Schnelle Schnitte in Pappe. Ritsch, ratsch, ritsch, ratsch. So schnell, wie kaum jemand schneiden kann. Wenn ich mit der Schere so schnell schneiden würde, wäre das Endprodukt höchstens als Konfetti verwendbar. Nicht so bei Lotte Reiniger. Bei ihr entstanden künstlerische, filigrane Scherenschnittfiguren in Sekundenschnelle. Sie machte Silhouetten, weil sie es konnte. Ein Porträt der Pionierin und Meisterin des Silhouettenfilms.
Ein heller Raum im Stadtmuseum in Tübingen. Die Wände leuchten mir entgegen. Einzeln kunstvoll gerahmte Figuren warten schwarz auf weiß darauf, beachtet zu werden. Es gibt kein wiederkehrendes Muster. Die ganze Wand ist ein Kunstwerk von individuellen Bildern: Figuren und Kulissen aus schwarzer Pappe. Gekonnt und fantasievoll ausgeschnitten. Mit genauesten, winzig kleinen Details muss es eine Ewigkeit gedauert haben, all diese Scherenschnitte auszuschneiden. Das weiße Licht, das sie von hinten anstrahlt, macht sie zu dem, was sie sind: Silhouetten. Umrisse, die sich vom Hintergrund abheben. Schattenrisse. Zerbrechlich wirkende Schatten. Elegant und haarfein aus schwarzem Papier. Geschaffen wurden sie von der Pionierin und Meisterin des Silhouettenfilms: Lotte Reiniger.
„Meine Hände gehen schon so lange mit der Schere um, dass sie von ganz alleine wissen, was sie tun müssen.“
1899 wurde Charlotte Reiniger in Berlin geboren. Schon früh entdeckte sie ihre Liebe zum Scherenschnitt und zum Schattentheater. Auch der Musik, dem Theater und dem Film war sie verfallen. Später studierte sie für einige Zeit in der Max-Reinhard-Schule am Deutschen Theater Berlin Schauspiel. In dieser Zeit arbeitete sie als Statistin am Theater, wo sie Scherenschnitte von den Schauspielern anfertigte. Dort lernte sie auch den Schauspieler und Regisseur Paul Wegener kennen. Lotte Reiniger verehrte ihn sehr. Wenig später wurde er ihr Mentor und sorgte dafür, dass sie mit dem Trickfilm in Berührung kam. Bei Wegeners Film „Der Rattenfänger von Hameln“ trug sie unter anderem die Zwischentitel bei. Diese zeigten ihre Fertigkeiten mit Pappe und Schere. Da war sie gerade 18 Jahre alt.
Am Anfang war der Tricktisch
Alle Silhouettenfilme Lotte Reinigers entstanden an einem Tricktisch: Ein Tisch, in dem eine Glasplatte eingelassen ist, abgedeckt mit transparentem Pauspapier. Unter dem Tisch eine Lampe, über dem Tisch eine Kamera. Die Silhouetten, angeordnet in den meisterhaften Kulissen, werden Bild für Bild bewegt. Die Angst, dass Pappe sich ungewollt bei der Neuanordnung der Figur mitbewegte, ließ Lotte Reiniger die erste Trickfilmfigur aus Blei anfertigen. Mit der Zeit stellte sich jedoch heraus, dass es die am besten funktionierende Methode war, die Figuren aus Pappe und Blei herzustellen. Angefertigt aus vielen Einzelteilen, verbunden mit Gelenken, um beweglich zu sein. Die gekonnten Landschaften und Kulissen sind aus schwarzer Pappe und aus transparentem Pauspapier gefertigt. Die zwei verschiedenen Papierarten geben den Hintergründen einen Tiefeneffekt.
Wie von Zauberhand
Bevor sie eine Figur im Film bewegte, probierte Lotte Reiniger die Bewegungen selbst am eigenen Körper aus. Im Endprodukt soll das Spiel möglichst fließend, authentisch und ästhetisch aussehen. Vor allem bei Tieren nicht immer leicht. Die Bewegung ist wohl die große Kunst beim Silhouettenfilm: Nur durch diese kann sich eine Figur definieren, Gefühle transportieren und eine Geschichte erzählen. Um möglichst bewusste und kleine Bewegungen in den 24 Bildern pro Sekunde Film umzusetzen, ist viel Geduld gefragt. Lotte Reiniger war Meisterin darin. In ihren Filmen scheinen die Figuren geradezu wie von Zauberhand geführt: Man denkt nicht mehr darüber nach, ob man reelle Schauspieler*innen oder Silhouetten sieht: Lotte Reiniger nimmt die Zuschauer*innen mit in eine künstlerische und phantasievolle Welt. Nicht nur in ihren Märchenfilmen. Aus Papier erweckt sie lebendige Schatten, denen man direkt in die Seele blicken kann.
