zEs rettete Soldaten das Leben, umschmeichelte die Beine einer Frau, war Symbol des Wirtschaftswunders und zählt zu den revolutionärsten Entdeckungen des 20. Jahrhunderts: Nylon. Eine Kunstfaser, die die Welt eroberte. Wie Nylon in den 1950er Jahren für viele Frauen zum Traum aus Kunstoff wurde, verrät Modedesignerin Edith Eiermann.
Zunächst war Nylon für Zahnbürsten gedacht. Doch der Erfinder fand bald eine bessere Verwendung: Statt für saubere Zähne sorgte das neue Material nun für schöne Beine. Vor 82 Jahren kamen die ersten Nylonstrümpfe auf den Markt und brachten Frauen in Ekstase. Die Erfolgsgeschichte des Nylon beginnt im Jahr 1939, als die amerikanische Firma Firma E.I. du Pont de Nemours and Company, kurz DuPont, in New York ihre neuste Innovation unter dem Slogan „Ein besserer Faden für ein besseres Leben“ ankündigte.
Ein Tag, der in die Geschichtsbücher einging
In einer landesweiten Aktion bot die Firma DuPont am 15. Mai 1940 erstmals Nylonstrümpfe zum Verkauf an. Hysterie und Euphorie verbreitete sich unter den Damen, die vor den Kaufhäusern New Yorks Schlange standen. Es kam sogar zu Tumulten. Jede Frau träumte von echten Seidenstrümpfen, doch diese waren für die meisten zu teuer. Zwar gab es m it Kunstseide auf Cellulose-Basis bereits eine preiswerte Alternative, doch das Nylon versprach, elastischer und strapazierfähiger zu sein. Es sollte außerdem leichter zu waschen sein – und wunderschöne Beine machen. „Jede Frau wollte die neuste Errungenschaft der Textilindustrie haben“, erklärt Edith Eiermann, Modedesignerin der Modeschule Kehrer in Mannheim.
Trotz einer Beschränkung von einem Paar pro Kundin übertraf der Erfolg alle Erwartungen. Über fünf Millionen Paar Nylonstrümpfe gingen an diesem Tag über die Ladentheke. Eine wahre Sensation, sodass der 15. Mai 1940 als „Nylon-Day“, kurz „N-Day“, in die Geschichtsbücher eingeht. „Es war nicht nur die neuste Innovation, sondern wohl auch das Gefühl von Zugehörigkeit; der Gedanke an: Ich will auch so ein Teil haben“, was das Spektakel an diesem Tag auslöste, wie Edith Eiermann erzählt. Seither waren die Nylonstrümpfe aus der Mode nicht mehr wegzudenken.
Die USA als Pionier der Nylonstrümpfe
Doch wer war für die begehrte Kunstfaser verantwortlich? DuPonts Forschungsleiter und Erfinder des Nylon: Wallace Hume Carothers. Ihm war es im Jahr 1927 erstmals gelungen aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff die erste rein synthetische Faser herzustellen. Ein erster Schritt in Richtung Super-Kunststoff. Aus Zufall entdeckte Carothers bei seinen Experimenten ein Polymer, das sich in lange, geschmeidige Fäden ziehen ließ. Erst später, im Jahr 1935, gelang es mithilfe eines neuartigen Verfahrens, des sogenannten Schmelzspinnens, einen künstlichen Textilfaden herzustellen. Dabei wurde bei über 280 Grad das flüssige Polymer durch Platindüsen gepresst, in einem kühlen Luftstrom abgeschreckt und zur weiteren Verarbeitung schließlich auf Spulen gewickelt. Es war die Geburtsstunde der synthetischen Faser. Der Chemiegigant DuPont begann daraufhin mit der Produktion erster Nylon-Teststrümpfe.
