4,58 Kilogramm Papier seit über 13 Jahren schreibe ich Tagebuch. Dokumentieren, kommentieren und mit sich selbst kommunizieren. Tag für Tag, Gramm für Gramm wiegt mein Leben schwer in meinen Tagebüchern. Wie die Ringe eines Baumes, so wachse auch ich Jahr für Jahr, und produziere damit viel Papier. Das „Denken am Objekt“, wie Otl Aicher es nennt, fordert vor allem eines: Papier.

Mein Leben auf der Waagschale – Meine Tagebücher

„Niemand, der nicht schreibt, weiß, wie fein es ist, zu schreiben“ trägt Anne Frank am 4. April 1944 in ihr Tagebuch ein. Frank hätte ebenso gut von einem „Jemand“ sprechen können, der nicht schreibt und daher nicht wissen kann, wie fein es ist, zu schreiben. Anne Frank entscheidet sich dennoch für die Formulierung „Niemand“, um jene Nicht-Schreiber zu benennen. Der Ursprung des Begriffs „Niemand“ führt uns zum althochdeutschen „ni“, „eo“ und „man“ zurück. In Kombination bedeuten diese Wörter so viel wie „nicht irgendein Mensch“, ergo „kein Mensch“. Das Schreiben wird durch Anne Franks Begriffswahl zum Bestandteil einer menschlichen Person und ist somit konstitutiv für die menschliche Existenz. Niemand, der nicht schreibt, steht Jemandem, der schreibt, diametral gegenüber. Frei nach dem Motto: „Ich schreibe, also bin ich!“

Aus produktionstheoretischer Sicht kann das Schreiben als etwas Identitätsstiftendes betrachtet werden. Man vergewissert sich seiner selbst, indem man schreibt und über sich Zeugnis ablegt. Nun blättere ich durch meine alten Tagebücher und habe mehr und mehr das Gefühl: Ich ist eine Andere! Meine Handschrift hat sich verändert, meine Meinungen, Ansichten und Perspektiven auch. Ich erkenne, dass ich nicht war, wer ich zu sein glaubte. Mein zwölfjähriges Teenager-Ich stellt andere Forderungen an das Leben als mein fünfundzwanzigjähriges Selbst. In einer Angelegenheit scheinen sich die beiden jedoch einig zu sein: „Bewahre es gut auf!!!“ steht in großen Buchstaben auf einem meiner ersten Tagebücher geschrieben. Und das mache ich. Denn aus rezeptionstheoretischer Sicht wird die ganze Sache erst richtig interessant.

„Bewahre es gut auf!“ – Rückseite eines meiner frühen Tagebücher

Auf Spurensuche: Aggressive Striche und rosarote Linien

Viele, viele Einträge halten den Moment des Tagebuchschreibens fest und werden somit zu Zeugen meines sich verändernden Selbst. Der Prozess des Schreibens, Streichens und Gestaltens formt nicht nur das Papier, sondern auch das Selbst. Die Psychodynamik wird gewissermaßen materialisiert: Aggressive Linien bestimmen am 12. August 2009 das Blatt meines Tagebuchs. Am 4. August 2018 findet sich ein freundlicher, rosaroter Eintrag mit Zierde geschmückt. Ernsthafte Blockbuchstaben am 18. September 2006, in Anspannung geschrieben. Mein Leben hat Spuren hinterlassen.

Digitale Tagebücher machen Streichungen unsichtbar

Beim Lesen von digitalen Tagebüchern mache ich mich vergeblich auf die Spurensuche. Eine einheitliche Schrift glotzt mich aus dem Bildschirm heraus formatiert und standardisiert an. Wo ist die Dynamik? Wo die Veränderung? Vom Medium selbst scheint dies nicht mehr ablesbar zu sein. Dabei ist doch das Medium die Botschaft, laut Marshall McLuhan. Digitale Tagebucheinträge stützen sich allein auf ihren Inhalt, um Dynamik abzubilden. Eine Wortveränderung, die in einem analogen Tagebuch durch das Streichen und Überschreiben möglicherweise Aufschluss über die Persönlichkeitsstruktur des Schreibers geben könnte, findet sich in einem digitalen Tagebucheintrag nicht. Das Überschreiben wird durch das Schreibprogramm unsichtbar.

