Den Gegenpol zur Arbeit bildet die Freizeit. Zeit für Hobbys, persönliche Projekte oder aktives Nichtstun. Zeit für Selbstbestimmung, fernab von Verpflichtungen. Die Freizeit untersteht einem ständigen Wandel, der durch gesetzliche Rahmenbedingungen und Trends mitbestimmt wird. Mithilfe digitaler Arbeitsmittel wie Smartphones und Tablets sind wir überall, jederzeit erreichbar und können tote Zeit effektiv nutzen. Doch wie wirkt sich die Produktivität rund um die Uhr auf unsere Leistung aus?
„Duration of the piece: 12 days
Food: no food
Water: large quantity of pure mineral water
Talking: no talking
Singing: possible but unpredictable
Writing: no writing
Reading: no reading
Sleeping: 7 hours a day
Standing: unlimited
Sitting: unlimited
Lying: unlimited
Shower: 3 times a day“
Die Performance-Künstlerin Marina Abramović begibt sich auf eine Empore. Dort ist eine Liege, ein Stuhl, ein Tisch, ein Metronom, eine Dusche und ein WC aufgebaut. Die nächsten zwölf Tage wird sie zu einer Ausstellungsfigur für die Besucher der New Yorker Sean Kelly Gallery. Tag und Nacht bestehen aus Restriktion und Stille. Es herrscht ein Verbot des Sprechens und der Nahrungsaufnahme, unter der ständigen Beobachtung der Besucherinnen und Besucher. Alles wird nach einer strikten Routine ausgeführt. Die Performance erinnert an ein religiöses Reinigungsritual. Die Resonanz der Besucher ist sensationell. Einige Zuschauende bleiben stundenlang vor der Empore stehen und beobachten die Künstlerin beim Nichtstun. Doch welche Intention steckt hinter dieser Darstellung? Die serbische Künstlerin, die für ihre provokanten künstlerischen Darbietungen bekannt ist, will mit dieser Performance durch Askese ein Energiefeld erzeugen. Dies soll von der Künstlerin ausgehend auch die Besucherinnen und Besucher mitreißen.
Viele Überstunden führen zu psychischer Belastung
Das Nichtstun ist ein gegenwärtiges Phänomen, das sich als Gegenpol zur Arbeit heraus kristallisiert. Die Globalisierung zu Beginn der 2000er Jahre hat eine Arbeitszeitsteigerung zufolge, wodurch die Freizeit in den Fokus rückt.
Neben dem Generationswechsel auf dem Arbeitsmarkt erfährt auch der Bezug zur Arbeit einen Wandel. Der Generation Y wird nachgesagt, dass der Ausgleich zwischen Arbeit und Freizeit äußerst bedeutungsvoll ist. Und das mit Folgen: Dieser Trend bringt eine Steigerung mentaler und physischer Gesundheit der Menschen mit sich. Auch Diplompsychologin und Selbstmanagement-Coach Brigitte Schäfer ist der Ansicht, dass übermäßig viele Überstunden zu psychischer Belastung und Problemen führt. Wobei nicht die Überstunden per se, sondern der Ablauf des Arbeitsalltags entscheidend sei:
In der Schweiz liege das Stundenpensum seit Jahren über dem Deutschen, dennoch läuft der Arbeitsalltag im Vergleich entspannter ab, wodurch die Überstunden vom Individuum in der Schweiz weniger belastend empfunden würden als in Deutschland. Der Zwang zur konstanten Leistungserbringung sei in der Schweiz weniger hoch.
Regeneration liefert neue Energie
Es herrschen unterschiedliche Meinungsbilder zur Arbeitszeitsteigerung. Einige Bewegungen versuchen den chronischen Überstunden und der Dauererreichbarkeit entgegenzuwirken, um die Lebensqualität zu steigern. Dies hängt damit zusammen, dass unterschiedliche Ausprägungen des Nichtstuns existieren. Faulheit und Antriebslosigkeit stellen eine Seite der Medaille dar. Menschen sind dabei träge und nicht im Geringsten intrinsisch motiviert. Wohingegen bewusstes Nichtstun als erholsamer und essentieller Ausgleich zur Arbeit dienen kann und auch als solches gesellschaftlich akzeptiert ist.
