Obwohl Miriam heute Ingenieurin werden kann und Jonas Erzieher, entscheiden sich die beiden meist immer noch für den Beruf des jeweils anderen. Junge Menschen werden in ihrer Berufswahl nach wie vor von klassischen Geschlechterklischees beeinflusst. Woran liegt das und wie können wir damit umgehen?

‚Imagine a doctor and a nurse in the year 2019.‘ Wer diesen Satz bei Google Translate in das Suchfeld tippt, bekommt als Übersetzung Folgendes: ‚Stellen Sie sich einen Arzt und eine Krankenschwester im Jahr 2019 vor.‘ Das ist schlecht. Denn laut Zahlen der Bundesärztekammer für das Jahr 2017 sind knapp die Hälfte der berufstätigen Ärzte Frauen. Wo aber bleiben die Ärztinnen und Krankenpfleger in der Google-Übersetzung? „Medien spielen eine große Rolle bei der Reproduktion von Geschlechterklischees“, sagt Miguel Diaz, der die Servicestelle der Initiative Klischeefrei am Kompetenzzentrum Technik–Diversity– Chancengleichheit leitet. „Das Ergebnis der Übersetzung überrascht wenig, wenn wir bedenken, dass algorithmische Systeme von uns Menschen mit Informationen versorgt, also auch mit Geschlechterklischees gefüttert werden.“

Männerberufe – Frauenberufe?

„Viele Berufe werden mit einem bestimmten Geschlecht in Verbindung gebracht. Die historische Entwicklung von Berufen – zum Beispiel im Gesundheitswesen – zeigt jedoch, dass diese Assoziationen wandelbar sind“, sagt Diaz. Der Arztberuf sei früher allein Männern vorbehalten gewesen, heute liege der Anteil der Medizinstudentinnen bei rund 60 Prozent. „Für so einen Wandel gibt es viele weitere Beispiele, was uns ganz deutlich zeigt, dass es keine ‚Frauenberufe‘ und ‚Männerberufe‘ gibt. Ob ein Beruf mehrheitlich von Frauen oder Männern ausgeübt wird, ist vor allem davon abhängig, ob Männern und Frauen im jeweiligen historischen Kontext die dafür notwendigen Eigenschaften und Fähigkeiten zugeschrieben werden.“

Wie uns Geschlechterklischees prägen

Klischees begegnen wir heute vielen: Frauen können nicht mit Technik umgehen, Pflegeberufe sind nichts für Männer und schon in der Schule sind Mädchen in Mathe nur Deko. „Geschlechterklischees halten sich deshalb so hartnäckig, weil sie bereits im frühen Kindesalter erlernt und im gesamten Lebensverlauf von ganz verschiedenen Seiten an uns herangetragen werden“, erklärt Diaz. Zu dieser geschlechtsspezifischen Sozialisation tragen sowohl das familiäre Umfeld als auch die Peergroup, Lehrkräfte, Institutionen, gesellschaftliche Rollenbilder, die Medien und die Sprache bei. Eine Studie hat gezeigt, dass sich Mädchen Berufe weniger zutrauen, wenn diese lediglich in der männlichen Pluralform (Ingenieure anstelle von Ingenieurinnen und Ingenieure) verwendet werden. Für Miguel Diaz ist das kein Zufall: „Geschlechterklischees enthalten Annahmen darüber, wie Männer und Frauen angeblich sind, wie sie sein oder sich verhalten sollen. Dabei werden vermeintlich männliche und weibliche Verhaltensweisen und Eigenschaften als Gegensätze gedacht, die sich gegenseitig ausschließen.“ Menschen seien jedoch mehr als die Kategorien ‚männlich‘ und ‚weiblich‘. „Sie sind vielfältig und haben ganz individuelle Stärken und Interessen“, so Diaz.

Ingenieurinnen und Erzieher bleiben die Ausnahme 

In der Studien- und Berufswahl zeigt sich diese Vielfältigkeit bislang jedoch nicht. Mädchen und Jungen orientieren sich nach wie vor an traditionellen Vorstellungen. Über die Hälfte der Mädchen entscheidet sich für eine Ausbildung in einem ‚typisch weiblichen‘ Berufsfeld. Und auch bei der Studienwahl sind die Frauen in den sprachlichen und sozialen Fächern weitestgehend unter sich, während die naturwissenschaftlich-technischen Fächer überwiegend von Männern studiert werden. Dennoch zeigt beispielsweise der Zuwachs weiblicher Fachkräfte in den sogenannten MINT-Berufen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik), dass Berufklischees veränderbar sind. 

