindrücklicher Beitrag und bestimmt auch ein toller Film. Ich finde es irgendwie verrückt wie wir versuchen unseren Plastikmüll so gut wie möglich aus unserem Sichtfeld zu entfernen. Meist verschwindet er in einem Eimer unter der Spüle, später in einer Tonne in der Garage. Zu sehen wie Menschen darin leben und Kinder sich tagtäglich durch diese Berge wühlen ist für uns nahezu unvorstellbar. Danke für den Einblick.
Entsetzlich, was für Auswirkungen der exportierte Müll der Industrieländer auf das Leben von Familien mit Kindern in den Regionen Chinas hat. Durch deine Beschreibung des Films und die Bilder hat man einen Einblick in deren „Müll-Alltag“ bekommen. Wie Anna schon schreibt, gibt es einen enormen Unterschied zwischen dem Umgang mit Müll hier und dem von Yie-Jie..wirklich ein Appell an uns alle!