Die Abenteuer des Prinzen Achmed
1926 gelang Lotte Reiniger die Veröffentlichung des ersten, weltweit noch erhaltenen, abendfüllenden Animationsfilms der Geschichte: „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“. Über Vorurteile, die ihr und dem 70-minütigen Silhouetten-Animationsfilm entgegengebracht wurden, machte sie sich keine Gedanken: Ihr war es egal, was die Leute dachten. Sie machte Silhouetten, weil sie es konnte. Drei Jahre hatte sie mit einem speziellen Tricktisch, der über verschiedene Ebenen funktionierte, als einzige Frau mit einer Gruppe von Männern an diesem Film gearbeitet. Mit dabei und nicht von ihrer Seite gewichen ist ihre große Liebe Carl Koch, dem auch die Idee und das technische Know-How des Tricktisches zu verdanken sind.
„Ich habe einen Mozartfimmel!“
Lotte Reinigers Liebe zu Musik, Theater und Märchen brachte auch die Liebe zu Wolfgang Amadeus Mozart und seinen musikalischen Werken mit sich. Mit dem Singspiel „Die Zauberflöte“ und den Opern „Cosi fan tutte“, „Don Giovanni“ und „Figaros Hochzeit“ beschäftigte sie sich näher in ihren Werken. Besonders eindrucksvoll: Das genaue Zusammenspiel mit der Musik in ihrem Animations-Kurzfilm „Papageno“: Eine Viertel in den Noten der Musik entspricht genau 20 Bildern im Film. Nichts ist dem Zufall überlassen, jede kleinste Bewegung überlegt, und doch: Manchmal kann man in ihren Trickfilmen Lotte Reinigers Hand entdecken. Beim Bewegen der Figuren hatte sie diese wohl nicht schnell genug vom Tricktisch genommen. Doch das stört nicht – im Gegenteil: Es lässt erahnen, wie ihre Filme entstanden sind und macht sie sympatisch, charaktervoll und herrlich unperfekt.
„Ich bin ballett-, film-, und theaterbesessen.“
82 Jahre lebte Lotte Reiniger ein bewegtes Leben, in dem sie über 40 Filme schaffte. 1980 verstarb sie in Dettenhausen bei Tübingen. Die Liebe zu Papier und Scherenschnitt sowie zum Geschichtenerzählen sieht man deutlich in ihren Werken: Die Bilder sprechen für sich.
Das Stadtmuseum Tübingen widmet der Vollblutkünstlerin eine sehenswerte Dauerausstellung: In den Ausstellungsräumen, welche mit Licht und Schatten spielen, schwingt die Leidenschaft Lotte Reinigers zu ihrer Kunst mit und lässt mit den ausgestellten Schattentheatern, Scherenschnitten, Silhouettenfilmausschnitten und vielem mehr ein Gesamtbild Lotte Reinigers entstehen.
Empfehlenswert auch: Der Dokumentarfilm „Lotte Reiniger – Tanz der Schatten“ von Susanne Marschall, Rada Bieberstein und Kurt Schneider sowie der Artikel über Scherenschnitt meiner Papierkram-Kollegin Zikun.
Beitragsbild: Ausstellungsfoto Stadtmuseum Tübingen. Foto: E. Hahn
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Irgendwie erinnern mich die Schatten des Scherenschnitts an das Höhlengleichnis von Platon. Schattenhafte Umrisse üben schon eine große Anziehungskraft auf den Menschen aus. Ich zumindest möchte die empfohlene Dauerausstellung gerne besuchen. 😉
Sehr interessante Blogs und Fotos, ich habe viel von Lotte Reiniger erfahren. Ihr Papierschnitt erinnert mich an chinesisches Schattenspiel und Puppenspiel.