Wird es einen „James Bond“, Agent 007, in China geben? Die Antwort ist Ja! Aber 007 ist nicht mehr ein Code für den Geheimdienst Ihrer Majestät, sondern für die Zahl der Arbeitsstunden. Von null Uhr bis null Uhr, sieben Tage die Woche. Eine Begegnung mit einer Angestellten, die drauf und dran war, ein „James Bond“ zu werden.

Die Nacht war ruhig, als Wan Mu (Name geändert) und ihr Freund miteinander Schluss machten. „Ich war damals sehr unter Druck und hatte jeden Tag schlechte Laune“, erzählt Wan im Interview. Sie arbeitete von neun Uhr früh bis neun Uhr abends, sechs Tage in der Woche, ohne Zuschläge. Der Modus heißt „996“. „Manchmal musste ich auch bis elf oder zwölf Uhr abends arbeiten.“ Nicht nur Wan, sondern auch viele andere Angestellte in China kennen diesen Modus. Manche davon kennen sogar mehr: „007“– jeden Tag 24 Stunden, sieben Tage die Woche.

Wan war mit ihrem Freund drei Jahre zusammen. „Wenn ich mich jetzt erinnere, war alles mein Fehler. Wir stritten jeden Tag so viel, weil ich damals mürrisch war.“ Wan hatte nach dem Abschluss ihres Studiums direkt bei einer Krankenkasse angefangen. Seitdem arbeitete sie ununterbrochen im 996-Modus.

„Ich war kaputt“

Als Anfängerin kannte Wan sich mit der Arbeit nicht aus, obwohl sie an der Universität mit Excel und Word und anderen Programmen gearbeitet hatte. „Alles an der Uni war zu leicht. Ich kannte mich an der Uni mit Excel gut aus, aber wenn es bei der Arbeit viele Gleichungen gab, war ich durcheinander und arbeitete sehr langsam.“ Jeder Angestellte der Firma hatte pro Tag oder Saison seine eigenen Aufgaben. Allerdings waren diese Aufgaben zu viele, sodass jeder Angestellte Überstunden machen musste und trotzdem nicht alles erledigen konnte. „Ich habe gedacht, wenn es in der Firma mehr Angestellte gäbe, würde es jedem leichter fallen. Aber das ist nicht der Fall.“ Der Chef hätte nur mehr gefordert, wenn es mehr Leute in einem Team gehabt hätte.

„Ich war kaputt und hatte kein Leben. Die Arbeit nervte mich.“ Wan weinte damals fast jeden Tag und wollte nicht mehr bei der Krankenkasse arbeiten. Sie weinte am Telefon mit ihrer Mutter und sogar im Büro ihres Chefs. „Ich weiß, es war falsch, in der Firma zu weinen. Es hat auch meine Kollegen genervt. Aber ich hatte keinen anderen Weg, alles rauszulassen.“

Überall sind die Haare, außer auf dem Kopf

„Schlaflosigkeit ist Nonsens. Ich konnte sofort einschlafen, wenn ich ins Bett ging. Denn ich war müde.“ Für Wan ist die Vereinbarung zwischen Leben und Arbeit eigentlich wichtig, aber im 996-Modus war eine Work-Life-Balance schlichtweg nicht möglich. Sie hatte keine Zeit, ihr Zimmer zu putzen oder Hobbys zu entwickeln. Wan schwimmt gerne und möchte auch jeden Tag Sport treiben, um gesund und schlank zu bleiben. In der zweistündigen Mittagspause aß sie in einer Stunde zu Mittag. In der anderen Stunde schlief sie, weil sie noch viel Arbeit zu tun hatte und in der Nacht nur wenige Stunden schlafen konnte. „Manche von meinen Kollegen haben schon Krankheiten: Bluthochdruck, Fettleber, Haarausfall und so weiter“, sagt sie. „Ich konnte manchmal auch nicht schlafen, als mein Chef mich kritisiert hat.“ Heute arbeitet Wan nicht mehr im 996-Modus. „Ich litt nur ein Jahr darunter.“

„Wenn man unter diesem Modus viel lernen kann, lohnt es sich.“

Jack Ma hat 1999 das chinesische Internet-Unternehmen Alibaba mitbegründet und ist zu einem der reichsten Männer Chinas geworden. Über 996 erzählte er, dass junge Leute im Modus 996 arbeiten sollten. Manche Leute hingegen meinen, dass heute andere Qualitäten wie Kreativität gefragt wären, nicht nur Fleiß. Der CEO von JD, ebenfalls einem chinesischen Internet-Unternehmen, beschimpft alle, die sich nicht an den Modus anpassen können, als „faule“ Zeitgenossen. Es scheint also fast, als wolle jeder Chef seine Arbeitnehmer Überstunden machen lassen. „Mein Chef hatte mich einmal gefragt, welche Wünsche ich hatte. Ich sagte, ich wollte bis sieben Uhr abends pünktlich Feierabend machen. Aber der Chef hatte mich in einer Konferenz kritisiert und es war mir peinlich“, sagt Wan.