Im nationalsozialistischen Deutschland entdeckte 1938 der Chemiker Paul Schlack, Leiter der Forschungsabteilung bei Aceta in Berlin-Lichtenhagen, einer Firma der IG-Farben, eine Lücke im Patent von DuPont. Er experimentierte mit Substanzen, die die Amerikaner als ungeeignet verworfen hatten. Das Experiment gelang: Schlacks Kunstfaser, zunächst Perluran, später Perlon, unterschied sich äußerlich kaum vom Vorbild Nylon, war in der Herstellung jedoch völlig verschieden. Für den damals größten Industriekonzern IG-Farben entwickelte er dann die nahezu identische Faser: Perlon.
Fallschirme statt Strümpfe
Doch die deutsche Damenwelt musste vorerst auf Perlonstrümpfe verzichten. Denn in Deutschland begann der Krieg. Die IG-Farben war eng in die Kriegsvorbereitungen einbezogen, denn Ziel war es, Deutschland von der Einfuhr kriegswichtiger Materialien unabhängig zu machen. Der Zweite Weltkrieg brachte die Kunstfaser ins Zentrum des Weltgeschehens. Die Produktion für die zivile Nutzung wurde eingestellt, denn die strapazierfähige und formbare Faser wurde nun für Kriegsmaterialien gebraucht. Nylon avancierte zum kriegswichtigen Gut: Statt Nylonstrümpfen wurden Fallschirme, Uniformen, Zelte und Seile aus der Kunstfaser hergestellt.
Zur Not wird die Naht aufgemalt
Nach dem Krieg lag die Kunstfaserindustrie in Deutschland brach, denn mit Ende des Krieges folgte die Auflösung der IG-Farben. Feinstrümpfe wurden zur absoluten Mangelware. Lediglich Frauen mit Beziehungen in die USA konnten in den Besitz der begehrten Nylonstrümpfe gelangen. Nylon und Perlon wurden zum Inbegriff des aufziehendes Wohlstands und zum begehrten Statussymbol der Frauen. Der Wirtschaftswunder-Faden versprach ihnen ein neues Lebensgefühl. „Es war ein Hauch von Exklusivität und Luxus für Frauen“, wie Edith Eiermann berichtet.
Wer keinen Zugriff auf die erträumten Nylonstrümpfe hatte oder sich die teuren Strümpfe schlichtweg nicht leisten konnte, behalf sich mit Produkten wie „Farbstrumpf Coloral Sonnenbraun“, das sich wie ein Make-up auf die Beine auftragen ließ. Die schwarze Naht am Bein wurde mit einem Kajal-Stift imitiert.
Der Verkaufsschlager der 1950er Jahre
Die Textilindustrie in Deutschland setzte erst in den 1950er Jahren im großen Stil auf die Kunstfaser, denn vier Jahre nach Kriegsende begann im ehemaligen IG-Farben-Werk in Bobingen bei Augsburg die kommerzielle Produktion von Perlon. Unter der Leitung von Chemiker Paul Schlack stellte die Fabrik 15 Tonnen Perlonfaser her. Im Jahr 1951 gingen 30 Millionen Nylonstrümpfe, das Paar für zehn Mark, über den Ladentisch. Vier Jahre später waren es schon 100 Millionen, nun kosteten sie nur noch drei Mark. Der Nylonstrumpf entspricht dem rasanten Tempo der neuen Zeit: schnell zu waschen, schnell zu trocknen, bügelfrei. Der Siegeszug der Nylonstrümpfe war auch in Europa nicht mehr aufzuhalten. Die deutsche Perlon-Produktion lief auf Hochtouren und die Absatzzahlen stiegen rasant. Schließlich wurden Nylonstrümpfe zum Verkaufsschlager der 1950er Jahre.