Nichtsdestotrotz bieten digitale Tagebücher neue Möglichkeiten der Ausdrucksform. Das digitale Schreiben sucht sich eigene Wege, die psychodynamischen Prozesse des Tagebuchschreibers auszudrücken und ihnen Form zu verleihen. So bilden verschiedene Schriftarten, Schriftgrößen und Farben das Grundgerüst des digitalen Tagebucheintrags, das um digitale Bilder, Verweise oder multimediale Inhalte ergänzt werden kann. In Weblogs können Blogger beispielsweise ihre Erlebnisse mit der Internetgemeinschaft teilen und somit den Radius ihres Schreibens vergrößern. Auch im Digitalen arbeitet das Schreibzeug, frei nach Friedrich Nietzsche, stets mit an unseren Gedanken. Die Frage der Darstellungsmöglichkeiten formt sowohl den digitalen als auch auch den analogen Tagebucheintrag.

Das Tagebuch ein Palimpsest

Vergleicht man Tagebücher mit einem Palimpsest – einem Schriftstück, von welchem der ursprüngliche Text zum Teil entfernt wurde, um es neu zu beschriften -, so wird deutlich, dass das Vorangegangene prägend und bedeutsam für das Neue zu sein scheint. Das Vorangegangene pflegt stets durch das Neue hindurchzuschimmern. Schicht für Schicht wird somit das eigene Selbst überschrieben und neugeschrieben. Man fragt sich, welche Konsequenzen das unsichtbare, digitale Überschreiben für das schreibende, sowie für das lesende Selbst der eigenen Tagebücher haben könnte.

Für das schreibende Selbst bedeutet die unsichtbare Überschreibung zunächst mehr Übersicht, Ordnung und Struktur. Kein „falsches“ Wort stört das Schriftbild. Die Verbesserung fällt als solche nicht auf, wodurch der Eindruck einer makellosen Textur entsteht. Das schreibende Selbst darf sich an der Ökonomie des Textes freuen. Erst das lesende Selbst, das doch einmal ein schreibendes Selbst gewesen ist, wird zum großen Verlierer des digitalen Überschreibens. Das unsichtbare Überschreiben sorgt für eine Abtragung der Persönlichkeitsschichten. Wo sich einst Schicht um Schicht im analog-materiellen Tagebuch sedimentiert fanden, liest nun das digital-rezipierende Selbst ein beinahe unbeschriebenes Blatt der eigenen Persönlichkeitsstruktur. Ohne das Papier, die vielen Schichten, fehlt dem Selbst Gewicht. Ein Jemand kann somit recht ökonomisch zum Niemand werden.

Zurück in die Zukunft

Ist das Selbst also von der Materialität des Papiers abhängig? In Bezug auf das Tagebuch trifft dies zum Teil zu. Das vergangene Selbst benötigt mitunter die Materialität, um in vollem Umfang in Erscheinung zu treten. Der Charakter des Selbst lässt sich hauptsächlich aus der Materialität der Tagebucheinträge und des Tagebuchs ableiten. Als charakteristisch dürfen hier die Graphologie, die Wahl und Beschaffenheit des Tagebuchs, sowie die Textstruktur angesehen werden. Auch digitale Tagebücher bieten neue Ausdrucksformen, die häufig an die Materialität ihrer analogen Ursprungsformen erinnern. Die ideelle Materialität findet im Digitalen somit ihre Fortsetzung. Die Materialität meiner Tagebücher korrespondiert beispielsweise in einem hohen Maß mit den verschiedenen Persönlichkeitsschichten meiner Selbst: Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, zu Beginn eines neuen Lebensabschnitts in ein neues Tagebuch zu schreiben. Manche Tagebücher sind mit einem Schloss versehen, andere sehr leicht zu öffnen. Teilweise wurden Fotos oder Zeichnungen eingeklebt, Seiten ausgerissen oder hinzugefügt. Beim Lesen alter Tagebucheinträge wird mir schnell bewusst, dass der Fluchtpunkt aller Einträge und Bearbeitungen stets die Zukunft des Lesens ist. Heute Abend werde ich wieder schreiben – zurück in die Zukunft.

 

8 Kommentare
  1. A. Schäfer
    A. Schäfer sagte:

    Das Tagebuch – ein Palimpsest – die eigene Entwicklungsgeschichte. Was für ein schöner, tiefsinninger und gut geschriebener Artikel! Herzlichen Dank.

