Riesige Kunstwerke aus Papier füllen ganze Räume, während dehnbare Papierfiguren virale Hypes auslösen. Doch auch bei Werken, bei denen es weniger offensichtlich im Vordergrund steht, trägt das Papier stets zur Wirkung des jeweiligen Kunstwerks bei. Ich treffe mich im Studiensaal der Graphischen Sammlung des Kunsthistorischen Instituts der Universität Tübingen mit Kustodin Dr. Anette Michels, um mehr über das Verhältnis von Kunst und Material zu erfahren.
Vielen Dank, dass Sie sich für das Interview Zeit genommen haben, Frau Dr. Michels. Können Sie sich zunächst kurz vorstellen, bevor wir uns über das Thema Papier unterhalten?
Ja, mein Name ist Anette Michels. Ich bin seit vielen Jahren hier am Kunsthistorischen Institut die Kustodin der Graphischen Sammlung und auch des Gemäldebesitzes der Universität Tübingen. Parallel dazu unterrichte ich regelmäßig und mache Lehrveranstaltungen. Insbesondere Lehrveranstaltungen als praxisorientierte Ausbildung vor Originalen oder im Zusammenhang mit Ausstellungsprojekten. Beispielsweise haben wir letztes Jahr ein Projekt zur Provenienzforschung (Herkunftsforschung) gemacht, aber nicht in Bezug auf die nationalsozialistische Zeit, sondern in Bezug auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts.
„Papier hat immer eine riesige Rolle gespielt, auch schon in der Zeit vor 1500.“
Ihr Kapitel über die Graphische Sammlung im 2016 erschienenen Buch „Museen und Sammlungen der Universität Tübingen“ trägt den Titel ‚Kunst auf Papier‘. Welche Rolle spielt der Werkstoff Papier für die Kunst, die darauf abgebildet ist?
Eine ganz große Rolle! Papier ist etwas, das leicht und transportabel ist. Man kann es zerknüllen und zusammenfalten. Man braucht sehr wenig, um Ideen darauf zu notieren oder zu skizzieren. Papier ist etwas, das jeder Künstler benutzt, selbst im digitalen Zeitalter, um Dinge zu notieren – seien sie pro memoria oder seien sie zukunftsweisend in Bezug auf Konzepte von größeren Arbeiten. Wir haben zum Beispiel aus einer Stiftung, die wir vor zwei Jahren von Harald Naegeli bekommen haben, auch Skizzenbücher von ihm erhalten. Die sind unglaublich spannend, weil sie sozusagen die erste Annäherung an das Vokabular des bildenden Künstlers beinhalten. Papier hat immer eine riesige Rolle gespielt, auch schon in der Zeit vor 1500. Die Papiertechnologie ist natürlich auch interessant – heute im digitalen Zeitalter noch viel mehr!
„Die frühsten Papiere kennen wir aus China.“
Inwiefern hat sich die Beschaffenheit des Papiers im Laufe der Jahrhunderte verändert und welchen Einfluss hat die Papierqualität auf das Kunstwerk?
Bei den Papieren der Frühen Neuzeit, das ist grosso modo die Zeit vor 1500 bis 1800, haben wir es primär mit unglaublich hochwertigen Papieren zu tun – nämlich mit Büttenpapieren. Das sind in der Regel handgeschöpfte Papiere, die nicht aus holzschliffhaltigem Material hergestellt worden sind, also nicht aus alten Zeitungen oder ähnlichem. Es sind sogenannte Hadernpapiere. Das heißt, dass diese Papiere eigentlich aus Lumpen bestehen. Kleiderlumpen, die zerrissen und zermahlen und dann mit Wasser aufgefüllt worden sind, wodurch dann ein Papierbrei entsteht. Mit Hilfe einer ganz bestimmten Technologie kann man aus diesem Brei dann Papierbögen schöpfen. Diese sogenannten Büttenpapiere erkennt man daran, dass sie meistens auch einen etwas unregelmäßigen Rand haben. Häufig ist auch noch ein Wasserzeichen erkennbar, wenn Sie den Bogen gegen das Licht halten. Das ist dann der Verweis auf die Papiermühle, die das Papier hergestellt hat. Wir haben in Deutschland die ersten Papiermühlen in der Zeit ab 1390. Die erste urkundlich bezeugte Papiermühle befand sich beispielsweise in der Nähe von Nürnberg.
Das Papier ist natürlich wesentlich älter. Die frühesten Papiere kennen wir aus China, wobei man sagen muss, dass bei diesen Chinapapieren oder Japanpapieren eine andere Technologie als bei europäischen Büttenpapieren verwendet wird. Sie wurden aus einer besonderen Pflanzenfaser entwickelt, die sich durch eine besonders lange Ausdehnung auszeichnet. Japanpapiere sind dadurch unglaublich reißfest und haben eine wesentlich glattere Oberfläche. Diese Papiere können in hauchdünnen Qualitäten hergestellt werden. Die ganz dünnen Papiere werden auch häufig von Restauratoren benutzt, um Risse in besonders wertvollen Zeichnungen zu kaschieren und zu reparieren. Japanpapiere sind von Künstlern, unter anderem auch von Rembrandt, durchaus bewusst gewählt worden, wenn sie damit einen bestimmten künstlerischen Ausdruck unterstützen wollten. Rembrandt hat damit experimentiert, weil die Japanpapiere einen besonderen Ton haben. Er ist nicht kalkweiß, sondern hat eine Wärme, und je nach Bildthema konnte dies in besonderer Weise zur Ausdruckssteigerung genutzt werden.