Nichtstun hat viele Gesichter: Verzicht, Verweigerung, Kapitulation, Faulheit oder Gleichgültigkeit. Schäfer sieht Langeweile hingegen als bewusste Tätigkeit an. In dieser genießt man lediglich den Moment und im selbigen untätig zu sein. Sie unterscheidet dabei noch den Begriff Regeneration. Während man bei Langeweile bewusst das Nichtstun genießt, übt man bei Regeneration eine Tätigkeit aus, die einem wieder neue Energie liefert. Dabei ist „für jeden Menschen individuell, was ihn gut regenerieren lässt“. Ausschlaggebend ist nur, was ihn aus dem Tätigsein im Sinne von Arbeit herausnimmt. Das heißt auch Belastungen, die damit verbunden sind, um Energie zu tanken.
Bewusste Langeweile als produktiver Zustand
Schäfer hält bewusste Langeweile für einen wichtigen und produktiven Zustand, der sich positiv auf das Gehirn auswirkt. Langeweile ist das Zulassen des Nichtstuns, es wird keiner Tätigkeit nachgegangen, was die Aufmerksamkeit des Individuums lenkt und dessen Aufmerksamkeit bindet. Das Individuum gibt sich diesem Zustand hin. Sich in einer Untätigkeit zu befinden, das ist Langeweile.
Im heutigen Zeitalter der Digitalisierung sind wir permanent Reizen durch digitale Endgeräte ausgesetzt. Dadurch verringern wir unseren Kreativitätsfluss und das Auftreten neuer Ideen. Obwohl einer vermeintlich produktiven Tätigkeit nachgegangen wird.
Zwischen den beiden Enden des Spektrums – Langeweile und Freizeit – existieren eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten: Innere Freiheit, das Selbst vergessen, spielende Tätigkeit oder ein Mangel an Rationalität stellen nur einige ausgewählte Beispiele dar. Dies bahnt den Weg zu fließenden Übergängen zwischen bewusstem und verlorenem Selbst. Dieser fließende Übergang spiegelt sich auch im Wandel der Zeit wider. Während es in der Antike nur Adligen gegönnt war, das Phänomen an sich zu erfahren, so hat das Nichtstun heutzutage durch die mediale Darstellung von Arbeitslosigkeit eine völlig andere Bedeutung.
Zuviel Freizeit?
Doch auch wenn wir viel Freizeit und Nichtstun als etwas Positives ansehen können, stellt sich die Frage, ob wir auch zu viel davon haben können? Schäfer ist der Meinung, dass die Antwort auf diese Frage vollständig von der jeweiligen individuellen Person abhängig ist. Jemand, der zum Beispiel viele Interessen verfolgt, kann kaum genug Freizeit haben.
Doch wie verbringt man Wartezeit oder eine Zugfahrt? In den Medien ist die sogenannte „tote Zeit“ negativ konontiert. Völlig zu unrecht, meint die Diplompsychologin. Tote Zeit sei wertvoll. Schäfer sieht sie als geschenkte Zeit, die man zur Verfügung hat, um zur Ruhe zu kommen und zu meditieren.
Marina Abramovićs Performance rückt die Wichtigkeit dieses Themas in den Vordergrund. Es lässt sich festhalten, dass es völlig unterschiedliche Arten gibt, seine Zeit außerhalb der Arbeit zu nutzen. Dabei hängt der daraus entstandene Nutzen auch vom jeweiligen Individuum ab. Wie diese Zeit genutzt wird, bestimmt letztendlich auch die Wirkung auf uns. Regeneration wird besonders in der heutigen Zeit der Reizüberflutung völlig vernachlässigt, da wir unser Gehirn immer mit neuen Informationen reizen. Die persönliche Sicht auf tote Zeit spielt eine entscheidende Rolle: Wenn wir tote Zeit als uns geschenkte Zeit zur alltäglichen Regeneration sehen und Langeweile zulassen, können wir unsere Kreativität und Produktivität voll ausschöpfen.
Wie sieht Nichtstun aus? Seht euch die Performance von Marina Abramović an:
Mehr zum Thema und weitere spannende Beiträge gibt es auf unserem Blog Under Construction. Außerdem halten wir unsere Leserinnen und Leser auf Facebook und Instagram auf dem Laufenden.
Aber was wenn Regeneration nichts mehr hilft? Das erfahrt ihr hier.
Mehr Freizeit statt „Nine-to-Five“?
Quite a thought-provoking piece! I think as a society, we put so much emphasis on work and productivity, that we lose track of the importance of rest and relaxation for our mental health (and also ultimately for maintaining work productivity). I also found the idea of boredom as a beneficial condition to be quite intriguing. Perhaps you might be interested in this piece by the BBC, which suggests that boredom can stimulate creative output, even as it does have some health risks: http://www.bbc.com/future/story/20141218-why-boredom-is-good-for-you