Medienvorbilder müssen vielfältiger werden

Für die Initiative Klischeefrei steht deshalb im Vordergrund, Schulen, Hochschulen, Eltern, die Berufsberatung und Unternehmen für das Thema Geschlechterklischees zu sensibilisieren. „Oftmals unterschätzen Eltern, Lehrkräfte und viele andere ihren Einfluss auf die Berufs- und Studienwahl von Jugendlichen“, so Diaz. Und auch die Medien sind hier in der Verantwortung. „Viele Studien zeigen, dass Jungen und Mädchen bzw. Männer und Frauen in den Medien oftmals klischeehaft dargestellt werden“, sagt Diaz. „Hier brauchen wir dringend mehr gute und vor allem vielfältige Vorbilder.“ Momentan ist das Frauenbild im deutschen Fernsehen und Kino laut einer Studie der Universität Rostock nämlich alles andere als gleichberechtigt: Während Frauen unterrepräsentiert sind, treten Männer als Experten und Journalisten auf, die die Welt erklären. Auch auf sozialen Plattformen wie YouTube und Instagram sind klassische Stereotype ein Erfolgsmodell, wie die Ergebnisse der Malisa-Stiftung zeigen: Frauen agieren eher im privaten Raum, geben Schmink- und Basteltipps oder zeigen sich beim Kochen. 

Gleichberechtigung endet nicht mit der Berufswahl

In Deutschland haben sich mittlerweile zahlreiche Projekte und Initiativen gegründet, die sich für eine geschlechtsunabhängige Berufswahl einsetzen. Zu ihnen gehört, neben der Initiative Klischeefrei, zum Beispiel der bundesweite Girls’ Day, der Mädchen und junge Frauen seit 2001 ein breiteres Spektrum an möglichen Berufen aufzeigt. Seit 2011 findet als Pendant der Boys’ Day statt. Dass solche Aktionstage die Berufsvorstellungen von Mädchen und Jungen tatsächlich verändern können, zeigen die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung. Haben Schülerinnen am Girls’ Day einen MINT-Beruf ausprobiert, können sie sich anschließend häufiger vorstellen, einen technischen Beruf zu ergreifen, als Schülerinnen, die zum Beispiel den Bereich Politik besucht haben. Ähnliches gilt für Jungen, die am Boys’ Day einen sozialen Beruf kennengelernt haben. Fest steht aber auch, dass die Themen Geschlechterklischees und Berufswahl im gesellschaftlichen Kontext nicht alleine dastehen. Links und rechts säumen der Gender Pay Gap, die schlechte Bezahlung von Pflegekräften und die geringe Wertschätzung bestimmter Berufsgruppen ihren Weg. Ein entscheidender Schritt ist die geschlechtsunabhängige Berufswahl dennoch, denn die Bezahlung sei zwar ein wichtiger, aber nicht der wichtigste Faktor: „Es geht vielmehr darum, einen Beruf zu finden, der zu den persönlichen Interessen und Stärken passt“, so Diaz. „Ich sage immer: Wer den richtigen Beruf hat, muss nie wieder arbeiten.“

Geschlechterklischees fangen bei uns selbst an

Und auch wir selbst sind gefragt, wenn es darum geht, Geschlechterklischees zu verändern. Denn die Arbeit an Geschlechterklischees ist nicht nur Sache der Politik oder von Aktionstagen. Mit jeder Entscheidung, die wir treffen, reproduzieren wir selbst, oft unbewusst, Geschlechterklischees. „Der Prozess des Doing Gender beschreibt, wie wir unsere Geschlechtszugehörigkeit inszenieren und verdeutlichen, zum Beispiel durch die Art sich zu kleiden, die Wahl der Sportart – oder eben die Berufs- und Studienwahl“, so Diaz. Vielleicht entscheiden wir uns in Zukunft also einmal öfter dazu, unser eigenes Verhalten zu reflektieren und den nächsten Text wieder einmal selbst zu übersetzen, anstatt die Wahl Google zu überlassen.

 


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2 Kommentare
  1. Stefanie Hoschka
    Stefanie Hoschka sagte:

    Vielen Dank für deinen tollen Beitrag! Ich arbeite nebenher in einem Bereich, bei dem ein deutlicher Großteil der Stellen von Männern besetzt ist. Umso schöner ist es zu sehen, dass sich dort um mich herum so gut wie niemand an Geschlechterklischees jeglicher Art bedient und wenn, dann geschieht dies nur auf ironische Weise. Ich behaupte, das liegt, wie du mit deinem Beitrag auch schon auf den Punkt gebracht geschlossen hast, an unserem eigenen Verhalten. Manchmal habe ich das Gefühl, besonders Frauen spielen viel zu oft auf das Thema Geschlechterklischee an, um mehr Aufmerksamkeit für das Thema zu erzeugen, wie eigentlich notwendig ist. Denn wenn wir ehrlich sind: Je populärer das Thema gemacht wird, je mehr Klischees an die Freiheit gelangen, desto größer ist doch auch die Angriffsfläche.

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