Handgeschöpfte Büttenpapiere werden auch von heutigen Künstlern benutzt. Es gibt hier eine wunderbare Arbeit von Jenny Holzer, der amerikanischen Gegenwartskünstlerin, die man eigentlich vorrangig dadurch kennt, dass sie mit Textsequenzen arbeitet, die unter anderem als Neonlichtinstallationen realisiert werden. Sie hat mit einem der besten Papiermacher Deutschlands, Gangolf Ulbricht, eine fantastische Serie zum Thema „Waterboarding“ gemacht – eine hoch politische Serie, die sich auf diese furchtbare Foltermethode der Amerikaner bezieht. Jenny Holzer hat für diese Arbeit das Papierschöpfen ganz bewusst gewählt, weil es formal und inhaltlich in besonderer Weise die Tür in eine neue künstlerische Dimension aufstößt. Daran sehen Sie ganz schön, dass auch heutige Künstler, selbst wenn sie normalerweise mit Neonschrift oder was auch immer unterwegs sind, durchaus das Medium Papier reflektieren und auch bewusst in ihre künstlerische Konzeption einbeziehen.
„Papier ist sehr lichtempfindlich und extrem hygroskopisch.“
Welche Herausforderungen stellt Papier in Bezug auf die Erhaltung und Restauration der Sammlung dar?
Wenn Papiere, egal ob es alte Bücher, Druckgrafiken oder Handzeichnungen sind, gut aufbewahrt werden, gerade die Papiere aus der Frühen Neuzeit, sind sie eigentlich recht robust. Diese Hadernpapiere sind chemisch sozusagen wirklich sehr reine Produkte. Wir haben nicht das Problem, das wir zum Beispiel bei den Taschenbüchern der 1950er und 60er Jahre haben, die ganz schnell gelb werden und bei denen das Papier bricht. Das liegt daran, dass die Papiere der Taschenbücher sehr viel Holzschliff enthalten. Die Büttenpapiere, die in der Frühen Neuzeit im Buchdruck und im Bereich der Kunst verwendet worden sind, sind hingegen sehr qualitätvoll. Das, was Papier grundsätzlich nicht mag, egal ob es nun ein Büttenpapier oder ein Japanpapier ist, ist das lange Aussetzen im Licht. Papier ist sehr lichtempfindlich und extrem hygroskopisch. Das heißt, dass es auf Veränderungen der Luftfeuchtigkeit reagiert und sich entsprechend ausdehnt oder zusammenzieht. Wenn etwas zu feucht gelagert ist, dann gibt es einerseits die Wellen im Papier oder andererseits Stockflecken. Und Stockflecken wären natürlich überhaupt nicht gut! Wenn der Bestand von der Raumtemperatur, dem Klima und vom Licht her optimal ausgestattet ist, gibt es allerdings nicht so große Probleme.
„Papier muss nicht immer flach sein.“
Ist Papier lediglich ein Material, ein reiner Träger von Kunst – oder auch selbst ein Kunstprodukt?
Gerade in der Gegenwartskunst kann man sehr interessante und innovative Aspekte mit in den Blick nehmen, was die Handhabung von Papier durch den Künstler betrifft. Es gibt Künstler, die wirklich in den Raum gehen mit Papier, die riesige Papierobjekte bauen. Wir haben hier auch eine kleine Arbeit von einer Berliner Künstlerin, die aus lasergestanztem Papier besteht. Die kann man aus einer Schachtel hevorholen und damit quasi ein dreidimensionales Objekt erzeugen. Also auch das ist durchaus möglich. Papier muss nicht immer flach sein. Nicht diese berühmte Flachware, die oft auch etwas abwertend klingt. Papier wird unglaublich vielfältig eingesetzt. Wenn Sie beispielsweise an die Japaner denken, die eine unglaublich reiche Papierkultur haben. Die verwendeten unter anderem ganz hochwertige Japanpapiere, die auch sehr dick sind, als Fensterersatz – jedenfalls hat man das im 19. Jahrhundert teilweise so gemacht. Heute wird das natürlich nicht so stark betrieben, aber für Wandschirme oder ähnliches werden diese hochwertigen Japanpapiere auch verwendet.
Auf der Homepage des Museums der Universität Tübingen gibt es das sogenannte eMuseum. Dort kann man unter anderem auch einige Werke aus der Graphischen Sammlung des Kunsthistorischen Instituts betrachten. Aus welchen Gründen halten Sie es für sinnvoll, beziehungsweise für weniger sinnvoll, Sammlungen zu digitalisieren?
