Kein schöner Anblick, dafür ein wunderschöner Ausblick. Das höchste Fenster Tübingens ist nicht leicht zugänglich. Doch die Suche hat sich gelohnt.
Tübingen ist hügelig. Daher ist das höchste Fenster auch auf einem dieser Hügel zu erwarten. Simone Malcher vom Stadtmuseum vermutet, dass das höchste Haus wohl im Tübinger Stadtteil Waldhäuser Ost (WHO) liege. Freundlich und geduldig trägt sie auf einem Stadtplan die vermutete Position des Hauses ein. Dort sei vor kurzem ein Spezialkran verwendet worden, um etwas an besagtem Hochhaus zu reparieren. Normale Kräne reichten nicht aus, weil diese nicht hoch genug seien. Nebenbei erzählt Frau Malcher von einer Outdoor-Ausstellung des Stadtmuseums Tübingen, welche sich durch WHO zieht. „Vom Keltengrab zum Wolkenkratzer“ heißt die Ausstellung, die auf 14 Tafeln entlang eines etwa vier Kilometer langen Rundwegs über die Geschichte des Stadtteils erzählt. „Wolkenkratzer“ klingt vielversprechend.
Der erste Juni 2023 ist ein herrlicher Sommertag mit Sonnenschein und blauem Himmel. Perfekte Voraussetzungen, um in Tübingen nach schönen Ausblicken zu suchen. Beim Ausstieg aus dem Bus, an der Haltestelle WHO Ahornweg, ragt das von Frau Malcher beschriebene Hochhaus direkt prominent in den Himmel hinauf. Es handelt sich um das Haus im Weißdornweg 14.
„Die Architektur in Waldhäuser-Ost ist geprägt vom Brutalismus (von französisch „béton brut“ = roher Beton, Sichtbeton).“ So ist es auf einer der Informationstafeln des Stadtmuseums zu lesen. Ein Baustil, der heute nicht mehr besonders ansprechend wirkt. Der kahle Beton und die geraden Linien wirken kühl und abweisend. Doch an vielen der Häuser frischen bunte Farben das Stadtbild auf.
Beim weiteren Erkunden von WHO entlang der Outdoor-Ausstellung des Stadtmuseums dienen die Hochhäuser als Orientierung. Sie sind von überall sichtbar und überragen die anderen Gebäude deutlich. Auch aus der Ferne wird klar, dass sich Tübingens höchstes Fenster tatsächlich in einer der obersten Wohnungen des besagten Hochhauses befinden muss.
Ganze 277 Klingelschilder lassen sich am Eingang des Weißdornwegs 14 zählen. Wo genau nun also klingeln? Hinter welcher Klingel in der obersten Reihe befindet sich das höchste Fenster? Und wer wäre bereit, seinen Ausblick für diesen Beitrag zu teilen?
Wo seid Ihr dem Himmel so nah?
Frau Pietruschka bringt gerade den Müll heraus. Ihr Mann habe eine Sauerei in der Küche gemacht, erklärt sie. Und der Teppich sei ohnehin schon alt gewesen. „Wollen Sie mit auf die Dachterrasse?“ fragt sie nach einem kurzen Gespräch verschmitzt.
Oben angekommen stellt sich heraus, dass die Klingelschilder des obersten Stockwerks nicht zum eigentlichen Ziel dieser Suche geführt hätten. Das höchste Fenster Tübingens liegt noch ein Stockwerk höher in der 21. Etage, über den obersten Wohnungen. Das Fenster ist in eine Tür eingelassen, die auf die Dachterrasse des Hochhauses führt. Es handelt sich dabei um kein schönes Fenster – doch der Ausblick dahinter ist atemberaubend.
„Der Rundblick ist einzigartig“ und „Wo seid ihr dem Himmel so nah?“ steht auf einem Zettel, der an Tübingens höchstem Fenster klebt. Er richtet sich an die Bewohner*innen. Beim Anblick dieser Bekundungen ist klar: die Suche nach dem höchsten Fenster Tübingens ist abgeschlossen. Aber wie hoch liegt das Fenster denn nun? Laut Google-Navigationsdaten befindet sich der Eingang des Hochhauses auf etwa 463 Metern über dem Meeresspiegel. Und wie das Schwäbische Tagblatt schreibt, ist das Haus am Weißdornweg 14 etwa 62 Meter hoch. Zieht man nun großzügig zwei Meter ab, da das Fenster nicht dem höchsten Punkt des Gebäudes entspricht, so liegt das höchste Fenster Tübingens auf der imposanten Höhe von 523 Metern.
Frau Pietruschka geht zweimal täglich hier hoch. Um die Gedanken ziehen zu lassen und die Aussicht zu genießen. Sie erzählt, dass das Dach bis vor kurzem undicht war und deshalb ein besonderer Kran hier stand, mit dessen Hilfe Bauarbeiten auf dem Dach durchgeführt wurden.
Die Dachterrasse ist nach Süden ausgerichtet. Über den gesamten Horizont erstreckt sich die Schwäbische Alb. Blickt man nach Osten, ist in der Ferne Reutlingen zu sehen. Davor liegen der Tübinger Ortsteil Lustnau und das Wohngebiet Sand auf dem Denzenberg.
Zentral, direkt vor dem Hochhaus befindet sich das Studierendendorf mit seinen zahlreichen Wohnheimen. Dahinter liegt die Universität im Tal vor dem Österberg. Im Winter könne man von hier oben die Menschen beim Schlittenfahren auf dem Österberg beobachten, erzählt Frau Pietruschka. Blickt man weiter nach Westen, sieht man hinter dem Gebäude von Tübingens sogenanntem „AI Center“ die Ausläufe des Ammertals. Dahinter sind sogar die Umrisse der Burg Hohenzollern auf ihrem Bergkegel zu erkennen.
Diese Aussicht ist einmalig. Tübingens höchstes Fenster ist unscheinbar und soll eigentlich nur etwas Licht in das Treppenhaus hereinlassen. Doch der Blick hindurch, auf alles was dahinter wartet, ist überragend schön.
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