Jeder ist wohl mit der Funktionsweise eines Fensters vertraut. Man kann den Blick von innen nach außen als auch von außen nach innen richten. Doch was ist mit den Fenstern, die gar keine Durchsicht ermöglichen, wie z.B. Kirchenfenster? Sind das überhaupt noch Fenster?

Durch das Kirchenportal hindurch begibt man sich in eine andere Welt. Der Geruch von alten Steinen und Holz liegt in der Luft. Es ist dunkel im Vergleich zum hellen Sonnenschein draußen und man traut sich fast keinen Laut von sich zu geben. Entlang der Kirchenbänke führt der Weg immer weiter bis hin zum Altar. Man fühlt sich etwas verloren und allein in diesem großen Gebäude. Doch sobald ein wenig Licht in die Kirche fällt, richtet sich der Blick nach oben. Meterhohe Glasfenster erwecken die Aufmerksamkeit, denn Geschichten aus längst vergangener Zeit werden durch die Einstrahlung des Lichts zum Leben erweckt. Es ist ein erhabener Moment, in dem man ganz bei sich und seinen Gedanken ist. Den Alltag lässt man hinter sich.

So oder so ähnlich hat sich sicherlich jeder einmal gefühlt, als er eine Kirche betreten hat. Auch ich gehöre zu diesen Personen. Zuletzt habe ich mich so gefühlt, als ich das Fraumünster in Zürich betrat. Die weltberühmten fünf Fenster von Marc Chagall ziehen jährlich Tausende von Besucher*innen aus der ganzen Welt in ihren Bann. Auf Drängen des damaligen Pfarrers des Fraumünsters Peter Vogelsanger schuf Marc Chagall den fünfteiligen Fensterzyklus für den Chor des Fraumünsters im Jahr 1970 in Zusammenarbeit mit dem Glasmaler Charles Marq in Reims. Die Fenster sind nach den Erzählungen benannt, die darauf zu sehen sind: das Prophetenfenster, Jakobsfenster, Christusfenster, Zionsfenster und das Gesetzesfenster. Ob christlich oder nicht, die Menschen bleiben vor diesen Fenstern stehen und richten den Blick nach oben zum Licht. Als ich diese Menschen beobachtete, tauchte die Frage, ob Kirchenfenster tatsächlich Fenster sind, wie von selbst in meinen Gedanken auf.

Die Fenster von Marc Chagall im Fraumünster in Zürich.

Fenster oder kein Fenster – das ist hier die Frage

Allerdings fehlte mir für die Beurteilung, ob Kirchenfenster wirklich Fenster sind, die Expertise. So machte ich mich zunächst auf die Suche nach Personen, die mir bei der Beurteilung helfen könnten. Als Gesprächspartner standen mir Inge Kirsner, Hochschulpfarrerin der Evangelischen Studierendengemeinde und apl. Professorin für Praktische Theologie an der Universität Paderborn, und Thomas Erne, emeritierter Professor für Praktische Theologie der Universität Marburg zur Verfügung. Von Inge Kirsner erhoffte ich mir einen Einblick in die mediale Sicht auf Kirchenfenster zu bekommen, da sie das Buch Wo finden wir die blaue Fee? Spiritualität im Film zusammen mit dem Theologen Thomas Böhm geschrieben hat. Kirchenfenster sind darin ein zentraler Bestandteil. Thomas Erne war neben seiner Tätigkeit als Professor auch Direktor des Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart in Marburg, sodass ich mir von ihm eine architektonische Sichtweise auf Kirchenfenster erhoffte.

Dabei wurde in beiden Gesprächen schnell klar, dass der Ursprungsgedanke eines Fensters von den Kirchenfenstern nur teilweise erfüllt wird. Ein Fenster soll Licht in einen Raum leiten und Schutz vor Witterungen wie z.B. Wind oder Regen bieten. Beides trifft auch auf die Kirchenfenster zu. Allerdings soll das Licht in Bezug auf die Kirchenfenster laut Thomas Erne weniger als Phänomen der Natur wahrgenommen werden, sondern als Prozess der Erleuchtung. Das Licht wird durch die Fenster geleitet und somit für das menschliche Auge sichtbar gemacht. Dadurch erhalten die Fenster eher den Charakter eines Bildes. Auch deswegen, weil durch das Licht die Glasmalereien auf den Fenstern erst erkennbar werden.