  2. Ann-Christine S.
    Ann-Christine S. sagte:

    Früher habe ich selbst ziemlich oft in ein Tagebuch geschrieben, leider aber irgendwann damit aufgehört. Das, was du geschrieben hast, hat mich allerdings zum Nachdenken gebracht: Eigentlich gibt es ja nichts Schöneres, als ein paar Jahre später nochmal in einem alten Tagebuch zu stöbern und sich daran zu erinnern, was man damals erlebt, gedacht und gefühlt hat. Vielleicht fange ich doch mal wieder damit an…

  3. Judith Geyer
    Judith Geyer sagte:

    Vielen Dank für diesen persönlichen Einblick. Ich habe früher immer mal wieder versucht, Tagebuch zu schreiben. Dabei hat mir mal die Disziplin gefehlt, häufig habe ich mich aber auch ein bisschen albern gefühlt. Mehr als zwei Einträge sind es nie geworden. Nach deinem Artikel habe ich das Gefühl, dass mir dadurch vielleicht etwas entgangen ist.

  4. Rebecca Sahin
    Rebecca Sahin sagte:

    Ich finde deinen Beitrag sehr spannend und er sagt auch sehr viel über dich aus – ich finde es toll, wie du eine Leidenschaft für dich entdeckt hast und Tag für Tag in dein Tagebuch schreibst. Es ist so verrückt, wenn man frühere Tagebucheinträge durchliest und manchmal überlegt, ob man das tatsächlich selbst mal geschrieben haben soll. Auch wie du schreibst, dass sich die Handschrift und Meinungen ändern, das ist mir selbst auch aufgefallen – total spannend und super zu analysieren mit einem Tagebuch. Ich werde demnächst auch einen ähnlichen Beitrag schreiben in Bezug auf ehemalige Tagebucheinträge/Kassetten und einen Vergleich zu heute ziehen. Ich finde es erstaunlich, wie du bereits in so jungem Alter die Wichtigkeit von Tagebucheinträgen hervorgehoben hast, indem du die Titelseite der Tagebücher mit dem Kommentar „Bewahre es gut auf!!!“ versehen hast.

  5. Stefanie Hoschka
    Stefanie Hoschka sagte:

    Nachdem ich deinen Beitrag gelesen habe, habe ich meine eigenen Tagebücher wieder aus dem Schrank geholt und mir auch die Frage gestellt: Wieso schreibe ich heute kein Tagebuch mehr? Vielleicht weil wir heutzutage dank WhatsApp und Co. unsere Erlebnisse direkt mit Freunden und Familie teilen können und es dadurch festhalten? So steigt unsere Freude zwar nicht selten, weil andere sich mit freuen können, jedoch verschwinden die Nachrichten irgendwann in der Masse. Ein entfernter Freund und ich schicken uns des Öfteren Videos. Solange der Speicherplatz auf dem Handy nicht ausgeht, ist dies auch eine tolle digitale Alternative – die zeitgleich entfernte Personen auch näher bringt. Nichtsdestotrotz hat ein analoges Tagebuch natürlich deutlich längere Beständigkeit und trägt, wie ich vorhin gemerkt, auch Jahre später noch zur Erheiterung bei. b€SoNd€rS, w3nN iCh dAnN s0 €tWaS l3s3 ;D

  6. Kibrom Zereyohannes
    Kibrom Zereyohannes sagte:

    Eine Dokumentation deines Wachstums! Sehr wertvoll sowas! Ich bewundere deine Disziplin. Ich könnte das nicht, denn um ehrlich zu sein schreibe ich nicht mal gerne diesen Kommentar. 😀

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  1. […] uns Notizen. Viele schreiben sogar täglich in ihr Tagebuch, so auch Costanza, wie sie in ihrerem Artikel beschreibt. Warum wir trotz Modernisierungs- und Digitalisierungsentwicklungen immer noch am […]

  2. […] Tagebuchführen wird oftmals eine therapeutische Wirkung zugesprochen. Lifestyle-Gurus wie Tim Ferriss bewerben mittlerweile sogenannte Journals, in denen man täglich über sein Leben reflektiert. Das Formulieren seiner Gedanken scheint also einen positiven Effekt auf die Psyche zu haben. Aber woran liegt das? Im Gespräch mit Dr. med. Ute Inselmann, Fachärztin für psychotherapeutische Medizin, soll darauf eine Antwort gegeben werden. […]

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