Ich denke, dass die Onlinestellung von Werken auf Papier sehr, sehr wichtig ist. Bevor das Museum der Uni diese Plattform eingerichtet hat, gab es hier in der Graphischen Sammlung bereits ein wesentlich umfänglicheres Projekt. Es handelt sich dabei um die digitale Erschließung der Portraitsammlungen der Universität Tübingen. Wir haben die Portraits aus der Graphischen Sammlung erfasst, die um 1943/44 von unserem Institut an die Abteilung Historische Drucke der Unibibliothek abgegeben worden sind. Hinzu kamen die Portraits des Universitätsarchives sowie die entsprechenden Bestände aus der Universitätsbibliothek. Sie können jetzt unter portraitsammlungen.uni-tuebingen.de um die 10.000 Portraits aus unseren universitären Beständen online abrufen. Oder auch bestellen! Also wenn zum Beispiel Wissenschaftler im Rahmen ihrer Dissertation ein bestimmtes Portrait benötigen, können sie online eine Bildbestellung machen, bekommen von uns die Reproduktionsrechte und dann geht das eben seinen Weg.
Inwiefern unterscheidet sich ein digitalisiertes Kunstwerk von einem Original?
Es gibt Unterschiede, wobei man dazu sagen muss, dass im Bereich der Kunstgeschichte die Graphischen Sammlungen in Deutschland am weitesten sind, was die Digitalisierung ihrer Bestände betrifft. Sie können zum Beispiel mal das Graphikportal anklicken, wo Sie eine qualitativ hochwertige Erfassung und Tiefenerschließung graphischer Bestände nachvollziehen können. Aber es geht ja nicht nur darum, ein Werk auf Papier zu reproduzieren, sondern auch, die wissenschaftliche Erschließung für den interessierten Forscher jeglicher Fachrichtung bereitzustellen. Eine gute Reproduktionsqualität ermöglicht in Kombination mit den heutigen technischen Mitteln, dass man unglaublich tief hineinzoomen kann, sodass man sogar die Materialität des Papiers wahrnehmen kann. Eine solche, auf hohem Niveau vollzogene Erschließung und Digitalisierung von Bildbeständen macht sehr, sehr viel Arbeit. Das kann man nicht einfach so nebenher mit ein paar Hiwis bewerkstelligen (lacht). Das muss qualifiziert gemacht werden, wenn eine breite interessierte Öffentlichkeit daraus Informationen gewinnen möchte. Aber es macht unsere Sammlung bekannt und außerdem werden die Bestände geschont, weil ein interessierter Nutzer nicht sofort an die Originale heran muss, sondern sich erstmal online informieren kann.
Welche Aspekte lassen sich bei digitalisierten Kunstwerken nicht erfassen und erschließen sich erst bei der Betrachtung des Originals?
Etwas, das ich immer überraschend finde, ist die Wahrnehmung des Formats. Sie können zwar die präzisen Zentimeterangaben neben dem Objekt in der digitalen Datenbank vorfinden, doch trotzdem macht es einen kategorialen Unterschied, ob Sie dann das Werk wirklich in der originalen Größe vor sich haben oder in der Reproduktion. Ein weiterer Punkt ist, dass derzeit bei vielen Bilddatenbanken nicht in jedem Fall die Rückseiten der Objekte mitgescannt werden. Bei unserem Ausstellungsprojekt „Kehrseite(n)“, das ich letztes Jahr gemeinsam mit den Studierenden und meiner Kollegin Celia Haller-Klingler im Graphik-Kabinett der Stadt Backnang realisieren konnte, ging es uns in ganz besonderer Weise um die Rückseiten. Wir fanden dort Sammlerstempel von Vorbesitzern, handschriftliche Vermerke und durch Konsultierung der Nachlassbestände teilweise auch andere Spuren, sodass wir Provenienzforschung betreiben konnten. Wir haben uns bemüht, in dem begleitenden Ausstellungskatalog eben genau das, was auf der Rückseite an interessanten Informationen vorhanden ist, mit zu reproduzieren. Das wird aber in den großen Bilddatenbanken aus Kostengründen nur teilweise gemacht. Wenn 10.000 Blatt eingescannt werden und jedes Blatt auch auf der Rückseite, oder zumindest ein Großteil davon, dann haben Sie gleich mindestens 6.000 Digitalisate mehr.
Frau Michels, vielen Dank für das Gespräch.
Wollt Ihr immer Up to Date sein? Dann folgt uns auf Facebook und Instagram.
Dort informieren wir euch immer über den neusten Papierkram.
Tatsächlich habe ich noch gar nicht so richtig darüber nachgedacht, dass Papier auch zur Wirkung des Kunstwerks beiträgt. Aber, stimmt! Danke für den Denkanstoß 😉
Hello Robert, your interview was both engaging and informative! I was previously somewhat familiar with the history of paper in the context of European printing, but it was quite interesting to learn about the international origins of paper technology, and its development in Germany (which subsequently enabled quite a few contributions to art and culture).