Was haben Kirchenfenster mit Wein zu tun? “Eine Menge!” sagen eingefleischte Weinkenner, denn Wein hinterlässt einzigartige Spuren. Wo manche sofort an gerötete Wangen und ein warmes Wohlgefühl in der Bauchregion denken, suchen andere nach vermeintlich nebensächlichen Flecken am Glas, die Rückschlüsse auf die Beschaffenheit des Getränks zulassen. Was sogenannte “Kirchenfenster” in Gläsern zu suchen haben und was sie bedeuten, erfahrt ihr in diesem Artikel.

Kirchenfenster, Tränen, Beine oder Marangoni-Effekt – Schlieren, die Wein im Glas hinterlässt, erfreuen sich vielerlei Bezeichnungen. Es war der italienische Physiker Carlo Giuseppe Matteo Marangoni (1840–1925), der das Phänomen zwar nicht erfand, aber zum ersten Mal ausgiebige Untersuchungen zu Tränen in Weingläsern getätigt hat. Im Jahre 1865 graduierte er mit der Dissertation „Über die Ausbreitung von Flüssigkeitströpfchen“, in der es vor allem um Oberflächenphänomene von Flüssigkeiten ging.

Wie entstehen Kirchenfenster und was hat der Marangoni-Effekt damit zu tun? 

Der Hauptbestandteil von Wein ist Alkohol und Wasser. Die Verdunstung von Flüssigkeit, also der Siedepunkt beider Inhaltsstoffe, sowie die Oberflächenspannung spielen bei der Bildung von Kirchenfenstern eine entscheidende Rolle. Auch wichtig für den Effekt ist die Fähigkeit bestimmter Flüssigkeiten, Oberflächen zu benetzen. Trotz der homogenen Mischung, die sie eingehen, verhalten sich Wasser und Alkohol physikalisch völlig unterschiedlich, da letzteres eher zum Übergang in den gasförmigen Zustand tendiert, was unter anderem die größere Grenzflächenspannung des Wassers, die der Verdunstung im Weg steht, zu verantworten hat.

Beim Schwenken des gefüllten Glases wird die Innenwand mit einem Flüssigkeitsfilm befeuchtet, wobei sich große Luftoberflächen bilden. Da Alkohol schneller verdunstet als Wasser, bleibt letzteres in größerer Menge übrig und zieht sich aufgrund der Oberflächenspannung zusammen.

Um den Unterschied nun auszugleichen, entstehen sogenannte Ausgleichströmungen, wobei Wasser den Weinfilm nach oben zieht, während noch mehr Alkohol verdunstet und das Wasser stetig zunimmt. Nach und nach bilden sich durch diesen Vorgang kleine Tropfen, die aufgrund der Schwerkraft in unterschiedlichen Formationen und Abständen wieder hinabfließen. Dabei bleiben Rückstände zurück – kunstvoll angehauchte Aussparungen und blankes Glas dazwischen. Runde und spitze Bögen und kunstvolle Formationen verleihen dem Effekt den Begriff Kirchenfenster.

Dabei handelt es sich also nicht um einen chemischen Vorgang beim Trinken, sondern um einen physikalischen Prozess des Getränks. Das Glas an sich reagiert nicht chemisch mit dem Wein, sondern bildet lediglich die Oberfläche, auf welcher der Effekt zum Tragen kommt.

Was sagen Kirchenfenster über den Wein aus? 

„Kirchenfenster entstehen aus der Zusammensetzung zwischen dem Alkohol- und Wassergehalt“, fasst Oliver Mladenovic von Genuss Werk in Albstadt im Interview zusammen. „Diese bilden eine Viskosität und deuten an, wieviel Extrakt der Wein hat. Je mehr Alkohol im Wein vorhanden ist, desto deutlicher ist diese Tränen- oder Fensterbildung im Glas.“

Die Abstände zwischen den Tränen sowie die Form der Fenster, entweder rund- oder spitzbogig, lassen also Rückschlüsse auf den Alkoholgehalt zu. Der Alkoholgehalt ist vergleichsweise höher, wenn die Tränen eng hinabfließen und die Kirchenfenster dazwischen spitzer wirken lassen. Wenn die Tränen dünner sind und die Kirchenfenster sich runder und breiter herausbilden, ist der Alkoholgehalt geringer.

Faktoren, die den Effekt beeinflussen können, sind zum einen Zucker oder andere Inhaltsstoffe, wie etwa durch Fassreife entstandene Geschmacks- und Aromastoffe. Hohe Viskosität, also viel Zucker, bedingt demnach breitere Tränen, aber schmalere Kirchenfenster. Auch Gläser, so wenig deren chemische Komponente auch zum Effekt beitragen, können diesen nachhaltig beeinflussen, und zwar durch ihre Form. Schmalere Glaskelche wie bei Schnapskelchen oder Weingläsern bringen den Marangoni-Effekt stärker zur Geltung als Gläser mit Zylinderform. Und mundgeblasenes Glas bringt komplexere Kirchenfenster hervor als Industriegläser.

Schwacher Marangoni-Effekt – minderwertiger Wein? 

„Nein“, sagt Oliver Mladenovic. „Die Ausprägung der Kirchenfenster oder Tränen hat eigentlich keinen Einfluss auf die Qualität vom Wein, sondern eher auf den Alkoholgehalt oder den Extrakt. (…) Von der Tränenbildung kann man jetzt nicht unbedingt auf die Qualität vom Wein schließen. Es kann ein Indiz von einem guten Wein sein, aber das als Qualitätsmerkmal nehmen kann man eigentlich nicht.“

Ein Alkoholgehalt von mindestens zwölf Prozent sollte aber Voraussetzung für einen sichtbaren Effekt sein. Je höher die Komplexität, desto höher die Lagerfähigkeit.

Schwache Tränen, kaum zu erkennende Kirchenfenster: Mein Selbstexperiment bestätigt den niedrigen Alkoholgehalt von 10 Prozent des von mir ausgesuchten, leicht erschwinglichen Weins.

Wer sich also abends einen guten Wein einschenkt und das Glas leicht umherschwenkt, kann sich nach kurzer Zeit über eine tränenreiche Flüssigkeit freuen. Der Prozess der Kirchenfenster-Bildung ist sichtbar, jedoch nicht nur durch Wein, sondern auch bei anderen Flüssigkeitsmischungen, solange sie unterschiedliche Siedepunkte vorweisen. Tropfen rutschen in unregelmäßigen Abständen zurück an den Glasboden und bilden interessante Muster. Ob man diese Muster nun als Beine, Tränen, Marangoni-Effekt oder Kirchenfenster bezeichnet, ist jedem selbst überlassen. Interessant zu beobachten ist es auf jeden Fall.

 

 

Titelbild: Pixabay @tedbilich

 

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