Wan hatte sich auch überlegt, eine Protestbewegung gegen den 996-Modus zu organisieren. Aber sie wusste, dass sie allein zu klein ist und es mehr Leute benötigt, um eine Bewegung auszulösen. Der einzige Grund, warum es bisher keine Protestbewegung gibt, glaubt Wan, sei, dass viele Leute davon profitieren: „Beim Studium hatte ich schon in dieser Firma ein Praktikum gemacht und als Praktikantin musste ich schon Überstunden machen. Es war so anstrengend, und ich hatte mich entschieden, nach dem Abschluss nicht in dieser Firma zu arbeiten!“ Aber nach dem Praktikum wurde Wan bewusst, dass sie viel gelernt hatte und besser geworden war als ihre Kommilitonen. „O.K., ich hatte mich letztendlich doch für die Firma entschieden.“

Für sie waren die Fortschritte wichtiger als andere Faktoren. Im 996-Modus hat sie mehr gelernt und ihre Fähigkeit zur Kommunikation und Koordination ausgebaut. „Wenn man in diesem Modus viel lernen kann, lohnt es sich auch. Ich bereue es nicht, im 996-Modus gearbeitet zu haben.“ Aber für sie bedeutet die Mühe aufgrund der langen Arbeitszeiten nicht automatisch eine Verbesserung der Fähigkeiten. Man müsse im 996-Modus auch wirklich etwas tun, das die eigene Fähigkeit fördert. „Wenn man jeden Tag nur Papiere zählt, macht 996 keinen Sinn.“

Jetzt hat die 25-jährige Wan ihre Arbeitsstelle in Beijing gewechselt und arbeitet nicht mehr im 996-Modus. Sie hat mehr Zeit für sich selbst. Ihr Ziel ist es, an der Universität einen Master zu machen. „Ohne 996 habe ich mehr Zeit zu studieren und in Zukunft möchte ich eine eigene Firma gründen. Ich mag Freiheit.“

Die „James Bonds“ sind unterwegs

Obwohl Wan sich heute aus dem 996-Modus befreit hat, leiden viele andere Angestellte noch immer darunter. Und 996 ist nicht mehr die höchste Arbeitsstufe: 997, 897 sind schon vorhanden – und 007 rückt immer näher. Auf einer chinesischen Social-Media-Plattform haben sich Angestellte deshalb schon öfter beklagt – aber der Erfolg bleibt aus. Keine Firma hat bisher vor, etwas an den Arbeitszeiten zu ändern. Und das, obwohl der Modus 996 schon gegen Chinas Arbeitsgesetz verstoßen hat, das in Artikel 36 einen für alle geltenden Acht-Stunden-Arbeitstag oder durchschnittlich 44 Arbeitsstunden pro Woche festlegt. Auch die Bezahlung ist hier genau geregelt. Wie sich die Arbeitsstunden in China weiterentwickeln werden, kann bisher nur vermutet werden. Feststeht aber, dass die Ausweitung der Arbeitszeiten von 996 zu 007 für die Angestellten noch mehr Druck und weniger Freizeit bedeutet. So wichtig James Bond für die ’nationale Sicherheit‘ auch ist – für die Arbeitsstunden in China bedeutet „James Bond“ in jedem Fall nichts Gutes.

 


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4 Kommentare
  1. Shanting Hu
    Shanting Hu sagte:

    Das 996-Ereignis war, dass einige Programmierer ein Projekt mit dem Namen 996.ICU auf Github hochgeladen haben, das das 996-Arbeitsmodell des Internet-Unternehmens enthüllte. In China, insbesondere in vielen Internetunternehmen, ist dieses Modell weit verbreitet. Obwohl die Angestellten dieser Unternehmen höhere Gehälter haben, haben sie keine persönliche Zeit, und es gibt keine Möglichkeit, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen, und selbst langfristige Arbeit ist gesundheitsschädlich. Daher denke ich, dass diese Internetunternehmen die Arbeitsgesetze einhalten und das Gehalt der Mitarbeiter weiter verbessern sollten.

  2. Linda P.
    Linda P. sagte:

    Vielen Dank für diesen aufschlussreichen Einblick in die Arbeitswelt von China. Durch Wans eigenen Erfahrungen mit diesem Arbeitsmodell kann ich mich gut in eine solche Arbeitssituation hineinzuversetzen. Gleichzeitig verleiht es dem Beitrag eine persönliche Note. Ich frage mich, wie viele Firmen ihre Arbeitnehmer im 996-Modus arbeiten lassen?

  3. Luisa Poschmann
    Luisa Poschmann sagte:

    Ein solches Arbeitsmodell kann nur zu dauerhafter Überlastung und schlimmerem führen. Man braucht nach der Arbeit ausreichend Zeit zur Regenerieren, um gesund zu bleiben. Ich hoffe, dass sich diese Arbeitsmodelle nicht weiter ausbreiten und wieder auf ein bewältigbares Maß gekürzt werden. Werden diese Verstöße gegen das chinesische Arbeitsrecht strafrechtlich gar nicht verfolgt?

    • Stefanie Hoschka
      Stefanie Hoschka sagte:

      Das habe ich mich beim Lesen auch gefragt. Bzw eher: Wie sieht denn überhaupt ein Arbeitsrecht in China aus?

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