Kirchenfenster als Medien des Lichts

Gerade wenn es sich um ältere Kirchenfenster handelt, geht manchmal das Wissen darüber verloren, welche Bedeutungen sich hinter den Motiven der Glasmalereien verbergen. Beispielsweise war es aufgrund mutwilliger Zerstörungen und Kriegsereignisse notwendig, dass die Kirchenfenster der Stiftskirche St. Georg in Tübingen in den Jahren 1847 bis 1849 neu angeordnet wurden. Der Glasmaler Friedrich Pfort ordnete nicht nur die Scheiben innerhalb der Fenster neu an, sondern fasste die mittleren drei Fenster sogar zusammen. Durch diese Beeinträchtigungen ging das ursprüngliche Gesamtkunstwerk verloren und damit auch dessen Bedeutung, wie Sibylle und Wilfried Setzler in Die Stiftskirche Tübingen: Geschichte – Architektur – Kunstschätze schreiben. Jeder kann die verschiedenen Bilder jedoch heutzutage neu interpretieren. Ähnlich einem Buch oder einem Film. Dadurch bieten die Fenster frei von dem Ort, an dem sie sich befinden, einen Zugang zu einer individuellen Geschichte. Jeder kann die Bilder und Symbole unabhängig von seiner Religion oder Herkunft lesen.

Auch bieten die Kirchenfenster laut Inge Kirsner in gewisser Weise einen Schutz vor der nackten Existenz. Sie geben uns einen Ort, an dem wir über die Glasmalereien nachdenken können, wenn wir am (räumlichen) Ende unserer Erkundung durch die Kirche angekommen sind. Wir können innehalten und den Augenblick einfach auf uns wirken lassen. Es ist vergleichbar mit einer Art Kunsterlebnis – wie man es auch in einer Kunstgalerie haben würde.

Vom Chor aus ein Blick auf die Kirchenfenster im Erfurter Dom.

Kirchenfenster als fragile Momentaufnahmen des Augenblicks

Manche Kirchenfenster sind auch nicht dazu gedacht, für die Ewigkeit festgehalten zu werden. So ist das Richter-Fenster im Südquerhaus des Kölner Doms dafür bekannt, nicht fotografiert werden zu können. Das Fenster wurde von Gerhard Richter entworfen und enthält 11.263 Farbquadrate in 72 Farben mit den Maßen 9,6 x 9,6 cm. Mithilfe eines Computers errechnete Gerhard Richter per Zufallsprinzip die Farbquadrate. Nur an einigen Stellen nahm Gerhard Richter selbst Anpassungen vor. Bei Tageslicht entsteht so eine Art Farbklangteppich, der in seiner farblichen Vielfalt nicht fotografiert werden kann.

Ein Zustand, der auch schon im Aufsatz des Philosophen Walter Benjamin „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ eine Rolle spielte. Denn wenn man doch versucht, die Richter-Fenster zu fotografieren, verliert das Fenster in gewisser Weise seine Aura. Eben jener Teil, der das Kunstwerk lebendig werden lässt. Man kann die Erfahrung nicht reproduzieren. Das Auge kann den Moment wahrnehmen, aber nur das Gedächtnis ist in der Lage, diesen Moment für die Ewigkeit festzuhalten.

Sind Kirchenfenster nun Fenster?

In Anbetracht aller gesammelter Fakten bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass Kirchenfenster keine Fenster sind. Sie sind lichtdurchlässige Gemälde, Geschichten mit einer Symbolkraft, Erinnerungen, aber keine Fenster im eigentlichen Sinn. Sie bieten uns einen Ort für unsere Gedanken. Einen Platz, an dem man für einen Moment innehalten und über sich und die Welt nachdenken kann. Natürlich auch einen Schutz vor Witterungen, doch der symbolische Charakter überwiegt für meinen Geschmack deutlich. Selbst wenn man nicht dem christlichen Glauben angehört, können uns diese Fenster in ihren Bann ziehen. Die Kirchenfenster fügen dem ursprünglichen Fenstergedanken zusätzliche Bedeutungen hinzu und machen sie so zu einer ganz besonderen Erfahrung.

 

Ihr habt noch nicht genug von unseren Fenster-Beiträgen? Dann folgt uns auf Instagram (look outside)! Mehr zum Thema lest ihr außerdem hier (look inside).

Logo look inside look outside