Perlon zwischen Ost und West
Die bundesdeutschen Hersteller sahen in der Produktion von Perlon in der DDR eine lästige Konkurrenz, denn eigene Kunstfaser-Strumpfhosen konnte die DDR-Wirtschaft erst ab 1963 produzieren. Zuvor wurden diese teuer aus dem Westen importiert. 1952 schützten die Westfirmen Perlon als Marke und verklagten daraufhin die DDR. Die Genossen entwickelten ihre eigene Marke: Dederon – eine Wortschöpfung aus DDR und der Silbe ‚on‘. Die Feinstrümpfe wurden aus Dederon-Faser, dem „Faden vollendeter Verlässlichkeit“ gefertigt, wie es in der Ostwerbung hieß.
Nylonstrümpfe erhalten Einzug in die Kleiderschränke der Frauen
Die Strümpfe waren Teil der weiblichen Inszenierung: Sie sollten dabei helfen, alleinstehenden Frauen einen gut situierten Mann zu finden; Nylonstrümpfe funktionierten als potenzieller Heiratsvermittler. „Es war ein Gefühl von Nichts an den Beinen und trotzdem fühlte man sich angezogen“, erzählt Edith Eiermann. Dieses Werbevideo der Strumpffabrik Baumhüter führt vor Augen, welche magnetische Männeranziehungskraft die Werbeleute den Nylonstrümpfen in den 1950er Jahren andichteten.
Die hauchzarten Beinhüllen wurden behandelt wie zerbrechliche Ware: Die tägliche Maniküre, um die feinen Gewebe nicht zu beschädigen, gehörte für Hunderte Mitarbeiter*innen der Perlonfabriken zum Arbeitsalltag. Hatten die begehrten Nylonstrümpfe doch eine Laufmasche, musste man schnell sein: „Mit Nagellack oder Kleber versuchte man die laufende Masche aufzufangen, um seine geliebten Nylonstrümpfe zu retten“, sagt Modedesignerin Eiermann. Mode war in den 1950er Jahren eben noch kein Wegwerfprodukt.
Eine Sensation wird Alltag
Der Nylonstrumpf. Ein Symbol des Fortschritts und der Sinnlichkeit. Er verkörperte alles, was in dieser Zeit angesagt war: Sauberkeit, Funktionalität und spießigen Schick. Doch Ende der 1960er Jahre ließen Perlon und Nylon ihre besten Jahre hinter sich. Das Interesse nahm ab – die Sensation wurde zum Alltag. Neue Kunstfasern wie Polyester, die die Haut besser atmen lassen, eroberten den Markt.
Seit den 1990er Jahren müssen die Strümpfe mehr als nur gut aussehen. Der Feinstrumpf ist inzwischen multifunktional: Er macht schlank, hebt den Po, lässt den Bauch flacher und die Beine wohl geformt erscheinen. Auch Farbe, Muster, Materiali und Form der Strümpfe sind heute keine Grenzen gesetzt. Den Ruf des Schönen und Exklusiven hat sich der Nylonstrumpf bewahrt. Mittlerweile nun schon mehr als sechs Jahrzehnte.
Titelbild: © Flickr
Ihr habt noch nicht genug von unseren fantastischen Plastik-Beiträgen? Dann folgt uns auf Instagram!
Mehr zur Geschichte der Nylonstrümpfe seht Ihr in dieser ZDF-Dokumentation. Weitere interessante Beiträge zum Thema Plastik findet ihr außerdem hier – oder abonniert unseren Newsletter!
Super interessanter Beitrag! Ich fand es spannend, dass das Material im Krieg auch für Fallschirme, Seile und ähnliches eingesetzt wurde. Die Bilder sind super! Da kann man sich gut vorstellen, wie begehrt die Nylonstrümpfe damals waren und dass sie mehr waren als nur ein Kleidungsstück.
Ein sehr schöner Beitrag bei dem ich viel dazugelernt habe 🙂 Wie bei anderen Materialien, konnte die Alternative meist das teure Produkt massentauglich machen, dementsprechend ist der große Hype um Nylonstrümpfe sehr gut nachzuvollziehen. Spannend fand ich ebenfalls, dass während dem zweiten Weltkrieg Nylon dann für Fallschirme und Ausrüstungen verwendet wurde.